"… ob es in einer utopischen Gesellschaft überhaupt noch Drag geben kann, ist fragwürdig"

Interview

Ein Gespräch mit Dr. Herta Masturbuse über die Verschränkung von Drag, Geschlecht und Rassismus, und die Möglichkeiten und Herausforderungen für Drag Performer*innen und Tunten of Color.

Zeichnung und Aquarell. Eine Person mit einem SkelettKostum trägt eine andere Person auf dem Rücken

Du stehst als Dr. Herta Masturbuse auf der Bühne und bezeichnest dich selbst als Polittunte. Was zeichnet dich als Polittunte aus?

Als Tunte verstehe ich mich noch gar nicht so lang. Das fing an, als ich vor wenigen Jahren nach Berlin kam. Und da ich mich vor allem in linken und feministischen Räumen bewege, sah ich mich recht schnell mit der Berliner Tunten-Szene und deren Geschichte konfrontiert. Der Grund, warum ich mich als Polittunte bezeichne, ist weniger das Label selbst, sondern meine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Geschlecht, Rassismus, Sexismus und Antifeminismus, die in meinem Alltag eine große Rolle spielen und die ich ebenso in meinem Dasein als Tunte adressiere. In welcher Weise ich mich mit Politik auseinandersetze, zeigt sich darin, wie ich eine Show mitgestalte, welche Themen ich anspreche und nicht zuletzt, wie ich mit Drag bestimmte Debatten aufgreife und Rollen thematisiere oder auch aufbreche.

Drag machen, Tunte sein – welche Gräben klaffen zwischen diesen beiden Begriffen?

Für mich bedeuten beide Begriffe ein Spiel mit und die Aneignung von Geschlechterbildern und das Aufbrechen ebendieser durch Performance und Show. Drag hat für mich eine lange Tradition und ist nicht willkürlich. Das öffentliche Bild von Drag ist ja sehr oft von cis-schwulen Männern dominiert, die als Drag Queens auftreten. RuPauls Drag Race ist ein gutes Beispiel dafür. Für mich ist Drag jedoch sehr viel mehr als das und es sollte vor allem auch selbstverständlich für Personen abseits von cis-schwuler Männlichkeit sein. Die Tunte würde ich insofern von der Drag Queen abgrenzen, als dass es einen deutschen Bezug gibt und politisch mit der Homosexuellenbewegung der 70er Jahre zusammenhängt. Drag und Tunte würde ich von Travestie abgrenzen, da ich letzteres eher als Showformat und Bühnenperformance wahrnehme. Tunte zu sein heißt für mich auch heteronormative Geschlechterrollen zu hinterfragen, beispielsweise als schwuler Mann Weiblichkeit zuzulassen, zu überspitzen und als nicht unwesentlichen Teil des eigenen Schwul-Seins anzuerkennen. Es kann auch heißen, die Verortung als Mann oder Frau grundsätzlich infrage zu stellen.

Was heißt es, als Drag Performer*in beziehungsweise Tunte of Color auf der Bühne zu stehen?

Es bedeutet, immer wieder damit konfrontiert zu sein, nicht-weiß und womöglich in einer bestimmten Weise wahrgenommen zu werden, indem das Publikum beispielsweise Zuschreibungen über vermeintliche kulturelle oder soziale Hintergründe eines*einer Performer*in vornimmt. Oder die Annahme ist, da würde es grundlegend erst einmal um die Darstellung einer nicht-weißen Identität als Person of Color gehen - was aber überhaupt nicht der Fall sein muss. Bei einer weiß-deutschen Drag Queen würde in der Regel nicht thematisiert werden, dass sie weiß ist. Das nicht benannte – also das weiß-Sein – bildet die Norm. Wie kann es gelingen als Person of Color auf der Bühne zu sein, aber gleichzeitig nicht nur als Person of Color wahrgenommen zu werden, sondern einfach „nur“ als Performerin, bei der es keine Rolle spielt, ob sie weiß ist oder nicht? Der Forderung, dass nicht nur weiße Deutsche auf der Bühne stehen sollten, steht die Gefahr entgegen, dabei selbst der Forderung nachzukommen, gefälligst eine Rolle zu spielen und zur „kulturellen Vielfalt“ oder zum antirassistischen Anstrich eines Abends beizutragen, also irgendwie doch in die Rolle der „Quotenmigrantin“ gedrängt zu werden.

