Rechte für Menschen, Regeln für Unternehmen

Gisela Burckhardt setzt sich seit Jahren für Frauen ein – insbesondere in der globalen Textilproduktion. Sie greift die Modekonzerne an, wenn deren Lieferanten gegen Arbeits- und Menschenrechte verstoßen und fordert von der Politik gesetzliche Regeln. Auch wirbt sie für einen kritischen Konsum – und ist fest davon überzeugt, dass in den Köpfen der Menschen ankommt: „Faire Mode ist schön“.

Es ist ein unwirtlicher Herbstabend, der Regen prasselt auf das Dach des ausrangierten und graffitibeschmierten Busses, der auf dem Gelände des Bonner Kulturzentrums Kult 41 steht – und in dem zu später Stunde Biertrinken und Abhängen angesagt ist. Heute wollen die Jugendlichen aber vor allem eins: Kleider tauschen. Denn heute steigt im Kult eine „Kleider-Fair-Tausch-Party“. Sie kommen mit vollgestopften Tüten und Taschen, schon nach kurzer Zeit stapeln sich auf dem Empfangstisch am Eingang Hemden, Jacken, Röcke und Taschen. „Die Bluse ist ja voll süß, warum willst Du die denn weggeben?“, fragt ein Mädchen ihre Nachbarin in der Schlange. „Keine Ahnung, steht mir irgendwie nicht mehr“, erwidert die zierliche Jugendliche mit den langen braunen Locken.

Mittendrin im Kleidermeer: Gisela Burckhardt – kurze blonde Haare, zugewandter Blick und Vor-standsvorsitzende von FEMNET. Der gemeinnützige Verein mit Sitz in Bonn macht sich insbesondere für Frauen in der globalen Bekleidungsindustrie stark. FEMNET – der Schriftzug prangt gut lesbar in schwarzen Lettern vor blauem Kreis auf dem fair produzierten T-Shirt, das Burckhardt und alle anderen tragen, die an diesem Abend helfen: Mitglieder von FEMNET und der Greenpeace Jugend. Die Idee hinter der Party ist ein nachhaltiger Umgang mit unseren Kleidern. Durchschnittlich 14 Kilo Kleidung pro Kopf kaufen wir jährlich, das entspricht etwa 23 Jeans oder 140 T-Shirts – das Stück oft günstiger als ein Sack Kartoffeln. Ein systematischer Raubbau an Mensch und Natur.

Wider den Konsumwahn

Denn unsere schnelllebigen Shoppingtrends, all die billigen Blusen, Hosen und Pullover, die sich im Neonlicht der Geschäfte auf Tischen türmen, haben ihren Preis. Hinter dem schönen Style verbirgt sich das hässliche Gewand der Ausbeutung: Für unsere Mode müssen Millionen Textilarbeiterinnen unter oftmals menschenunwürdigen Bedingungen schuften. Tausende haben ihr Leben dabei verloren – etwa bei dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im April 2013 oder dem Brand der pakistanischen Fabrik Ali Enterprises vor drei Jahren. Gut angezogen geht anders.

Mit allen Konsequenzen für ihr persönliches Leben ist Burckhardt FEMNET und ihrer Sache verpflichtet – Frauen zu ihrem Recht auf faire und existenzsichernde Arbeit zu verhelfen. „Wir müssen erkennen, dass hinter den glänzenden Werbeslogans Menschen stehen, die den wahren Preis für das ´immer mehr` und ´immer billiger` unserer Gesellschaft bezahlen“, sagt die Vorstandsvorsitzende. Der Einsturz von Rana Plaza und andere Katastrophen sollen dabei nicht als Nachrichten von gestern verschwinden. Ihr ist wichtig, diese Ereignisse nachhaltig zu verfolgen und Strukturen einzufordern, die zu wirklichen Verbesserungen führen.

