Auf einem Auge blind? 10 Jahre Internationaler Strafgerichtshof

Auf einem Auge blind? Monika Hauser resümiert 10 Jahre Internationaler Strafgerichtshof

Es gilt das gesprochene Wort.

medica mondiale versteht sich als Anwältin für Frauen, die von sexualisierter Kriegsgewalt betroffenen sind. Wir haben durch beinahe 20 Jahre interdisziplinäre Arbeit direkte Erfahrungen in verschiedenen Krisenländern gewonnen und dadurch einen einzigartigen Einblick in die verschiedenen Lebenssituationen und Perspektiven von betroffenen Frauen vor Ort. Die Erfahrung von Gerechtigkeit, wie minimal sie auch sein mag, ist für Überlebende essentiell für die Bewältigung sexualisierter Gewalterlebnisse und die daraus resultierenden Traumata, sowie eine Voraussetzung für gesellschaftliche Versöhnungsprozesse. Das Ausbleiben jeglicher Gerechtigkeitserfahrungen nährt individuelle und kollektive Ressentiments, die an die nächsten Generationen weitergegeben werden und neue Gewalt produzieren.

Trotz wichtiger ratifizierter UN-Resolutionen der letzten Jahre geht die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kriegs-, Konflikt- und Nachkriegsgebieten in hohem Ausmaß weiter. Trotz internationaler Strafgerichtshöfe und nationaler Justizreformen ist Straflosigkeit in vielen Ländern auch weiterhin eher die Regel als die Ausnahme. Gerade weil das so ist, hat der Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag die Verantwortung, endlich Standards z.B. bei Strategien der Strafverfolgung als auch im Umgang mit Opfer-Zeuginnen zu erarbeiten, die den Realitäten der Frauen gerecht werden! Die Politik der Internationalen Staatengemeinschaft muss hier endlich das Ihre tun, um präventiv tätig zu werden – beispielsweise muss sie endlich ihren politischen Verpflichtungen nachkommen, die sie mit ihrer Ratifizierung der UN-Resolution 1325  zur Stärkung und zum Schutze von Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten gegeben haben. Das betrifft auch die Bundesregierung, die sich seit Jahren weigert, einen nationalen Aktionsplan zur Resolution 1325 zu erstellen. Ein Aktionsplan, der auch z.B. bei Kriegs-verbrecher-Prozessen in Deutschland den Schutz von Opfer-Zeuginnen berücksichtigen müsste.

Schauen wir uns die Strafverfolgungs-Strategien an: Weder waren bei den beiden Internationalen Adhoc-Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) noch sind aktuell beim ICC konsistente Ermittlungs- und Anklagestrategien erkennbar, die die Dynamik sexualisierter Gewalt in den unterschiedlichen Kriegs-Kontexten erfassen, die Verantwortlichen bestimmen und diese dafür zur Verantwortung ziehen! Nach wie vor erscheint eher zufällig, wer angeklagt wird und wofür. Die Entscheidung darüber fällen vor allem Einzelpersonen. Tatsache ist, dass beispielsweise Carla del Ponte als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien aktiv Anklagen verhindert oder auf Vergewaltigungs-Anklagen verzichtet hat, weil sie Verfahren beschleunigen wollte. Beispielsweise im Prozess gegen den serbischen Kriegsverbrecher Milan Lukic. Ich sehe die damals 17-jährige Amina vor mir, die mir im Sommer 1993 davon berichtete, wie sie mit ansehen musste, wie die Leiche ihres Vater in die Drina geworfen wurde, und wie sie selbst genau von jenem Lukic vergewaltigt wurde, den Frau del Ponte dafür nicht zur Rechenschaft ziehen wollte. Was sage ich Amina, wenn sie mich fragt, welche Gerechtigkeit diese Welt ihr zu bieten hat?

Und warum gab es eigentlich bisher nur einen einzigen Prozess, der sich ausschließlich mit Kriegsvergewaltigungen beschäftigte, den Foca-Prozess?

