Geschlechterbewusste Wirtschaftsethik

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Jenseits des Marktes: Wirtschaftliches Handeln wird nicht nur vom Markt koordiniert, sondern auch in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft

In die ökonomische Wissenschaft findet die Geschlechterthematik erst spät und immer noch zögerlich Eingang. Die längst fällige Auseinandersetzung wird vor allem dadurch erschwert, dass diejenige ökonomische Theorie, die auch heute noch den wissenschaftlichen Diskurs dominiert, an der vermeintlichen Wertfreiheit festhält, sich weitgehend auf die Analyse von Marktprozessen beschränkt und die wirtschaftenden Menschen als geschlechtsneutrale Wirtschaftssubjekte konzipiert (Maier 2006: 137f.). Eine zeitgemäße geschlechterbewusste Wirtschaftstheorie wird diese Annahmen kritisch hinterfragen und sie, wo sie zu kurz greifen, hinter sich lassen. Meinen eigenen Ansatz einer geschlechterbewussten Wirtschaftsethik skizziere ich im Folgenden zum einen anhand der Auseinandersetzung mit den genannten Prämissen der Standardökonomie und zum anderen anhand der geschlechterbewussten Erweiterung des Ansatzes integrativer Wirtschaftsethik.
 

Jenseits der Prämissen der Standardökonomie

Jenseits der Wertfreiheit: Die Abwehrhaltung gegenüber allem Normativen macht die ökonomische Theorie blind für die Tatsache, dass Wirtschaften selbst immer schon werthaltig ist und notwendigerweise werthaltig sein muss. Dem Glauben an den wertneutral funktionierenden Marktmechanismus, der automatisch das Wohl aller Menschen fördert, hängen bis heute die meisten Ökonomen und auch einige der wenigen Ökonominnen an den Hochschulen an, so dass gegenteilige Ansichten leicht zum Ausschluss aus der Wissenschaftsgemeinschaft führen können und immer noch führen. Aber Wirtschaften hat schon vom Wortsinn her mit dem Schaffen von Werten zu tun und so steht jede kritische Wirtschaftstheorie vor der Frage, welche Werte denn da für wen geschaffen werden (Ulrich 2005: 17).

Jenseits des Marktes: In der ökonomischen Standardtheorie werden in erster Linie Marktprozesse analysiert. Wirtschaftliches Handeln wird aber nicht nur über den Markt koordiniert, sondern auch in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Es besteht ein Angebots-Mix aus Leistungen des Staates, der Profit- und Non-Profit-Sektoren sowie der Haushalte und des ganzen informellen Bereichs. Wie Zeitbudgeterhebungen deutlich gemacht haben, ist die in einer Volkswirtschaft geleistete unbezahlte Arbeit selbst in modernen Gesellschaften umfangreicher als das gesamte Volumen der bezahlten Arbeit (z.B. UNDP 1995; Schäfer 2004). Da zudem sowohl die bezahlte als auch die unbezahlte Arbeit geschlechtsspezifisch verteilt sind, ist eine geschlechterbewusste Analyse der Wirtschaftsprozesse daher nur möglich, wenn der unbezahlte Bereich des Wirtschaftens systematisch in die Untersuchung einbezogen wird (Jochimsen & Knobloch 1997, 2006).

Jenseits der Geschlechtsneutralität: Das Handeln des Wirtschaftssubjektes wird auch heute noch vielfach als rationales Verhalten eines Homo Oeconomicus konzipiert, der seinen eigenen Nutzen bzw. Gewinn maximiert. Oberflächlich betrachtet, sieht es dadurch so aus, als kämen Frauen und Männer in der ökonomischen Theorie nicht vor. Schauen wir dann aber genauer hin, so wird deutlich, dass diese wirtschaftstheoretischen Analysen auf einem nicht geschlechtsneutralen Subtext basieren. Diesen unterlegten Text gilt es zu erkennen und aus einer geschlechterbewussten Perspektive zu lesen. Denn implizit hat das geschlechtslos konzipierte Konstrukt des Homo Oeconomicus ein Geschlecht, da seine Lebensumstände viel eher denen des Mannes bzw. einer bestimmten Form von Männlichkeit als denen einer Frau entsprechen.