Befreiung aus der Opferrolle

Das kapitalistische System mit seinen ungerechten Auswüchsen hinterfragt sie bereits während ihres Studiums der Politikwissenschaften, Geschichte, Französisch und Pädagogik. In ihrer Promotion legt sie den Fokus auf Erwerbsbiographien von Frauen in Ruanda. In den 80er-Jahren folgt sie ihrer Neugier und ihrem Willen, etwas zu bewegen, in die politische Entwicklungsarbeit. Nach einer längeren Station in Nicaragua für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen arbeitet sie zwei Jahre als Projektleiterin für die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Pakistan. Der Aufenthalt markiert eine Wende in ihrem Leben: „Ich kam nicht aus der Bewegung der Feministinnen, sondern aus der linken Nach-68-Studentenbewegung. Feministin bin ich erst geworden, als ich in Pakistan lebte.“ Dort versucht sie, afghanischen Flüchtlingen in der Nord-West-Grenzprovinz Peshawar Einkommensquellen zu erschließen. „Ich habe in meinem ganzen Umfeld erlebt, wie Frauen als Arbeitstiere und Gebärmaschinen behandelt wurden. Das hat mich wahnsinnig wütend gemacht.“
In ihr reift der Entschluss, das Thema Frauenrechte zu ihrem Lebensprojekt zu machen – neben Beruf und Familie, mit der sie weitere Jahre im Ausland leben wird. In Nicaragua kommt ihr Sohn zur Welt. Nach einer Untersuchung in Deutschland steht fest, dass eine Chromosomenstörung vorliegt. „Das hat unser ganzes Leben verändert, wir mussten viele Therapien machen. Bewusst sind wir dann nach Pakistan gegangen – im Ausland ist es oft einfacher, Kinder zu haben“, sagt Burckhardt, die zwei Jahre später, 1985, noch eine Tochter zur Welt bringt. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem Bonner Vorort.

In Malawi, Uganda, Senegal, in Venezuela, Peru, Iran, Afghanistan, Indien und zahlreichen anderen Ländern arbeitet Burckhardt als Gutachterin oder Beraterin an Projekten, die sich auch für die ökonomische und politische Stärkung der Frauen einsetzen. Als sie nach Deutschland zurückkehrt, steht für sie fest: Sie muss ihr Engagement auf die Veränderung der ungerechten Handelsbeziehungen ausrichten. Das bedeutet: unsere Konsummuster hinterfragen, Unternehmensverantwortung einfordern. Und auch: Nur die Stärkung der sozialen und ökonomischen Stellung der Frauen befreit diese nachhaltig aus der Opferrolle – rund um den Globus.

Kritik an Konzernen: Schluss mit der Schönfärberei

Den Grundstein für den Kampf gegen die Ausbeutung von Frauen im Textilsektor legt Burckhardt in der Kampagne für Saubere Kleidung (CCC). Dort streitet sie seit 15 Jahren für die Rechte von Arbeiterinnen, etwa Löhne, die zum Leben reichen, und fordert Unternehmen auf, ihrer Verantwortung für eine saubere Lieferkette gerecht zu werden. Bei Recherchen in Bangladesch weist sie den Discountern Lidl und KiK Arbeitsrechtsverletzungen ihrer Lieferanten nach. Die CCC unterstützt eine Klage der Verbraucherzentrale Hamburg gegen Lidl wegen unlauteren Wettbewerbs, die Schluss macht mit der Schönfärberei. Der Discounter darf nicht mehr damit werben, weltweit fair zu produzieren.

Auch KiK geht es an den Kragen: In Kooperation mit ver.di bekämpft Burckhardt die Lohnsklaverei im Einzelhandel. Auf einer Rundreise berichten zwei Frauen aus Bangladesch und drei hiesige Beschäftigte, die gegen KiK klagen, von den miserablen Arbeitsbedingungen. Das Unternehmen wird gerichtlich dazu verpflichtet, den Stundenlohn anzuheben. „Beim Einsatz für die Arbeitsrechte ging es mir immer darum, das System der Ausbeutung hier wie dort als zwei Seiten einer Medaille kenntlich zu machen“, beschreibt die Aktivistin den Kern ihrer Strategie.

Um ihr Anliegen vehementer vertreten zu können, gründet sie 2010 mit Gleichgesinnten den gemeinnützigen Verein FEMNET und entwickelt ihn kontinuierlich weiter. Mit Erfolg: Gisela Burckhardt ist mittlerweile eine der renommiertesten Expertinnen zum Thema. Seit vergangenem Jahr gehört sie zum Steuerungskreis des Bündnisses für nachhaltige Textilien, initiiert vom Bundesentwicklungsministerium. Dort setzt sie sich für Umwelt- und Sozialstandards entlang der gesamten textilen Lieferkette ein. Freiwillige Selbstverpflichtungen von Unternehmen reichen ihr dabei nicht aus, sie kämpft für Gesetze – ihr Credo lautet: „Rechte für Menschen, Regeln für Unternehmen“.