Ich frage mich, wie ernst die Strafverfolgung sexualisierte Gewalt wirklich nimmt und ob es überhaupt genügend Wissen an den Gerichtshöfen zur Komplexität und Dynamik von sexualisierter Gewalt im Krieg gibt. Wie kann es sonst sein, dass der kongolesische Rebellenführer Thomas Lubanga als erster Verurteilter des Internationalen Strafgerichtshofs lediglich für die Rekrutierung von Kindersoldaten zur Rechenschaft gezogen wurde? Von den Realitäten unzähliger Mädchen und zahlreicher Jungen, die als KindersoldatInnen auch sexuell versklavt wurden, war keine Rede. Und das, obwohl mittlerweile  allgemein bekannt ist, dass die Möglichkeit der sexuellen Ausbeutung für viele gewaltbereite Männer ein entscheidender Faktor ist, sich überhaupt Rebellengruppen anzuschließen, und dass gerade diese sexuelle Ausbeutung ein wichtiges Element für den Zusammenhalt vieler Milizen ist. Es ist vollkommen unverständlich, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo dieses Verbrechen nicht nur unbeachtet lassen und nicht anklagen wollte, sondern sogar den Antrag einer Opfer-Rechtsvertretung ablehnte, das Gericht möge doch die bestehende Anklage dahingehend rechtlich neu bewerten, um sexuelle Gewalt aufzunehmen.

Unser Fazit kann hier nur eindeutig lauten: Definitiv auf einem Auge blind! Unsere seit vielen Jahren gestellte Forderung, in der Anklagebehörde endlich eine dauerhafte, hohe Stelle für eine Gender-Beauftragte einzurichten, die sich speziell um Ermittlungs- und Anklagestrategien kümmert und mit entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet ist, ihre Erkenntnisse als Direktiven weiterzugeben – diese Forderung bleibt aktueller denn je. Oft liegt es, wie die Geschichte des ICTY zeigt, an einzelnen -  meist - Frauen, ob sexualisierte Gewalt angeklagt wird oder nicht. Wichtige Anklagen und  Urteile haben wir gerade in den ersten Jahren des ICTY wenigen Frauen wie der Gender legal officer Patricia Sellers, Richterinnen wie Gabrielle Mac Donald, Elizabeth Odio Benito oder Florence Mumba sowie der Anklägerin Hildegard Uertz-Retzlaff zu verdanken! Ohne sie sähe die bisherige Bilanz nicht halb so gut aus. Laut Bericht an die UN kam es bis Ende 2009 in 24 von 75 abgeschlossenen Fällen zu Verurteilungen wegen sexualisierter Gewalt bzw. wurden die Aussagen hierzu anerkannt. Unsere eigenen Studien zeigen aber auch folgendes: Nur ca. 34 % der Fälle enthalten überhaupt Anklagen wegen sexualisierter Gewalt und die Freisprüche dafür liegen 10 % über denen anderer Anklagen.

Auch ist das Vorgehen der Anklagebehörde des ICTY fraglich: Zahlreiche Vergewaltigungsfälle wurden unter „Verfolgung“ subsumiert und eben nicht eigenständig angeklagt. Bei Anklagen gegen sieben führende serbische Politiker und Militärs (Milutinovic, Dordevic) im Rahmen von Verbrechen im Kosovo hat dies dazu geführt, dass sechs von ihnen zumindest in erster Instanz freigesprochen wurden. Obwohl mehrere Zeuginnen ihre Vergewaltigung vor Gericht bestätigten, manche sogar mehrfach und auch obwohl das Gericht ihnen glaubte. Allein der fehlende Beweis, dass die Vergewaltigungen Teil einer ethnisch oder religiös motivierten Verfolgung gewesen seien, entschied hier das Urteil! Frauen, die ihr schmerzhaftes Inneres nach außen stülpten, um mutig in Den Haag auszusagen, Frauen, die in ihren Dörfern aufgrund der erlittenen Vergewaltigungen stigmatisiert, beschimpft, bedroht und ausgegrenzt wurden – wie verhöhnt müssen sich diese Frauen durch die internationale Justiz und ihre eigene Gesellschaft vorkommen?

