Brief aus einer zugrundegehenden Welt an Heinrich Böll

Ein prosaischer Brief an den Schriftsteller Heinrich Böll über die Gewalt und Unrecht in der heutigen Welt - im Rahmen von Weiter Schreiben - ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten.

Fotocollage: Majd Suliman / Heinrich Böll (2018). Unter Verwendung einer Fotografie von René Böll
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Fotocollage: Majd Suliman / Heinrich Böll (2018). Unter Verwendung einer Fotografie von René Böll

Lieber Heinrich Böll,

ich hoffe, es geht Ihnen gut ...

Eigentlich wollte ich einen Artikel über Ihre wenigen, auf Arabisch veröffentlichten Werke schreiben, doch als ich sah, wie viele Artikel und Studien bereits über Sie geschrieben wurden, habe ich meine Meinung geändert. Und weil ich zufällig an Ihrem hundertsten Geburtstag in Deutschland lebe, möchte ich mich noch einmal mit Ihrem Werk beschäftigen, es analysieren und einer kritischen Betrachtung unterziehen.

Da ich noch nie einen Brief an Sie auf Arabisch gelesen habe, habe ich beschlossen, nun diesen Brief an Sie zu schreiben ... Bestimmt wird Sie dieser Brief  verstören, denn die Welt wird immer schlechter und die Frustration hat ein enorm hohes Niveau erreicht. Alles, wovor Sie gewarnt haben und was Sie in Ihrem Leben beunruhigt hat, hat sich heutzutage im Vergleich zu früher um ein Vielfaches verschärft.

Ich wäre selbstverständlich dankbar, wenn Sie mir erzählen würden, wie die Lage bei Ihnen dort in der anderen Welt ist, aber ich weiß ganz genau, dass Sie nicht antworten werden. Dort herrscht offenbar ein äußerst strenges Regiment, sodass niemand uns auch nur eine Andeutung über die Situation zukommen lassen kann. Wie Millionen andere auch ist es mir nicht gelungen zu erfahren, was in Ihrer Welt passiert, obwohl Hunderte von Briefe an unsere Toten geschickt wurden.

Lieber Herr Böll, ich habe in Ihrem Haus in Langenbroich in Nordrheinwestfalen gelebt und bin von dort direkt ins Altersheim gezogen ... Erschrecken Sie nicht, ich habe natürlich nicht mein ganzes Leben in Ihrem schönen Haus verbracht, sondern nur ein Jahr. Es war ein ganz wundervoller Aufenthalt, in dem ich einen Gedichtband verfasst und etwa zwanzig Artikel über Politik und Literatur geschrieben habe. Sicher haben Sie Sehnsucht nach diesem schönen Haus, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: In den ersten Wochen habe ich es gehasst. Ich war allein und ich habe noch nie so in der Natur gelebt. Ich komme aus Bagdad, aus der Stadt, die ihren Glanz verloren hat, der Stadt, in der wir statt eines einzigen Henkers aus Tausendundeine Nacht mittlerweile in jeder Gasse einen haben. Und wenn sich die Mörder vermehren, stirbt die Natur genauso wie der Mensch.

Ich werde Ihnen erzählen, wie ich Sie kennengelernt habe: Mein Vater ähnelt vielen Figuren in Ihren Geschichten, die durch ein Leben in einer Diktatur, im Krieg und der Nachkriegszeit besiegt wurden. Er lernte Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Bagdad die deutsche Sprache und übersetzte einige Ihrer Geschichten. Das Elend zwang ihn, mit dem Übersetzen und dem Schreiben aufzuhören, denn kaum waren wir, seine Kinder, auf der Welt, zerstörten wir durch unser Chaos und unsere Ansprüche, satt zu werden, all seine Träume vom Schreiben. Und Nahrungsmittel waren im Irak eine große Sache - Sie kennen das nur allzu gut aus dem Deutschland der vierziger und fünfziger Jahre. Nachdem Sie von dieser Welt gegangen sind, hatte das diktatorische Regime von Saddam Hussein unser Leben fest im Griff, dann setzten die Vereinten Nationen fort, was der Diktator begonnen hatte, und beschlossen Wirtschaftssanktionen gegen das Land, die als die härtesten der Welt bezeichnet wurden. Deshalb hungerten wir. Nachdem mein Vater vor dem Regime Saddam Husseins geflohen war, stöberten meine Geschwister und ich in seinen Papieren, um die Erinnerung an ihn fortleben zu lassen, und so fand ich einige Ihrer Geschichten, die er übersetzt hatte.

