»Männer von Männlichkeitsvorstellungen befreien«

Interview mit dem südafrikanischen Maskulinitätsforscher Dean Peacock 

Männlich gelesene Personen tragen T-Shirts mit der Aufschrift "Campaign against domestic violence"

Dieses Interview ist Teil des Dossiers "Männlichkeiten".

Dean Peacock arbeitet für die Women’s International League for Peace and Freedom in Kapstadt. Er war Kriegsdienstverweigerer im Apartheidstaat, wirkte in der antimilitaristischen End Conscription Campaign mit, hat im Exil profeministische Männerorganisationen unterstützt und in Südafrika gemeinsam mit anderen Aktivist*innen das Sonke Gender Justice Network aufgebaut.

iz3w: Im Zentrum deiner Arbeit und Forschungen steht die Überwindung geschlechtsspezifischer Gewalt und martialischer Männlichkeit. An welchen Theorien und Konzepten orientierst du dich?

Dean Peacock: Hier in Südafrika sind die Schriften von Kopano Ratele wegweisend. Er zeigt, wie wichtig es ist, Männlichkeit nicht isoliert zu betrachten, sondern koloniale Auswirkungen und länderspezifische Kontexte zu untersuchen. Internationale Männlichkeitsforschung, vor allem diejenige in den USA, ignoriert oft historische Prägungen von Maskulinität, beispielsweise durch die Kolonialgeschichte sowie den antikolonialen Widerstand in afrikanischen Ländern. Ein intersektionaler Ansatz verhindert ahistorische und kontextlose Einschätzungen von Männlichkeit sowie Verallgemeinerungen auf den ganzen Kontinent.

Für die Analyse martialischer Männlichkeit in Südafrika bedeutet das zum Beispiel, genauer und kritischer zu erforschen, wie Shaka Zulu als erfolgreicher Anführer im Kampf gegen britische Eroberer im 19. Jahrhundert zum Held und zur mythischen Figur wurde. Auch die Mythologisierung von Umkhonto we Siswe, des bewaffneten Arms des African National Congress (ANC) ab den 1960er-Jahren, bedarf einer kritischen Analyse. Diese Untergrundgruppe wird in manchen historischen Rückblicken verklärt, indem sie als bedeutendste Organisation für die Überwindung der Apartheid dargestellt wird. Dabei waren andere Bewegungen und Faktoren viel wichtiger, um das rassistische Regime zu Fall zu bringen. Eine Beschränkung auf militante Männer in Umkhonto we Siswe verkürzt also die Geschichte des Widerstands gegen den Apartheidapparat. Damit müssen wir uns intensiver auseinandersetzen.

Ein weiteres wichtiges Thema sind die Überschneidungen von Rassismus und Männlichkeit: Im Apartheidstaat war ein jahrelanger Militärdienst für weiße junge Männer verpflichtend. Dieser prägte ihre martialische Männlichkeit. Mit Militär- und Polizeigewalt wurde die gesellschaftliche Hierarchie aufrechterhalten. Gleichzeitig wurden Schwarze Männer dem rassistischen System unterworfen. Mit der erniedrigenden Bezeichnung »boys« sprach man ihnen die Menschlichkeit und Männlichkeit ab. Wegen der wirtschaftlichen Ausbeutung blieben Männlichkeitsideale für sie unerreichbar, was viele verzweifeln ließ und bei manchen zu Überkompensation führte. Um diesen Rassismus zu überwinden, brauchen wir weiterhin gesellschaftliche Prozesse, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet sind.

 

Neben martialischer Männlichkeit ist Vaterschaft in Südafrika ein wichtiges Forschungsthema. Worum geht es dabei?

Unser heutiges Verständnis von Vaterschaft und die Probleme von Männern, ihre väterlichen Pflichten zu erfüllen, erfordern genauere Analysen historischer Hintergründe. Zu den Problemursachen zählen Landgesetze und massive Landenteignungen Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Folgezeit wurden Männer der Schwarzen Bevölkerungsmehrheit gezwungen, Wanderarbeiter zu werden. Mit dem wenigen Geld, das sie beispielsweise als Minenarbeiter verdienten, konnten sie ihre Familien aber nicht so versorgen, wie die Gesellschaft das von Vätern erwartete. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Sehr geringes Einkommen und strukturelle Arbeitslosigkeit sind weiterhin verbreitet. Männer tragen zwar etwas zum familiären Unterhalt bei, das reicht jedoch nicht. Die Norm des männlichen familiären Versorgers ist für Männer ohne Jobs und Langzeitarbeitslose unerreichbar.

Wir müssen diese ökonomischen Bedingungen und Zusammenhänge viel stärker beachten, wenn wir über die soziale Verantwortung von Vätern sprechen. Vergleichende Studien zur Vaterrolle in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Südafrika haben gezeigt, dass Väter indischer Herkunft genauso viel Zeit mit ihren Kindern verbringen wie Väter der weißen Minderheit, falls sie über ausreichende Einkommen verfügen. Es geht also weniger um individuelle psychische Aspekte oder starre Rollenmuster, sondern um komplexe Zusammenhänge, insbesondere mit der Ökonomie.