Um also nicht die relevanten Fragestellungen aus den Augen zu verlieren, muss eine geschlechterbewusste ökonomische Wissenschaft von Frauen und Männern als wirtschaftlich handelnden Personen in ihren je spezifischen Lebenszusammenhängen ausgehen, deren Handeln in den verschiedenen Bereichen von unterschiedlichen Motivationen geprägt ist.

Wirtschaftsethik als wertebewusste Wirtschaftstheorie

Eine zeitgemäße Wirtschaftstheorie kommt nicht darum herum, die eigenen normativen Voraussetzungen sowie die ihr zugrunde liegenden Werte kritisch zu reflektieren und die ökonomische Rationalität selbst schon als werthaltig zu erkennen. Ein Ansatz, der sich das zum Ziel gesetzt hat, ist die integrative Wirtschaftsethik, die Peter Ulrich seit Ende der 1980er Jahre entwickelt hat. Die vorrangige Aufgabe der integrativen Wirtschaftsethik ist es, die häufig impliziten Werte des Wirtschaftens explizit zu machen und damit Werterhellung zu betreiben (Ulrich 2005: 33ff.; siehe auch Brodbeck 2002). Damit überwindet die integrative Wirtschaftsethik den vermeintlichen Graben zwischen Ethik und Ökonomie, wobei sie sich auf moderne Ethikansätze stützt, die nicht mehr, aber auch nicht weniger als universale, für alle Menschen gültige Grundsätze formulieren.

Die integrative Wirtschaftsethik macht deutlich, dass die Wirtschaft keine eigenständigen Ziele verfolgt, sondern eine dienende Aufgabe hat. Der Sozialethiker Arthur Rich hat den Gedanken von der Lebensdienlichkeit als dem elementaren Sinn des Wirtschaftens geprägt. Er folgert daraus, dass sich die Wirtschaft primär nach den Bedürfnissen der Menschen zu richten hat und nicht der Mensch nach den Bedürfnissen der Wirtschaft (Rich 1990: 22f.). Peter Ulrich hat diesen Gedanken in seinen wirtschaftsethischen Ansatz übernommen und weiterentwickelt, indem er zeigt, dass sich zwar auch wirtschaftsethisches Handeln am Kriterium der Effizienz orientiert, aber nur auf untergeordneter Ebene. Übergeordnet sind zwei weitere Dimensionen: die Sinndimension und die Gerechtigkeitsdimension (Ulrich 2005: 27ff.).

Effizienz bedeutet, dass ein bestimmtes Ergebnis mit möglichst geringem Mitteleinsatz erreicht werden soll oder anders herum formuliert dass mit einem gegebenen Mitteleinsatz ein möglichst gutes Ergebnis angestrebt wird. Knappe Ressourcen bestmöglich einzusetzen, ist innerhalb eines bestimmten Rahmens vernünftig, aber Effizienz reicht nicht aus, um dem Wirtschaften Orientierung zu geben und Legitimation zu verleihen.