Ich möchte nicht lügen, aber ich erinnere mich jetzt an keine Details, denn der Hungrige, Herr Böll, würde am liebsten sogar Papier verschlingen. Später lernte ich Sie kennen, weil Sie meine syrischen und palästinensischen Freunde, die von Baschar al-Assads Regime in Syrien verfolgt wurden, retteten und vielen von ihnen Schutz in Ihrem weit abgelegenen Haus boten. Sigrun Reckhaus war wie ein Schmetterling, der ihnen und mir die Hoffnung einimpfte, und Stefan Knodel ebnete uns den Weg, damit wir uns an das Leben im Exil gewöhnten.

Ich habe Ihre Bücher und Artikel natürlich nicht aus diesen Gründen gelesen, sondern weil Sie über Details geschrieben haben, die viele Schriftsteller vernachlässigten, wie über das bedrückende Alltagsleben mit seinen Krisen, die wie Gespenster an den Träumen und der Realität nagen. Ihre Artikel bedeuten mir sehr viel, denn sie sind nicht nur auf Deutschland nach dem Krieg übertragbar, sondern auf alle Staaten, die in die Klauen eines Krieges geraten sind.

Ich möchte Ihnen jetzt über die schlimmen Seiten unserer Welt erzählen. Es ist eine Nachkriegswelt im Entstehen begriffen, vor der Sie in Ihren Kurzgeschichten, Romanen und Artikeln immer gewarnt haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie hässlich und beängstigend unsere Welt heute ist, denn die Politiker und Entscheider haben nicht auf die Ratschläge Ihres lieben Freundes Günter Grass in seiner Nobelpreisrede gehört. Er hatte den Regierungen damals schon vorhergesagt, dass eine Welle von Flüchtlingen nach Europa und in die westlichen Staaten kommen werde, weil diese nicht aufhörten, die Staaten der so genannten Dritten Welt mit der Logik des Kolonialismus zu behandeln. Wegen der Ungerechtigkeit, der Armut und der fortgesetzten Kriege in ihren Ländern flüchteten Hunderttausende aus dem Osten der Erdkugel nach Europa, erschöpft von Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten und auf der Suche nach Hoffnung.

Grass war wirklich ein Prophet.

Diese Tatsache hat vielen Ihrer Mitbürger jedoch nicht gefallen. Sie wählten eine rechtsradikale Partei, deren einzige Sorge es ist, vor den Flüchtlingen zu warnen und sie als Zombies darzustellen. Eine nationalistische Partei, die versucht, Deutschland in seine schreckliche und furchterregende Vergangenheit zurückzuholen, die Sie immer verurteilt haben.

Es tut mir leid, dass ich Ihnen das erzähle.

Und die Firmen ..., die Firmen, Herr Böll, über deren kapitalistische Machenschaften und Habgier Sie sich immer geärgert haben, sind es, die heute die Welt beherrschen. Die Manager dieser Firmen lassen die Politiker tanzen, sie sind es, die die Gesetze machen, die sie selbst schützen und ihren Reichtum noch vergrößern, während die Armen immer ärmer werden. Ich habe Menschen in Ihrem Land gesehen - es gehört übrigens zu den ganz wenigen Staaten, in dem es noch ein Sozialsystem gibt -, die im Supermarkt stehlen. Ich habe viele Bettler gesehen. Und an den Bahnhöfen wird ständig nach Zigaretten geschnorrt. Eine Packung Zigaretten kostet ungefähr sechs Euro, können Sie das glauben, Herr Böll? Das Rauchen ist zwar fast überall verboten, aber der Rauch der Fabriken dringt unkontrolliert in unsere Lungen und schleicht sich in unsere Körper.

Und die Natur, Herr Böll ..., die Natur, die Sie, wie wir auf so vielen Fotos von Ihnen sehen können, oft betrachtet haben, liegt heute im Sterben. Ganze Staaten werden vom Meer überschwemmt, Tierarten sterben aus. Und wegen des Treibhauseffekts verspäten sich die Jahreszeiten. Die Natur schlägt um sich wie ein Mensch, der unter starken Kopfschmerzen leidet. Der Tag beginnt warm, dann wird es kalt, Regen setzt ein, dann kommt ein Sturm auf, der uns für das bestraft, was wir unserer Mutter Erde angetan haben.

