Eine Einleitung in Drag als politische Praxis

Was macht breitbeiniges Sitzen männlich? Warum kann ich nicht in hochhackigen Schuhen laufen? Wie ist es, ‘etwas’ in der Hose zu haben? Was verändert der Lidstrich in meinem Gesicht? Und wie sehen mich Menschen, wenn ich gleichzeitig Lippenstift und Bart trage?

Zeichung von Umrissen verschiedener Personen vor blau-lila Aquarellhintergrunf

Drag ist eine vielgestaltige Praxis. Schminke und Bartkleber, Perücke und das Abbinden von Brüsten sowie Körper und Kleider, Auftreten und Accessoires verbinden sich darin zu immer neuen Formen von Geschlecht, Begehren und Selbst. Zu einem gewissen Renommee hat es dabei die Figur der ‚Drag Queen‘ gebracht, die eine hyperfeminine Weiblichkeit glamourös in Szene setzt. Subkulturell macht ihr gegenwärtig allerdings zunehmend die ‚Tunte‘ mit ihrer bewusst trashigen, affektiven und effeminierten Überzeichnung Konkurrenz. Und auch wenn Drag Kings nicht mehr präsent sind wie um die Jahrtausendwende, tummeln sich auch hier Darstellungen von jugendkulturellen Boygroups, gestandenen Dandys und alltagstauglicher Straßenmaskulinität. Ungreifbar zwischen diesen Ästhetiken und jenseits aller Einordnungen bevölkern schließlich Glitzerfeen und Fake-Schlager-Stars, Rock-mit-Bart- sowie Stoffpenis-träger*innen das Universum des Drag.

Räumlich hat Drag sowohl sehr enge als auch keine Grenzen. So findet es – im bundesdeutschen Raum – zumeist in den queeren Subkulturen der Großstädte als explizite Bühnenperformance sowie in Workshops statt. Jene laden zum Experimentieren mit Kleidung ein und schaffen Möglichkeiten, unterschiedliche Techniken des Drag zu erlernen und geschlechtliche Praxen einzuüben. Zugleich praktiziert auch das Publikum in Diskotheken und Bars, Vorträgen und Diskussionen Formen von Drag – sei es mit dem für spontane Kreationen zur Verfügung gestelltem Make-Up oder dem Tage vorher zurechtgelegten Styling. Im Alltag – in der Einkaufszone, am Arbeitsplatz und im Sportverein – ist Drag schließlich entweder unsichtbar anwesend oder aber als Teil und Ausdruck von Demonstrationen und Festivitäten wie etwa den Christopher-Street-Days unübersehbar.

Mit den Praxen, Ausdrucks- und Seinsweisen von Drag sind Visionen und Analysen verknüpft. Diese werden zum einen politisch besetzt und als Möglichkeiten von Emanzipation, gesellschaftlicher Befreiung oder Überarbeitung zweigeschlechtlicher Ordnung verhandelt. Zum anderen scheint in ihnen neben dem analytischen auch ein produktives, kreatives Moment enthalten zu sein, insofern Neues hervorgebracht wird. Diese Aspekte des Politischen wurden in den 1990er und den beginnenden 2000er Jahren vielfach diskutiert. Gegenwärtig findet hingegen eine Polarisierung statt: Zwischen dem Vorwurf des bloßen Hedonismus und der Dramatisierung lesbischer und schwuler Identität einerseits und der Überhöhung als politische Praxis schlechthin andererseits. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich das Dossier und die einzelnen Beiträge, bemühen sich um eine Betonung der Ambivalenzen und stellen zugleich neue Fragen an das Politische von Drag. Erfahrungsberichte aus Workshops und Bühnenpraxis machen Drag dabei plastisch und zeigen durch ihre Multiperspektivität die Vieldeutigkeit von Drag als Praxis. Die gegenwärtigen Deutungskämpfe um Drag weisen auf Fallstricke hin und zeigen neue Zielhorizonte auf. Darstellungen und Praxen von Geschlechtlichkeit werden verworfen und in queere Lesarten überführt. Jeweils orientieren sich die Beiträge dafür an drei Perspektiven auf Drag, die die jeweiligen Dimensionen der politischen Praxis abstecken: Drag vermag es Geschlecht in seiner sozialen Funktion genauer zu beschreiben und zu umreißen, diese Ordnungen zugleich zu kritisieren und zu durchkreuzen, sowie schließlich für die Beteiligten ein geschlechtlich anderes (Er-)Leben des Selbst und des Gegenübers möglich zu machen.