Die eine Dimension, die über das Effizienzkriterium hinausgeht, ist die Sinnfrage des Wirtschaftens als Frage nach dem guten Leben: Welches sind die grundlegenden Ziele des Wirtschaftens? Worum geht es beim Wirtschaften ganz grundsätzlich? Welche Werte erwirtschaften wir? Wirtschaften ist nur ein Mittel zum Erreichen eines übergeordneten Zwecks, so dass die Sinnfrage über die ökonomische Wissenschaft hinausweist. In der Standardökonomie wird meist ziemlich unreflektiert unterstellt, dass sich im Marktprozess mehr oder weniger automatisch die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte erfüllen. Allerdings sind Präferenzen, die über den Markt geäußert werden, kein geeignetes Kriterium, um darüber Auskunft zu geben, ob auch wirklich die Bedürfnisse der Menschen erfüllt sind und ob Männer, Frauen und Kinder mit dem zum Leben und zum guten Leben Notwendigen versorgt werden. Was das gute Leben ist, hat die Philosophie seit Jahrtausenden beschäftigt. Auch wenn diese Frage wohl nie abschließend beantwortet werden kann, muss sie trotzdem immer wieder neu gestellt und zu beantworten versucht werden. Martha Nussbaum und Amartya Sen haben mit den grundlegenden menschlichen Fähigkeiten ein viel beachtetes Kriterium entfaltet, das nicht nur die vielfältigen Probleme des Präferenzkriteriums überwindet, sondern auch für die Begründung sozialökonomischer Grundrechte herangezogen werden kann (Nussbaum 2003; Sen 2002).

Die andere Dimension ist die Legitimationsfrage des Wirtschaftens als Frage nach dem gerechten Zusammenleben: Ist unser Wirtschaften gegenüber allen vertretbar? Welche verbindlichen Grundsätze müssen im Wirtschaftsleben gelten, um das gerechte Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten? Für wen werden Werte erwirtschaftet? Das Tun der Einzelnen wird hier mit den moralischen Rechten aller verbunden. Ethisch legitimiert ist ein Handeln dann, wenn es nach Maßgabe guter Gründe, die unparteilich gegenüber allen Menschen vertretbar sind, moralisch berechtigt ist (Ulrich 2005: 28f.). Dies sind vor allem so grundlegende Dinge, wie die Menschenwürde, also die Achtung vor jedem Menschen, und die Menschenrechte, also die angeborenen, unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen. Zu diesen grundlegenden Rechten und Freiheiten gehören neben den Persönlichkeitsrechten und politischen Teilnahmerechte auch die sozialökonomischen Teilhaberechte, z.B. das Recht auf Nahrung und Trinkwasser, auf Arbeit und Einkommen, denen durch die enorme wirtschaftliche Globalisierung heute eine besondere Bedeutung zukommt.

Weiterentwicklung zur geschlechterbewussten Wirtschaftsethik

Mit meinem Entwurf zu einer geschlechterbewussten Wirtschaftsethik gehe ich von der integrativen Wirtschaftsethik aus und erweitere diesen Ansatz systematisch um die Geschlechterperspektive. Dabei nutze die Methode der Werterhellung, mit der auch die integrative Wirtschaftsethik arbeitet, um die versteckten geschlechtsspezifischen Werthaltungen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu beleuchten, also die unhinterfragte Zweigeschlechtlichkeit ebenso wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die geschlechterbewusste Wirtschaftsethik wendet sich damit gegen zwei Dinge zugleich: Sie hängt nicht mehr dem Irrglauben an, Ökonomie und Ethik wären zwei getrennte Welten und Ökonomie könne wertfrei betrieben werden. Darüber hinaus gibt sie aber auch die verbreitete und nur vermeintliche Geschlechtslosigkeit von Wirtschaftstheorie und -ethik auf. Zentral für eine geschlechterbewusste Wirtschaftsethik ist demnach die Erkenntnis, dass Wirtschaften weder wertfrei noch geschlechtsneutral sein kann (Knobloch 2008, 2009).

