Höhlt die Arbeit zu Maskulinitäten feministische Ansätze aus?

Die kurze Antwort auf die Frage, ob Forschungsarbeiten zu Maskulinitäten die feministische Agenda untergraben, lautet folgendermaßen: möglicherweise.

Sucht man eine ausführlichere Antwort, sollte man kurz darüber nachdenken, was unter einer „feministischen Agenda” verstanden wird.

Auf intuitiver Ebene besitzen wir einen gemeinsamen Wissensschatz über deren Bedeutung und die Möglichkeiten, diese umzusetzen. Des Weiteren steht uns eine ausdifferenzierte Sprache zur Verfügung, mit Hilfe derer wir unsere Überzeugungen, Zielsetzungen und Hoffnungen im Hinblick auf das Erreichen dieser Agenda äußern können.

Dies ist allerdings ein in vielerlei Hinsicht komplexes Unterfangen. Wie können wir den derzeitigen Stand der Geschlechterbeziehungen beleuchten, wenn diese in verschiedensten Kontexten und auf unterschiedlichste Weise zum Tragen kommen? Was bedeutet dies für „die Agenda”? Und wie gestaltet sich gegenwärtig der Dialog zwischen „FeminismusforscherInnen“ und „MännlichkeitsforscherInnen“?  Wie ausgeprägt ist dieser und gibt es noch Möglichkeiten zur Verbesserung? Welches ist der beste Weg zur Beförderung des Dialogs zwischen den Lagern, die sich traditionell eher argwöhnisch gegenüberstanden? Lohnt sich ein solcher Versuch überhaupt?

Vielleicht sollte man die noch wichtigere Frage stellen, inwiefern ein Konsens darüber besteht, was eine feministische Agenda ausmacht? Geht es darum, eine „kritische Masse” zu erreichen, wie dies in den Mainstreaming-Strategien zum Ausdruck kommt? Bleibt man beim Thema bezahlte Arbeit? Geht es um gleiche Bezahlung für Frauen und Männer? Oder kämpft man für ausreichende, staatlich geförderte Kinderbetreuungsmaßnahmen, um die aus Karrierewünschen und Kinderversorgung entstehende Doppelbelastung, für die viele Frauen einen Kompromiss finden müssen, zu entschärfen? Oder geht es vielmehr darum, wie in der UN-Resolution 1325 vermerkt, „stärker vertreten“ zu sein, „in vollem Umfang teilhaben“ zu können, „volle Mitwirkung“ zu erzielen und die „Geschlechterperspektive“ zu integrieren? Wie können diese Dinge überwacht werden? Liegt das Hauptaugenmerk dabei auf der Quantität oder der Qualität der Ergebnisse? Bei welchen Bewertungsmethoden ist die Wahrscheinlichkeit einer Konsensbildung am höchsten?  

Bezieht man sich auf die dunklere Seite der Problematik, wie lässt sich die routinemäßige Ausübung von geschlechterbasierter Gewalt in Konfliktsituationen u. Ä., bei denen das Ausmaß an Brutalität weit über das Vorstellungsvermögen hinausgeht, am besten erklären? Inwiefern könnten solche Analysen möglicherweise hinderlich dafür sein, an die feministische Agenda unvoreingenommen heranzugehen, was potenziell wertvoll sein könnte?

Man könnte sich auch die (möglicherweise) problematische Frage stellen, welches eine angemessene Reaktion auf Arbeiten wäre, deren Hauptaugenmerk auf männlichen Opfern liegt, die insbesondere im Ersten Weltkrieg millionenfach abgeschlachtet wurden? Blickt man in die jüngste Vergangenheit, so betrug bei den Anschlägen vom 11. September das Verhältnis männlicher Opfer zu weiblichen Opfern 3:1. Wie relevant ist diese Beobachtung für die feministische Agenda? Wie beeinflusst die Geschlechterpolitik Debatten, bei denen anlässlich konkreter Fälle über männliche Opfer und weibliche Gewalttäter gesprochen wird, und was bedeuten solche Debatten für die feministische Diskussion? Wie hilfreich ist das Gender-Konzept überhaupt, wenn gesellschaftliche und insbesondere gewaltbezogene Probleme in all ihrer Vielschichtigkeit analysiert werden sollen? Inwiefern fließen Aspekte wie Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, soziale Stellung oder Alter in die Überlegungen ein?