Wenn wir Ungleichheiten erfassen und über die Vielzahl von Männlichkeiten reflektieren, sind die konzeptionellen Auseinandersetzungen mit hegemonialer Männlichkeit von Raewyn Connell aus Australien nützlich. Das Land war wie Südafrika eine rassistisch geprägte britische Siedlerkolonie. Connells Überlegungen ermöglichen Männern, eine Bandbreite von Männlichkeiten zu erkennen. Wie die Forschung uns herausfordert, wird klar, sobald wir zusätzlich die Arbeiten des britischen Soziologen und profeministischen Männerforschers Jeff Hearn diskutieren. Er kritisiert, der Fokus auf multiple Männlichkeiten überdecke Machtbeziehungen. Der Dreh- und Angelpunkt ist also, Männer zu ändern und Gewalt zu stoppen, nicht Männlichkeit zu multiplizieren. Das dokumentieren auch empirische Studien zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Südafrika.

 

Wie wirkte sich die Theoriereflexion auf deine praktische Arbeit mit Männern aus?

Das Sonke Gender Justice Network, das ich 2006 gemeinsam mit anderen Aktivist*innen gegründet habe, war von diesen Theoriedebatten beeinflusst, wenngleich sie nicht ganz oben auf unserer Agenda standen. Wir hatten das Ziel, Männer zu befähigen, allen Formen von Gewalt Einhalt zu gebieten – insbesondere der geschlechtsspezifischen Gewalt. Uns ging es darum, dass Männer deren negative Folgen wahrnehmen. Wir wollten Empathie mit Frauen vermitteln und Männer zum Nachdenken darüber anregen, wie Gewalt und patriarchale Normen auch sie selbst beeinträchtigen. Mit Reflexionen über Geschlechterbeziehungen wollten wir an deren Wandel mitwirken.

Diese Veränderungen verstanden wir von Anfang an als Beitrag zu mehr Demokratie und Freiheit. Vor allem mein Kollege Patrick Godana, ein früherer Antiapartheid-Aktivist, der lange inhaftiert war, betonte, dass unsere Arbeit eine Fortsetzung des Kampfes für eine antirassistische und gerechte Gesellschaft der 1980er-Jahre sei. Der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit ist somit nicht an eine bestimmte Maskulinitätstheorie gebunden, vielmehr resultiert er aus intersektionalen Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen während der Apartheid, zu denen auch ungerechte Geschlechterbeziehungen zählten.

Mit Blick darauf ist es mir inzwischen wichtig, nicht nur bestehende Männlichkeiten zu problematisieren, sondern überhaupt neue Wege des Mannseins zu beschreiten und plurale Identitäten von Menschen zu erkennen. Gleichzeitig weiß ich, wie paradox das ist, zumal damit essentielle Vorstellungen von Unterschieden zwischen Männern und Frauen verbunden sind. Deshalb wäre es besser, Männer von Männlichkeitsvorstellungen zu befreien und eine größere Mitmenschlichkeit aufzubauen.

Das ist jedoch kompliziert, zumal sich Männer und Frauen in der südafrikanischen Gesellschaft über ihre Genderidentität definieren. Bereits Begrüßungen und respektvolle Anreden wie Vater oder Mutter betonen immer das Geschlecht. Gender-Zuschreibungen bieten Orientierung für Individuen und ihre soziale Umgebung. Rituale sind allerdings nicht statisch. So wurden Jungeninitiationen, also der ritualisierte Übergang zum Status des erwachsenen Mannes, kommerzialisiert. Zudem findet finanzieller Missbrauch statt. Jungen werden erpresst, an Initiationsgruppen teilzunehmen und skrupellose Gruppenleiter verlangen Gebühren von den Müttern. Um Geld geht es auch bei hohen Brautpreisforderungen, die junge arbeitslose Männer nicht aufbringen können. Deshalb ist die Heiratsrate in Südafrika im kontinentalen Vergleich sehr niedrig.

Mannsein ist also Teil einer veränderten sozialen Identität. Für neue Dynamiken sorgen junge Leute, die sich über geschlechtsspezifische Kleiderordnungen und sozial konstruierte Genderzuschreibungen hinwegsetzen. Wenn Gender auf den Prüfstand kommt, dürfen wir Perspektiven von Trans-Menschen nicht vergessen, denn sie gehen einen sehr langen Weg, um einer bestimmten Gender-Identität zu entsprechen.

 

Welche Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehst du aus diesen Ambivalenzen in der Forschung und Praxis?

Man muss Männlichkeit als in gesellschaftliche Prozesse eingebettet betrachten und strukturelle Faktoren beachten, die diese prägen. Das betrifft vor allem den politisch-ökonomischen Rahmen, insbesondere die kommerziellen Beschleuniger militarisierter Männlichkeit: Waffenindustrie, illegaler Waffenhandel, militarisierte staatliche Sicherheitsapparate und korrupte Autoritäten, die Männern ihre Existenzgrundlagen rauben. Wir müssen die Wirkungen dieser Triebkräfte analysieren. Zudem sind Reformen der Sozial- und Hausbaupolitik sowie der Bedingungen in den Gefängnissen notwendig. Es muss multisektorale Gewaltpräventionsprogramme geben. Dazu müssen wir mit sozialen Bewegungen kooperieren, etwa mit Gewerkschaften und Umweltgruppen. Der Ansatz, Männer sollen unabhängig von ihren Wohn- und Lebensbedingungen in Eigenregie ihre Einstellungen ändern, ist neoliberal – und zwar nicht nur in Südafrika.

Das Interview führte und übersetzte Rita Schäfer.

Das Dossier "Männlichkeiten" finden Sie hier: https://www.gwi-boell.de/de/maennlichkeiten