Die Managerinnen von morgen schulen

Fragen, verändern, verbessern – getreu dieser Maxime leistet sie auch am Kult-Abend Aufklärungsarbeit. Bevor es ans Tauschen geht, flimmert ein Film über die große weiße Wand hinter der Tribüne, der den Arbeitsalltag der Textilarbeiterinnen in Kambodscha beleuchtet und das Elend zeigt, im dem unsere Lieblingspullis entstehen. Kerzengerade sitzen die jungen Frauen und Männer auf ihren Stühlen, lauschen nach der Dokumentation noch dem Vortrag über das Vereinsprojekt „FairSchnitt – Studieren für eine sozialgerechte Modeindustrie“, das FEMNET 2011 ins Leben gerufen hat. Gemeinsam mit Expertinnen entwickelt Burckhardt Lehrmodule zum Thema Umwelt- und Sozialstandards in der Bekleidungsindustrie, die sich an Hochschulen für mode- und textilbezogene Studiengänge richten. Sie schult Multiplikatorinnen, kurz „Multis“, die das Wissen in Workshops vermitteln, organisiert Konferenzen, baut mit ihren Mitarbeiterinnen Netzwerke auf. Die Managerinnen von morgen sollen auch die Branche neu ausrichten und gerechter produzieren lassen.
Nach Film und Vortrag verfolgt Burckhardt wachsam den Tauschrausch um sie herum, sortiert zer-wühlte Kleiderhaufen, faltet Hemden, stellt den von FEMNET entwickelten fairen Einkaufsführer für Bonn vor, fragt die Gäste nach ihrem Wissen über saubere Siegel und gibt dem Reporter der Lokalzeitung ein Interview. Von Müdigkeit keine Spur, obwohl sie gerade erst von einem Auslandseinsatz in Asien zurückgekehrt ist.

Kitas für Kleiderfabriken, Zukunft für Kinder

Denn FEMNET möchte auch vor Ort entschlossen die Arbeitsbedingungen verbessern. Im indischen Bangalore will der Verein gemeinsam mit der lokalen Organisation Cividep Kindergärten in den Fabriken einrichten, die diesen Namen verdienen – und dafür auch die Modefirmen in die Pflicht nehmen. Obwohl vorgeschrieben, gibt es in den Fabriken bislang gar keine Krippe oder die Kinder müssen auf engstem Raum ohne Spielzeug den langen Arbeitstag der Mütter fristen, teilweise ruhig gestellt mit Medikamenten. „Die Frauen bringen ihre Kinder nicht dorthin, weil sie Angst haben, dass sie dort schlecht versorgt sind“, erzählt Burckhardt.

Besonders erschüttert sie das Schicksal einer Textilarbeiterin, deren dreijährige Tochter mittags alleine von dem kärglichen Kindergarten in der Siedlung heimgehen muss. Anderthalb Stunden später kehrt der siebenjährige Bruder aus der Schule zurück nach Hause – nichts mehr als ein kleiner leerer Raum, in dem die beiden bis in den Abend hinein auf ihre Mutter warten. „Die Frau hat schreckliche Angst, dass ihren Kindern etwas geschieht. Für diese Arbeiterinnen gibt es keine Perspektive.“

Moderne Sklaverei in Südindien

Auch im Süden Indiens ist FEMNET aktiv – in Tamil Nadu wird Cividep im Rahmen eines gerade bewilligten Projektes die Spinnereien genauer untersuchen. Der Bundesstaat liefert Garn für den ganzen Globus – auf Kosten von geschätzt 250 000 jungen Frauen, die in den rund 2000 Spinnereien ausgebeutet werden. Die vierzehn- bis achtzehnjährigen Mädchen werden unter dem Vorwand, sie würden wohl behütet und ernährt, in die Spinnereien gelockt. Aus den vermeintlich gut Versorgten werden Leibeigene von Fabrikbesitzern, die für westliche Modefirmen produzieren, gefangen hinter hohen Mauern mit Stacheldraht.