Was verstehen wir unter Maskulinität und Femininität? Stehen diese Begriffe als Kurzformen für die Mächtigen auf der einen und die Machtlosen auf der anderen Seite? Weshalb betrachten viele das Wort „Gender” nach wie vor als Synonym für „Frau“? Wie wirkt sich diese Tendenz auf die Nichtantastung schädigender gesellschaftlicher Praktiken einiger Männer gegenüber Frauen, und in weniger Fällen auch umgekehrt, aus? Was kann man aus Kontexten lernen, in denen die Geschlechterbeziehungen bereits gerechter gestaltet sind?
Ich stelle diese provokanten Fragen, um zu verdeutlichen, dass die Gender-Thematik in ihrer weitesten Auslegung nach wie vor weitaus mehr Fragen aufwirft als Antworten mit sich bringt. Von ihrer Komplexität fühlt man sich geradezu mitgerissen, als befände man sich fernab von der handfesten Lebenswirklichkeit unseres Alltags, der dann abstrakt und abgehoben erscheint, da Konzepte und Theorien mitunter im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Tatsächlich schaffen unsere weiblichen, männlichen oder Transgender-Identitäten besondere Bedingungen und Möglichkeiten. Sie beeinflussen unsere Interaktion mit unterschiedlich gelagerten Chancen und wirken dabei sowohl befreiend als auch einengend. Unsere Verortung in Geschlechterkategorien wirkt sich auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene aus und kann oder sollte daher nicht missachtet werden, da nach wie vor tief greifende Ungleichheiten bestehen.   
Diese einleitenden Gedanken führen mich zurück zur (1) Frage, ob die Arbeit zu Maskulinitäten die feministischen Ansätze aushöhlt und (2), wie wir in Anbetracht meiner Ausführungen eine klarere Linie beim Aushandeln der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis finden können, wobei Erstere einen Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung Letzterer leisten sollte.

Dazu möchte ich noch einige Anmerkungen machen.

Erstens gibt es gute und schlechte Forschungsarbeiten zum Thema Maskulinität. Interessanterweise forschen häufig Männer über Männer und stellen dabei einmal mehr die Frage nach der Sichtbarkeit von Frauen sowie nach dem Zusammenhang zwischen Macht und Privilegien. Forschungsarbeiten von Männern über Männer müssen jedoch nicht als Bedrohung für die feministische Agenda angesehen werden. Daher sind die Forscher auch so sehr darauf bedacht, ihre Arbeiten als kritische Männerstudien zu bezeichnen, was einen Fortschritt gegenüber der traditionelleren Männerforschung darstellt - war diese doch zu sehr auf Männer als Opfer fokussiert, ohne den übergreifenden Machtkontext der Debatten in den Blick zu nehmen.

Meiner Behauptung nach zeichnet sich gute Forschung zu Maskulinitäten durch die Berücksichtigung folgender Aspekte aus:

  1. Geschlechterbeziehungen,
  2. Macht,
  3. eine ausdrücklich normative Auseinandersetzung mit Veränderungen,
  4. Beachtung der Überlappung von Maskulinität mit anderen Identitäten,
  5. Wahrnehmung allgemeiner, durch patriarchalische Strukturen verursachter geschlechterbezogener Ungleichheiten, wobei Mut zum Aufzeigen komplexer Zusammenhänge in diesem Modell aufgebracht werden sollte,
  6. Vorweisung solider Kenntnisse über die feministischen Grundsätze und Auseinandersetzung damit,
  7. nach Möglichkeit eine aktive Suche nach Kooperation über ideologische und geschlechterbezogene Gräben hinweg mit humanistischen Zielsetzungen als Dreh- und Angelpunkt für alle Beteiligten. Schließlich wäre es in einer solch männerdominierten Umgebung zuträglich, wenn weitaus mehr Wissenschaftlerinnen die Herausforderung einer Männer- und Maskulinitätenforschung annehmen würden. Auf der anderen Seite können selbst die besten männlichen Forscher auf dem Gebiet der kritischen Männerstudien noch viel mehr von der gehaltvollen feministischen Literatur lernen.

Der so genannte „Kampf der Geschlechter” ist weit mehr als ein Nullsummenspiel, bei dem das Aufgeben gewisser gesellschaftlicher Praktiken einfach nur gleichbedeutend mit einem Verlust für die beteiligten Männer wäre. Wie von Vic Seidler und anderen bemerkt, gelten der Druck im Zusammenhang mit langen Arbeitszeiten sowie der permanente Wettbewerb in vielen Bereichen - vom Arbeitsplatz bis zur Kneipe - zwar als zentrale Elemente der männlichen Ideologie, sie können dennoch schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit, die Psyche und auf andere, darunter Kinder und Frauen und die uns am nächsten stehenden Personen, haben.
Zusammenfassend lässt sich in Übereinstimmung mit den seit mindestens dreißig Jahren herrschenden Ansichten von Feminismus- und MaskulinitätsforscherInnen festhalten, dass eine konsensbasierte, sensible und bescheidende Maskulinitätsforschung die feministischen Ansätze bereichern und stärken kann. Auf einen echten Wandel lässt sich dann hoffen, wenn alle an einem Strang ziehen. Dazu wird es mitunter erforderlich sein, dass die Beteiligten auf beiden Seiten Offenheit an den Tag legen sowie hartnäckige und für ein gemeinschaftliches Handeln hinderliche Voreingenommenheiten ad acta legen.