Wie lässt sich dieses Dilemma angehen?

Ich glaube nicht, dass es sich lösen lässt. Es ist wichtig, eine Szene zu haben, die bereit ist, sich mit den eigenen Vorurteilen und Stereotypen auseinanderzusetzen. Eine Szene, die bestimmte Dinge bewusst nicht einfordert. Wie zum Beispiel, dass migrantische Queers oder Queer Refugees in Shows zu sehen sind, um eine „authentische“ Bauchtanznummer zeigen zu können. Viele Shows werden immerhin noch immer vor allem von weißen Drag Performer*innen oder Tunten organisiert.
Nichtsdestotrotz muss es einer Performerin of Color auch freistehen, sich mit den vermeintlich eigenen traditionell-folkloristischen Zusammenhängen innerhalb ihres Drag auseinanderzusetzen und vielleicht da auch bestimmte Rollen aufzubrechen. Es darf eben nicht das Gefühl aufkommen, es ginge um einen exotisierenden Blick auf das vermeintlich Andere oder Fremde. Damit würden Performer*innen of Color Gefahr laufen, quasi nur "konsumiert" zu werden.

Als Performerin hast du die Bühne als Medium. Wie du deine Performance gestaltest und welche Themen du aufgreifst, ist dir überlassen. Wie schaffst du es, dass deine Botschaft bei denen ankommt, die im Publikum sitzen?

Es ist wichtig, eine Auseinandersetzung innerhalb des Publikums einzufordern. Das kann zum Beispiel bei Anmoderationen geschehen, in der Art und Weise wie bestimmte Inhalte auf die Bühne gebracht werden oder etwa in Form einer kurzen Anekdote oder Meinungsäußerung. Ich war mal bei einer Performance, wo die Gastgeberin am Trans Day of Rememberance darauf hingewiesen hat, dass sehr viele Menschen, die von frauenfeindlicher Gewalt betroffen sind, häufig Trans*frauen oder trans*weibliche Menschen sind, und wie wichtig es für Drag Queens, Kings und -Monarch*innen ist, egal ob sie sich als cis, trans oder überhaupt irgendwo verorten, sich gegen transfeindliche Gewalt zu solidarisieren. Ich finde es wichtig, diese Diskussion gerade auf der Bühne am Laufen zu halten. Über Kunst oder Showformate kann keine vollständige Auseinandersetzung mit Rassismus und Nationalismus geleistet werden. Es geht mit solchen Interventionen darum, gezielt rassistische Strukturen zu adressieren und nicht zu glauben, die queere und tuntige Szene sei per se frei von Rassismus – oder gar antirassistisch.

Drag ermöglicht es, mit Geschlechterrollen zu arbeiten, diese umzudrehen, zu durchkreuzen und zu parodieren. Worin liegt der Reiz und das Potential gerade für Performer*innen, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören?

Ich würde das nicht Potential nennen. Es ist eher eine Not, in der sich Performer*innen of Color befinden. Drag ist natürlich etwas, dass bestimmte Handlungsmöglichkeiten zulässt, dass ich aber deshalb nicht direkt als Potential beschreiben würde. Für nicht-weiße Personen gibt es immer zusätzliche Herausforderungen, womit zugleich ganz eigene Zugänge entstehen. Das kann zu einer ganz eigenen Ästhetik und Geschichte führen.
Ein klassisches Beispiel ist die Ball Culture in den USA, die durch Schwarze und Latinx Queers maßgeblich geprägt ist. Menschen also, die aus sozial prekären Verhältnissen stammen und häufig von Armut betroffen waren. Da ist es kein Zufall, dass sich durch den dargestellten Glamour und Luxus bestimmte Formen von Ästhetik ergeben haben, die eben erst vor dem Hintergrund von extremer Armut und Prekariat Sinn ergeben. Es ist wichtig auch zu sehen, was es eigentlich heißt, als nicht-weiße Performer*in auf die Bühne zu treten und Glamour, Reichtum und bestimmte Geschlechterbilder zu performen und anzueignen. Die Ästhetiken von Drag hängen sehr stark damit zusammen, aus welcher Perspektive oder vor welchem sozialen Hintergrund und unter welchen konkreten Zwängen performt wird, was jede Performance einzigartig und eben nicht austauschbar oder beliebig macht. Es wäre aber mehr als zynisch, das soziale Elend der frühen Ball Culture als subversives oder künstlerisches Potential bezeichnen zu wollen.