Es gibt zwar das Klimaabkommen von Paris, aber es rettet unsere Erde nicht vor der Katastrophe, weil es nicht umgesetzt wird. Es gibt einen neuen leichtsinnigen amerikanischen Präsidenten namens Donald Trump, der die Welt noch verrückter macht und die Umsetzung dieses Abkommens trotz der Orkane, sie sein Land heimsuchen, ablehnt. Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen drohte er, ein ganzes Land – nämlich Nordkorea – einfach auszuradieren, es mit jenen Atomwaffen zu vernichten, die die UNO bekämpft. Wissen Sie, dass es noch immer ein staatliches Wettrüsten gibt? Alle Staaten konkurrieren bei der Aufrüstung miteinander, sogar die armen Länder ... Waffen werden weiterhin angehäuft, und wir fürchten uns vor dem Tag, an dem sie benutzt werden.

In dieser Situation, Herr Böll, sind auch die Medien schwach, denn der Neoliberalismus, der nach Ihrem Fortgang noch weiter verankert wurde, schafft ein System, das jenem in dem Roman 1984 von George Orwell ähnelt. Und die Medien spielen dieses Spiel mit, die Printmedien werden Imperien genannt, und sie werden in der Regel von einem Geschäftsmann geleitet, der in einem der hohen Türme hockt, die den Himmel verdunkeln. Die Freiheit wurde zur Ware und entwickelte sich zu einer Ideologie. Hunderttausende Iraker wurden durch die amerikanischen Truppen im Namen der Freiheit getötet, doch am Ende haben wir sie nicht zu Gesicht bekommen ... Wir haben niemals erfahren, was Freiheit ist.

In den Werken der seriösen Schriftsteller, die sich eine Meinung zu Politik und Gesellschaft gebildet haben, kann man ihre Niederlagen spüren. Sie werden von Trauer und Pessimismus beherrscht. Sie haben keine Studenten als Anhänger, denn auch die Universitäten bilden Studenten nur für die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt aus. Sie drehen sich wie Hamster im Rad, um einen Job zu ergattern, bei dem sie sich am Schreibtisch den Rücken krumm sitzen.

Lassen Sie mich zum Schluss darüber erzählen, welche Niederlagen Ihre Figuren Jahrzehnte, nachdem Sie sie erschufen, erlitten haben. Der Fischer, der mit seiner Situation zufrieden war, ist in Panik geraten. Er wartet nicht mehr auf einen Touristen, der ihm sagt, dass er arbeiten soll. Die Medien und der offizielle Diskurs der Regierungen, die tägliche Konkurrenz im Leben, die Armut, die verlorene Zukunft, all diese Dinge und noch mehr veranlassen ihn dazu, auf dem Meer zu bleiben. Der Fischer ist gänzlich davon überzeugt, dass seine Zukunft schrecklich sein wird, und deshalb verbringt er stundenlang auf dem Wasser und lässt die Fische in seinem Boot krepieren. Der Tourist aber, so glaube ich – macht sowieso keinen Urlaub -, denn seine Sucht nach täglicher Arbeit zerstört ihm die Ferien. Er häuft Reichtum für einen Ruhestand an, den er niemals antreten wird.

Viele Menschen ähneln heutzutage dem Protagonisten Ihres Romans Und sagte kein einziges Wort. Viele von uns leben in äußerst beengten Wohnverhältnissen, denn das Industrieland Deutschland leidet unter einer Wohnungskrise. Ich, lieber Heinrich Böll, bin im Alter von 28 Jahren in ein Altersheim gezogen, um dort zu wohnen. Nicht, weil ich früh den Ruhestand angetreten habe, sondern weil ich keine Wohnung zu einem vernünftigen Preis gefunden habe. Ich bin über diese Erfahrung allerdings sehr glücklich, denn die alten Menschen haben mir meine Einsamkeit erleichtert, und ich bin ihnen sehr dankbar dafür, dass sie sich um mich gekümmert haben.

Die Zeit ist knapp, Herr Böll, mein Brief beginnt die Menschen hier zu langweilen. Alle wissen, in welchen Zeiten wir leben. Wir brauchen unbedingt Veränderung, vielleicht werden wir etwas tun ..., wer weiß?

Ich werde Ihnen bestimmt wieder schreiben und Ihnen noch eingehender erklären, was auf der Welt passiert. Jetzt aber werde ich Ihnen und den hier Anwesenden einige meiner traurigen Gedichte zum Besten geben. Und meine deutschen Dichterkollegen werden die Aufgabe übernehmen, mit ihren schwarzhumorigen Gedichten ein Lächeln auf Ihr Gesicht zu zeichnen.

Mit freundlichen Grüßen

Omar Al-Jaffal

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Omar Al-Jaffal las diesen Brief am 24. November 2017 auf der Böll-Poetry-Gala „Get engaged! Einmischung erwünscht“ in Halle (Saale). Dieser Text wurde von Larissa Bender übersetzt.