Tag und Nacht laufen die oft mangelernährten Mädchen kilometerweit zwischen den gewaltigen Spinnmaschinen hin und her, um gerissene Fäden blitzschnell wieder einzufädeln. Es ist entsetzlich laut, der Baumwollstaub setzt sich in der Lunge fest und führt zu Krankheiten. Viele der Mädchen werden Opfer sexueller Gewalt. „Die Mädchen haben gelernt, zu gehorchen. Sie machen alles, was die Männer von ihnen verlangen – und gehen daran zugrunde, schlucken Insektengifte oder zünden sich an“, berichtet Burckhardt, die schon viele junge Frauen getroffen hat, die der Fabrikhölle entkommen sind.

Verfolgt vom Geheimdienst

Burckhardt ist es ein zentrales Anliegen, sich persönlich einen Eindruck von den Missständen zu machen – allen Widerständen zum Trotze. Ausgerüstet mit Kamera und Notizblock verschafft sie sich Zutritt zu den Fabriken, knüpft Kontakte zu Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen wie der 21-jährigen Dalyia, die sich bereits als Achtjährige ihr Geld mit Stickarbeiten verdienen muss. Mit elf Jahren heuert sie in einer Fabrik an – wenn sich Einkäufer ankündigen, wird das Kind auf der Toilette versteckt. Nachdem sie in zehn Fabriken in Staub und Stress gearbeitet hat, will sie die Arbeitsbedingungen verbessern und gründet eine Betriebsgewerkschaft. Der Weg dorthin ist hart: Die Werkspolizei greift sie an und droht der Mutter, die Tochter umzubringen.

„Frauen sind nicht nur Opfer, sondern können auch stark sein. Das müssen wir fördern“, ist Burckhardt überzeugt, gemeinsam mit Gewerkschafterinnen entwickelt sie Programme, um Frauen über ihre Rechte aufzuklären und ihnen beim Gang zum Arbeitsgericht zu helfen. Dafür unterhält FEMNET einen Solidaritätsfonds, der Spenden sammelt. Burckhardts Kampf für die Gewerkschaften stößt auf Gegenwehr: „Für die Fabrikbosse in Bangladesch bin ich ein rotes Tuch, sie sehen meine Kritik als wettbewerbsschädigend an“, erzählt sie, „während eines meiner Aufenthalte verfolgte mich der Geheimdienst auf Schritt und Tritt“.

Unsauberen Marken auf der Spur

Zwar setzt die Aktivistin auf den Dialog mit Fabrikbesitzern und Modeunternehmen, doch bei Bedarf greift sie diese scharf an. Nicht zuletzt erkämpft sie so mit Partnern wie der CCC, dass Unternehmen den Entschädigungsfonds für die Rana-Plaza-Opfer endlich bis zur geforderten Summe in Höhe von 30 Millionen US-Dollar auffüllen. Für ihr Buch „Todschick. Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert“, Ende 2014 bei Heyne erschienen, recherchiert sie couragiert in Bangladesch, um Missstände in Fabriken aufzudecken und klarzustellen, dass Premiummarken wie Hugo Boss ebenso fragwürdig in Dritt- und Schwellenländern produzieren wie die oft allein gescholtenen Discounter.

Die Vorwürfe – Arbeitszeit bis zu 15 Stunden täglich, keine Arbeitsverträge, Gewerkschaftsbehinderung, Schikane und bauliche Mängel – dementiert Hugo Boss, obwohl ein anderes Luxuslabel, das in der gleichen Fabrik produzieren ließ, diese bestätigt. Burckhardt bleibt am Ball: Auf der Aktionärsversammlung im Mai greift sie an. Sie hat sich Aktien gekauft, um kritisch zu berichten und bewusst zu machen, dass teure Marken in punkto Standards oft ganz und gar nicht premium sind.

Davon wissen die jungen Leute im Kult nichts, auch in ihren Köpfen herrscht noch die Macht der Marken – schnell kommen die Turnschuhe von Adidas in die Tüte, wandert der blaue Jeansrock von Esprit in die Tasche. Als die letzten Gäste an diesem Abend das Kult verlassen und ihre Bögen um die Pfützen im Hof machen, häufen sich in der Nähe der Bar noch die Hemden, Hosen und Jacken. „Wir müssen weniger konsumieren. Wir können doch all die Kleider gar nicht tragen“, sagt Burckhardt. Gemeinsam mit ihren Vorstandsfrauen lädt sie die übriggebliebenen Kleider ins Auto ein – für Bedürftige.

Die Autorin Johanna Hergt arbeitet als Geschäftsführerin für FEMNET.
Sie hat Volkswirtschaftslehre studiert und die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft besucht.