Geschlecht umreißen

Nach welchen Prinzipien funktionieren Geschlecht und geschlechtliche Ordnung? Diese Frage kann durch Drag nicht nur theoretisch beantwortet, sondern praktisch erfahren werden. Drag ermöglicht die Sichtbarmachung normierter und normierender Vorstellungen von Geschlecht. Der Philosophin Judith Butler zufolge wiederholt Drag den Akt der Geschlechterperformance in einer Weise, die die Prozesse der Herstellung, der Darstellung und des Erkennens von Geschlecht aufdeckt. Dies weise auf die beständige, aktive Arbeit am scheinbar natürlichen und selbstverständlichen Geschlecht hin und zeige dessen Identifikationszwang. [1] Butler führt aus, dass Menschen zum einen immer und jederzeit ihr Geschlecht verkörpern müssen, um für ihre Umgebung und sich selbst lesbar und damit ‚verständlich‘ zu sein, und zum anderen erst vergeschlechtlicht als Subjekte anerkannt werden. Die Praxis der Wiederholung idealisierter Geschlechternormen – der Vorgang des Drag per se – erschaffe den Eindruck dessen, was im alltäglichen Verständnis als “natürlich” erscheint. Die Performance des Drag (auf der Bühne oder im Workshop) führe vor, welche Leistung aus Imitation und Zitation alltäglich erbracht werden muss. Drag wirke damit als Spiegel, der die Bedingungen und Leitlinien geschlechtlicher (Darstellungs-)Ordnung umreißt. Diese scheinbar instinktiv vorhandenen Darstellungskompetenzen werden damit als Illusion von Natürlichkeit sichtbar – Geschlecht ist damit eine bindende, aber zugleich auch eine soziale Kategorie, die ständigen Veränderungen unterworfen ist.

Ordnungen durchkreuzen

Drag sprengt den binären Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit. Nicht immer wird ein Vertauschen von Geschlechterdarstellungen im Vergleich zur Alltagspraxis oder ein ‚Passing‘ – also ein eindeutiges Durchgehen als Mann oder als Frau – anvisiert. Dominante Geschlechterordnungen werden durchkreuzt und gebrochen und durch vermeintlich unpassende Kombinationen aus Kleidung und Make-Up, Styling und Verhalten ins Absurde geführt. Die Entgegensetzungen von männlich-weiblich, stark-schwach und Produktion-Reproduktion werden verdreht und umgearbeitet. Ergebnisse sind zum einen parodistisch, machen Normen lächerlich und kritisieren sie zugleich, wie der Sammelband Un/verblümt von Josch Hoenes und Barbara Paul an Zeichnungen, Fotographien und Performances ausführt und theoretisiert. [2] Zum anderen entstehen – teilweise zeitgleich – ernsthafte andere Formen, in denen Existenz geschlechtlich realisierbar wird. Es ist dann nicht mehr klar, welches Geschlecht der verführerischen Person gegenüber zuzuordnen ist, wenn sie Bart mit Lippenstift, Stilettos, Schottenrock und Busen kombiniert. Männlichkeit und Weiblichkeit verbreitern sich, werden abgelöst von unzähligen Kombinationen aus Körperformen, Kleidungsstücken und Verhaltensweisen. Drag macht damit ein queeres Schillern zwischen oder außerhalb von Männlichkeit und Weiblichkeit möglich.