Können wir dann an anderer Stelle in Drag ein gesellschaftspolitisches Potential sehen?

Drag hat das Potential, sich mittels Übertreibung und Künstlichkeit verschiedenen Vorurteilen, Annahmen und Rollenbildern in einem nicht-heteronormativen Rahmen anzunähern. Es eröffnet Spielräume. Es schafft auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Geschlecht und Herkunft. Und es ermöglicht ein lustvolles Spiel um Geschlechterrollen und ein überschreiten gesellschaftlich oder selbstauferlegter Beschränkungen der eigenen Identität.
Was ich besonders an Drag schätze ist die Gleichzeitigkeit davon, dass einerseits auf eine unterhaltsame Art und Weise zu einer Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Zuständen angeregt wird und andererseits Drag eine gegen Heteronormativität gerichtete Ästhetik bereithält, die ganz andere Zugänge zum geschlechtlichen Erleben ermöglicht. Drag ist eine Kunstform, die durch das Zusammenspiel der Thematisierung gesellschaftlicher Missstände einerseits und von normativen Geschlechterbildern andererseits kritisch ist. Das Subversive an Drag ist nicht, dass ein (vermeintlicher) Mann eine weibliche Rolle spielt, sondern der politisierende und empowernde Umgang der Performer*innen mit Geschlechterrollen, mit Sexismus und Rassismus. Die Frage ist, ob eine Auseinandersetzung mit rassistischen oder rassistisch-geprägten Geschlechterrollen stattfindet oder ob Rassismus reproduziert und nicht bemerkt wird, dass Geschlecht und Rassismus immer miteinander zusammenhängen.

Männlich, weiblich, alles

drag it! Geschlecht umreißen – Ordnungen durchkreuzen – Drag erleben. Unter diesen Perspektiven fragt das Dossier ‚drag it!‘ danach was Performance-Praxis gegenwärtig bedeutet.
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In welcher Weise werden rassistische Strukturen in der Drag und Tunten Szene für dich sichtbar?

Auch in queeren und tuntigen Szenen gibt es rassistische Ideologien und Strukturen, und sei es in Form eines Nicht-Sehen-Wollens von rassistischer Normalität. Könnte sich zum Beispiel die Drag Szene in einem Land wie Deutschland, das sich nach außen hin abschottet und dadurch auf tödliche Weise Migration und Asyl erschwert, als nicht rassistisch deklarieren, obwohl keine klare antirassistische und kritische Stellung zu dieser Politik bezogen wird? Für mich gehört es dazu, sich gegen bestehende rassistische Verhältnisse zu wenden, zu intervenieren, wenn Rassismus stattfindet, ganz unabhängig davon, ob in den eigenen Reihen oder in der Politik in ganz Europa. Deshalb ist es wichtig zu sehen, dass eine Drag und Tunten Szene, die sich nicht gegen nationalistische und rassistische Strukturen einsetzt, eben nicht behaupten kann, nicht rassistisch zu sein.
Antirassismus ist für mich eine Grundvoraussetzung. Ansprüche, Herausforderungen und Errungenschaften der LGBT-Bewegung werden immer wieder für Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus vereinnahmt und ebenso lassen sich auch Menschen, die zur "happy queer community“ gehören, gerne instrumentalisieren. Das trifft natürlich auch auf die Drag und die Tunten Szene zu, wo Nicht-weiße, Nicht-Deutsche auch ausgeschlossen sind, sich nicht willkommen fühlen oder sich vielleicht rechtfertigen oder anpassen müssen, um dazugehören zu dürfen.

Wie kann ich mir das vorstellen?