Beim ICC wurde „gender“ nun als eigener Verfolgungsgrund im Statut ermöglicht – Luis Morena Ocampo hat sich bislang nicht getraut (oder hatte kein Interesse daran), darauf eine Anklage aufzubauen. Es bleibt abzuwarten, ob die neue Chefanklägerin Fatou Bensouda mutiger vorangeht – einiges in ihrer Haltung spricht schon jetzt dafür!

Präventionsbewusstsein und Aufklärung sind von entscheidender Bedeutung, wenn sexualisierte Gewalt langfristig verhindert werden soll. Da Kriegsvergewaltigungen in nahezu jeder kriegerischen Auseinandersetzung geschehen, sind eindeutige Strafgesetze gerade in diesem Kontext enorm wichtig: Offiziere, Staatsbeamte und andere Vorgesetzte müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, die hohe Wahrscheinlichkeit von sexualisierter Gewalt zu erkennen  und proaktiv Präventivmaßnahmen gegen Vergewaltigungen zu ergreifen! Dies gilt natürlich auch für alle anderen Gewalttaten, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Es muss verhindert werden, dass Vorgesetzte, die die faktische Macht besitzen, Gräueltaten ein Ende zu setzen, sich damit herausreden können, nichts von allem gewusst (oder gewollt) zu haben.

Der letzte Pentagon-Bericht zum Anti-Vergewaltigungs-Programm der US-Armee zeigt deutlich, weshalb konsequente Ahndung und Gesetzesvorgaben unerlässlich sind: Das sieben Jahre dauernde Programm konnte bislang nicht verhindern, dass sexualisierte Gewalt in der US-Armee sogar noch zunimmt. Der Grund: Den einzelnen Kommandanten bleibt es selbst überlassen, ob sie im Falle einer Beschwerde ein Strafverfahren einleiten oder nicht. Viele entscheiden sich,  den Täter nur zu versetzen, oder sogar die Beschwerde führende Person!

Zu Vorgesetzten-Verantwortlichkeit gab der Bundesgerichtshof im Juni 2010 folgende Richtung vor: Seinen Beschluss zur Verlängerung der Untersuchungshaft für die beiden ruandischen Rebellenführer Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni begründete er unter anderem damit, dass beiden als Vorgesetzten bewaffneter Gruppierungen eine „besondere Verantwortung“ zukomme. Allein aufgrund von Bewaffnung seien Einheiten wie die FDLR „eine große Gefahr […] für besonders hochwertige Rechtsgüter bis hin zu Leib und Leben der potentiellen Opfer“. Die Befehlshaber seien dafür verantwortlich, diese latente Gefahr „durch geeignete Maßnahmen frühzeitig unter Kontrolle“ zu halten und nicht erst einzugreifen, wenn die Straftaten in konkretisierter Form bekannt werden. (S. 21, §44)

20 Jahre Forschung und umfassende Dokumentationen über fast alle Kriege in Vergangenheit und Gegenwart haben hinreichende Erkenntnisse dazu geliefert, dass in fast allen Kriegen, in denen bewaffnete Einheiten auf Zivilbevölkerung treffen, sexualisierte Gewalt weit verbreitet ist. Somit ist sie vorhersehbar oder muss zumindest als hohe Wahrscheinlichkeit gelten! Auch die UN-Resolution 1820/1960 betont  die kriegsverlängernde und konfliktverstärkende Rolle von sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten und gleichzeitig die Notwendigkeit ihrer Analyse und Dokumentation. Die Umsetzung dieser Resolutionen  - wozu auch die entsprechende Qualifizierung des juristischen und politischen Personals gehört - kann dazu beitragen, dass das Wissen über die Wahrscheinlichkeit sexualisierter Gewalt in Kriegen tatsächlich zum Standardwissen wird, eben damit sich niemand herausreden kann. Doch gerade die Bundesregierung legt hier besonders wenig Eifer an den Tag.