Drag leben

Drag ermöglicht es, andere Weisen geschlechtlichen Seins zu (er-)leben, die nicht oder nicht derart rigide an eine Zweigeschlechtlichkeit und ihre Ideale und Normen gebunden sind: Wie Uta Schirmer für Praxen des Drag Kinging zeigt, wird mit Drag ein Entkommen aus einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft real. [3] Ein in den bestehenden Kategorien nicht beschreibbares ‘etwas’ kann geschlechtlich anders gelebt werden. Zugleich ist auch innerhalb binärer Strukturen ein Tauschen der Position, ein Ausdehnen oder ein Umdeuten möglich. Geschlecht erweist sich in der gemeinsamen Praxis als deutlich formbarer als es Strukturkategorisierungen vermuten lassen. Jeweils stellen diese Formen keine spontanen, individuellen oder lediglich durch den eigenen Wunsch realisierbaren Praxen dar, wie etwa morgens vor dem Spiegel zu entscheiden, kein Mann mehr zu sein. Eher entwickeln sich diese in einer Mischung aus Entkommen und Erschaffen, aus dem gemeinsamen Ausprobieren und der gegenseitigen Anerkennung der jeweils (anders-)geschlechtlichen Darstellung. Als kollektiver Prozess in zumeist subkulturellen Räumen kann Drag in Form eines Selbstexperiments Lebensweisen jenseits einer Zweigeschlechtlichkeit als Vision beschreiben und zugleich für die Protagonist*innen zentraler Ankerpunkt des anderslogischen (Er-)Lebens sein.

Das Dossier – Hintergründe und Inhalte

Entstanden ist das Dossier im Kontext der Arbeitsgruppe Gender* und Feminismus der Stipendiat*innen der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, Themen und Fragen rund um Geschlechtlichkeit*en in Theorie und Praxis zu bearbeiten und für Menschen mit diversen disziplinären Hintergründen und unterschiedlichen Vorkenntnissen greifbar zu machen. 2015 fanden dazu ein Kinging und ein Tunten-Workshop statt, bei denen Drag als Praxis erprobt und reflektiert wurde.

Die dabei von den Teilnehmenden gemachten und festgehaltenen Erfahrungen bilden den Ausgangspunkt des Dossiers. Mal verrückt, mal fröhlich, mal nachdenklich, werfen sie Schlaglichter auf persönliche Erkenntnisse und Empfindungen. Zugleich spiegeln sie die kollektive Auseinandersetzung mit dem Thema und geben Einblicke in den Raum, in dem für kurze Zeit und in begrenztem Maße scheinbar Natürliches fragwürdig geworden ist. Zusammengefasst sind diese Kurzbeiträge in den drei Oberthemen des Dossiers. Unter anderem Ta‘Yali Wetzel, Aru, Folke Brodersen, Jana Banana, Amy Ambitious zusammen mit Carla la Caque und Verena Wetzel umreißen Geschlecht, fordern die Unhinterfragtheit von Männlichkeit heraus, entmystifizieren ihre Eigenlogik, Bewegungsstrukturen und Stoik und schreiben gegen die hervorhebende Ausblendung und Beschämung der Weiblichkeit an. Zahlreiche Ordnungen durchkreuzen unter anderem Caro, Emil*ie Ehrlich, Lilian Hümmler und Moritz Zeising. Sie hinterfragen geschlechtliche Binaritäten, suchen nach anderen Formen des sexuellen und sozialen Begehrens und der Solidarität und kritisieren Konsumkapitalismus und (geschlechtliche) Aneignungen. Schließlich machen unter anderem Carla la Caque, Lou Zucker und Mate deutlich, wie Drag ein anderes Erleben ermöglichen kann, wenn sie Empowerment als Instant-Drag formulieren, Emotionsachterbahnen dokumentieren und die Erfahrung der Symbolhaftigkeit jeder Geschlechtlichkeit erfühlen.

Eine Einordnung und theoretische Erweiterung des Dossiers bieten sechs externe Beiträge aus Theorie und Praxis sowie ein Interview. Dabei befragen Muriel Aichberger, Eva Reuter und Christian Berger die Aneignung von Weiblichkeit durch Drag Queens/Tunten und das dahingehende politische Potential von Drag kritisch. Dort wo Aichberger tuntige Ästhetik als Aufwertung des Unperfekten konzipiert und damit einen gesellschaftlichen Kampf gegen den Vorwurf der Abwertung von Weiblichkeit gegenüber Frauen und (insbesondere schwulen) Männern verbindet, kritisiert Reuter in ihren Beitrag derartige Praxen. Durch die Darstellung von Weiblichkeit würden, so argumentiert sie, Stereotype wiederholt und Frauen* verhöhnt – gerade weil subkulturelle Praxen sich zunehmend popularisieren, entsprechendes Wissen zur politischen Einordnung dieser aber nicht allgemein bestehen würde. Berger fragt schließlich provokant, wie Drag nicht korrupt und anstößig sein kann, wo es doch die darzulegende Geschlechterordnung bereits sei. Er leuchtet daraufhin das ambivalente Potential von Drag als Praxis der Erkenntnis über die vergeschlechtlichte Welt und deren Veränderung aus.