Ein sehr prominentes Beispiel ist Blackfacing, wo es auch in den letzten Jahren vorkam, dass sich Tunten ihre Gesichter schwarz anmalten, um das stereotype Bild einer Afrikanerin zu verkörpern. Die Praxis des Blackfacings steht in einer Tradition der Entmenschlichung und Abwertung von Schwarzen Menschen - etwas, das vor allem in bürgerlichen Kreisen, wo Drag stattfindet, häufig unwidersprochen bleibt. Drag kann eben auch sexistisch und rassistisch sein.
Ebenso erschreckend ist es, wenn sich queere Aktivist*innen mit antisemitischen Diskursen gemein machen. So wichtig es beispielsweise sein mag, die Vereinnahmung queerer Kämpfe seitens staatlicher Akteure für rassistische oder militaristische Zwecke zu verhindern und zu kritisieren, sind gerade Diskurse rund um „Pinkwashing“ von antisemitischen Projektionen und Doppelstandards geprägt und zielen oft darauf ab, Israel das Existenzrecht zu entziehen.
Die Drag und Tunten Szene ist außerdem ein sehr spezifischer Teil der LGBT Community, so dass es natürlich noch einmal ganz andere Hürden gibt: Zum Beispiel ist die Tunten-Community sehr studentisch geprägt - allein, wenn man sich ansieht, dass studentische Milieus häufig sehr viel homogener deutsch sind, wird klar, dass Menschen, denen der akademische Hintergrund fehlt oder die aus nicht-akademischen Elternhäusern kommen – und das betrifft aufgrund von Selektionsmechanismen auf dem Weg in die Hochschule häufig People of Color – weniger häufig angetroffen werden.

Was wäre der Gegenentwurf zu Bühnen, auf denen vor allem weiß-deutsche Performer*innen auftreten - ein exklusiver Raum nur für Drag Performer*innen beziehungsweise Tunten of Color?

Ich möchte mich nicht in exklusive Räume für People of Color zurückziehen müssen. Ich will darauf bestehen, mich überall aufhalten zu können. Weshalb ich es wichtig finde, Rassismus in der homogenen weiß-deutschen Drag Szene zu kritisieren. Es wäre falsch zu fordern, dass Menschen unter sich bleiben sollen – überspitzt formuliert würde das heißen, dass auf der einen Seite Queers, Drags und Tunten of Colors ihren Raum haben, wo es ihnen gut geht, und auf der anderen Seite die weißen Queers in ihrem Raum glücklich sind. Trotzdem finde ich es wichtig, dass nicht-deutsche Menschen eigene Räume haben können, nicht weil sie per se irgendwie jemanden ausschließen oder sich schützen wollen, sondern weil sie sich über rassistische Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig unterstützen und Mut zusprechen wollen.

Wie sieht deine Utopie in und von Drag aus?

Wenn ich an eine Utopie denke, dann ist das für mich ein gesellschaftlicher Zustand, wo Heteronormativität und Rassismus nicht mehr existieren. Ob es in einer utopischen Gesellschaft überhaupt noch Drag geben kann, ist fragwürdig. Denn in einer Welt, in der es keine binäre Geschlechtszuweisungen mehr gibt, keine Unterscheidung zwischen hetero und homo, zwischen cis und trans, in der Identitäten nicht starr und voneinander abgegrenzt werden und es folglich keine Norm gibt, von der Homosexualität, Trans*, Queer oder Bi abgegrenzt werden, und wo man sich nicht stetig innerhalb oder außerhalb irgendwelcher Grenzen verorten muss, um als Individuum anerkannt zu werden –  in so einer Utopie ist Drag als Form der Grenzüberschreitung vielleicht nicht mehr nötig.

Dr. Herta Masturbuse bezeichnet sich als Polittunte of Color und lebt in Berlin. Im Zuge ihrer Promotion am Tuntologischen Institut für Angewandten Kulturmarxismus wurde ihr der Goldene Stinkestöckel für besondere Verdienste um die Sexuelle Verwahrlosung des Volkes verliehen.

Was die Verwendung der Begriffe „weiß“ oder „weiß-deutsch“ betrifft, ist sie sich selbst nicht sicher. Sie findet es jedenfalls wichtig, zu benennen, dass einige in der wahlweise deutschen, europäischen oder abendländischen Gemeinschaft willkommen sind – und andere nicht. Es hat sich mehr oder minder durchgesetzt, „weiß“ in Abgrenzung zu biologistischen oder rassistischen Verwendungen kursiv zu setzen. „Latinx“ ist genderneutrale Abwandlung von Latina/ Latino  und ist als Selbstbezeichnung relativ weit verbreitet.