In fast 20 Jahren, die seit der Gründung der beiden Ad-Hoc-Tribunale ICTY und ICTR vergangen sind, und zehn Jahren seit Bestehen des Internationalen Gerichtshofs ICC, gibt es kaum geschlechtsspezifische Untersuchungen zu den bisherigen Kriegsverbrecher-Prozessen in Vergangenheit und Gegenwart . Bis heute fehlen Standards für den Umgang und die Beteiligung von Zeuginnen bei den Prozessen, die vor allem auch verbindlich für die Strafverfolgung vor nationalen Gerichten sind. Unsere Studie von 2010 über Opfer- Zeuginnen des Bosnien-Krieges zeigt unter anderem, dass gerade die regionalen Gerichte in Bosnien Zeugen und Zeuginnen völlig unzureichenden Schutz bieten, geschweige denn irgendwelche Beteiligungsmöglichkeiten. Das Wohlergehen der Zeuginnen muss zentrale Aufgabe sein, und nicht notwendiges Übel. Auch müssen viel mehr Frauen als Zeuginnen gewonnen werden. In unserer Studie stellte sich heraus, dass lediglich 13 % der Zeugen vor dem ICTY und der Kriegsverbrecherkammer in Sarajewo weiblich waren. Die Gerichte sind viel zu rasch bereit, dafür die Frauen selbst – ihr angebliches Schweigen aus Scham – oder ihre Gesellschaft verantwortlich zu machen. Sie sollten sich vielmehr fragen, was sie tun können und müssen, um sich das Vertrauen und die Kooperation von Frauen zu verdienen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist Transparenz, Respekt und ihnen mehr Kontrolle über das Geschehen zu geben und auch die Möglichkeit, ihre Ansichten wirkungsvoll in den Gesamtprozess einzubringen (nun Silke!). Auch ist die Frage nicht geklärt, welche Gerechtigkeits-Vorstellungen Überlebende selber haben und wie diese umgesetzt werden könnten.

In unserer Studie haben wir auch aufgezeigt, wie schwer es vielen MitarbeiterInnen der Gerichte fällt, professionell mit dem Thema sexualisierte Gewalt umzugehen und wie viele geschlechtsstereotype Vorstellungen eine Kommunikation gerade mit diesen Zeuginnen erschweren. Ein traumasensibler Umgang mit Opfer-ZeugInnen ist allerdings unerlässlich, will man Kriegsverbrechen wirklich verantwortlich strafrechtlich verfolgen. Trotz aller Probleme ist die Aussagebereitschaft von Frauen häufig viel größer, als Ankläger vermuten. Es ist meist nicht die Scham, die Frauen daran hindert, auszusagen. Bei der Kriegsverbrecherkammer in Sarajewo haben wir gesehen, dass Frauen durchaus aussagen wollten, auch vor Publikum – dass aber die Richter und Staatsanwälte dies zu verhindern suchten, mit dem Argument der Schamhaftigkeit der bosnischen Frauen. Doch die Frauen wollten, dass die Welt erfährt, was sie erlitten haben. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht eher um die Projektion der Richter ging?

Unsere Rechtsnormen – ob in Deutschland, Bosnien-Herzegowina oder im Rahmen der Vereinten Nationen – reflektieren gesellschaftliche Werte, und sie reproduzieren sie auch. Ebenso das v.a. männliche Personal, welches nicht wert-neutral handelt, sondern seine eigenen Wertvorstellun-gen mitbringt – und Prozessverlauf und Zeuginnenbefragung mit seinen geschlechtsspezifischen Vorurteilen und gesellschaftlichen Vorannahmen über Rasse, Klasse und Geschlecht prägt! Das Fatale allerdings ist, dass diese Vorannahmen oft verborgen bleiben, aber Teil eines „common sense“ sind!

Wenn es der Internationalen Gemeinschaft und dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht nur um den juristischen Selbstzweck geht, sondern laut ihrem eigenen Anspruch auch um Friedensstiftung und Gerechtigkeit für eine Nachkriegs-Gesellschaft – dann muss sie eine Antwort finden, wie sie Gerechtigkeit auch für überlebende Frauen umsetzen will!

Ich danke Ihnen.