Die grundlegende Aufgabe einer geschlechterbewussten Wirtschaftsethik sehe ich darin, den androzentrischen, auf die Erwerbswirtschaft fokussierten Blick der ökonomischen Wissenschaft zu überwinden und herauszuarbeiten, wo selbst moderne Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme noch auf der Ungleichheit der Geschlechter basieren. Damit sind folgende weitere Aufgaben verbunden:

  • die Geschlechterordnung sichtbar machen, die dem Wirtschaftssystem zugrunde liegt, insbesondere die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen und -sektoren,
  • die ökonomischen Grundbegriffe hinterfragen und wo nötig neu fassen, so dass auch die ökonomisch relevanten Lebenszusammenhänge von Frauen einbezogen werden,
  • der Frage, inwiefern auch eine moderne Marktwirtschaft auf unbezahlte Arbeit angewiesen ist, nachgehen; dabei zum einen das Ausmaß der unbezahlten Arbeit und zum anderen Verlagerungsprozesse aus dem und in den unbezahlten Bereich sichtbar machen,
  • die ökonomische Bedeutung asymmetrischer Beziehungen jenseits von symmetrischen Tauschverhältnissen herausarbeiten (siehe dazu den Beitrag von Maren Jochimsen).

Eine ökonomische Theorie, die sich der Geschlechterfrage stellt, muss demnach von Männern und Frauen anstatt von geschlechtsneutralen Wirtschaftssubjekten ausgehen, explizit auch die ökonomisch relevanten Lebenszusammenhänge von Frauen zusätzlich zu denen von Männern einbeziehen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zugrunde liegt, beleuchten und die Bedeutung so grundlegender Begriffe wie Wirtschaft und Ökonomie, Arbeit und Produktion überdenken. Dadurch rückt der gesamte Bereich der unbezahlten Arbeit in den Vordergrund, ohne den kein Wirtschaftssystem existieren kann. Mithilfe einer solchen, hier nur grob skizzierten geschlechterbewussten Wirtschaftstheorie und -ethik ließen sich dann auch Ansatzpunkte einer geschlechtergerechten Wirtschaftspolitik formulieren.
 


Literatur

 

 

Brodbeck, Karl-Heinz (2002): Beiträge zu Wirtschaft und Ethik, 3. Aufl., Gröbenzell.

Jochimsen, Maren A. & Knobloch, Ulrike (1997): Making the Hidden Visible: The Importance of Caring Activities and their Principles for any Economy, in: Ecological Economics, Special Issue: Women, Ecology and Economics, Vol. 20/2, S. 107-112.

Jochimsen, Maren A. & Knobloch, Ulrike (Hg.) (2006): Lebensweltökonomie in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung, Bielefeld: Kleine Verlag.

Knobloch, Ulrike (2009): Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik, Heft 30: Care Ökonomie: Neue Landschaften von feministischen Analysen und Debatten, S. 27-36.

Knobloch, Ulrike (2008): Ansatzpunkte einer Sorgeökonomie: Genderbewusste Wirtschaftsethik – Lebensweltökonomie – Vorsorgendes Wirtschaften, in: Dellheim, Judith & Krause, Günther (Hg.): Für eine neue Alternative. Herausforderungen einer sozialökologischen Transformation, Berlin: Karl Dietz Verlag, S. 162-176.

Maier, Friederike (2006): Wirtschaftswissenschaft, in: Braun, Christina von & Stephan, Inge (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung, 2. Aufl., Stuttgart-Weimar: Verlag Metzler, S. 136-148.

Nussbaum, Martha (2003): Frauen und Arbeit – Der Fähigkeitenansatz, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 4 (1), 2003, S. 8-37.

Rich, Arthur (1990): Wirtschaftsethik II: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn.

Schäfer, Dieter (2004): Unbezahlte Arbeit und Haushaltsproduktion im Zeitvergleich, in: Statistisches Bundesamt – Forum der Bundesstatistik (Hg.), Alltag in Deutschland. Analysen zur Zeitverwendung, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, S. 247-273.

Sen, Amartya (2002): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

UNDP – United Nations Development Programme (1995): Bericht über die menschliche Entwicklung 1995, Bonn: Uno-Verlag 1995.

Ulrich, Peter (2005): Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Freiburg-Basel-Wien: Herder