Die Arbeiten von Stephanie Weber, Pia Thilmann und Francis Seek setzen diese Suche fort und verorten die politischen Optionen in Drag in der jeweiligen konkreten Praxis. So zeichnet Weber die Momente der Er- und Überarbeitung von Männlichkeit und des Empowerment von Frauen* innerhalb von Drag-Workshops nach. Auf die Suche nach dem darin enthaltenem lustvollen affektiven Potential und dem Begehren nach der Veränderung in der kollektiven wie individuellen Entwicklung begibt sich sodann Thilmann. Gegen die Eindeutigkeit und für ein genussvolles Moment der Unsicherheit schreibt schließlich Seek und beleuchtet nicht-binäre Varianten des Drag in Zusammenhang mit Politiken von trans* und inter* Personen.

Männlich, weiblich, alles

drag it! Geschlecht umreißen – Ordnungen durchkreuzen – Drag erleben. Unter diesen Perspektiven fragt das Dossier ‚drag it!‘ danach was Performance-Praxis gegenwärtig bedeutet.
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Das Dossier beleuchtet verschiedene Ebenen, Formen und Verflechtungen von Geschlecht und Sexualität. Weitgehend unhinterfragt bleiben hingegen rassifizierende, post-migrantische gesellschaftliche Strukturen, deren kategorisierende und hierarchisierende Kräfte sich auch in Praxen des Drag fortsetzen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Schwierigkeit, Beiträge für das Dossier einzuwerben, die die Dimension race aufgreifen – und dies, wie José Muñoz herausarbeitet, trotz der hohen Bedeutung, die entsprechende Performances und die Praxen von Persons of Color für die Entwicklung und Gestaltung von Drag hatten. [4] Ein Interview mit Dr. Herta Masturbuse differenziert deshalb für den deutschsprachigen Kontext die  Effekte und Formen rassifizierter Strukturen in Drag und deutet Möglichkeiten, Fallstricke und Verwerfungen an, die einer intersektionalen, über das Dossier hinausgehenden Analyse gerecht werden muss.

Diese Unterschiedlichkeit der Perspektiven ist wertvoll. Sie sind widersprüchlich, vielfältig und uneindeutig – in sich aber derart politisch, wie es die von ihnen betrachteten Drag-Praxen zu sein vermögen. Sie regen an, machen Mut, schrecken ab und drehen durch – sie sind ein Erleben, wie wir es von Drag kennen und was wir daran schätzen. In diesem Sinne wünschen wir allen ein anregendes, spaß- und lustvolles wie aufwühlendes Leseerlebnis.

Möglich gemacht haben das Dossier zahlreiche Menschen und Organisationen. Für Gespräche und Reflexion, materielle und ideelle Unterstützung sowie insbesondere die Beteiligung durch Beiträge gilt ihnen unser Dank. Redaktionell und konzeptionell erstellt wurde das Dossier durch fünf (ehemalige) Koordinator*innen der AG Gender und Feminismus der Stipendiat*innen der Heinrich-Böll-Stiftung: Folke Brodersen promoviert an der Schnittstelle von Psychotherapeutik, Subjektivierungsforschung und Queer Studies.  Nerea Discher studiert Gender Studies an der Universität Bielefeld und ist in verschiedenen feministischen Kontexten aktiv. Federica Guccini promoviert an der University of Western Ontario (Kanada) im Fachbereich Linguistic Anthropology. Karsten Spindler studiert Sprach- und Erziehungswissenschaft und ist Mitarbeiter am Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Hildesheim. Verena Wetzel ist Sexualpädagogin in Ausbildung und lebt in Wien. Sie hat Gender Studies an der London School of Economics studiert. Sie sind erreichbar unter: dragdossier@gmx.de.


[1] Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 171-188.

[2] Hoenes, Josch; Paul, Barbara (2014): Un/Verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie. Berlin: Revolver.

[3] Schirmer, Uta (2010): Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten. Bielefeld: transcript.

[4] Muñoz, José Esteban (1999): Disidentifications. Queers of Color and the Performances of Politics. Minneapolis/London: University of Minnesota Press.