Geschlecht umreißen

Mit Drag werden die Umrisse von Geschlecht und dessen gesellschaftliche Ordnung erkennbar. Zum Themenfeld "Geschlecht umreißen" setzten sich die Autor*innen mit ihren Drag-Erfahrungen auseinander.

Zeichnung von zwei Händen, die sich die Fingernägel lakieren

Drag ermöglicht die Sichtbarmachung normierter und normierender Vorstellungen von Geschlecht. Der Philosophin Judith Butler zufolge wiederholt Drag den Akt der Geschlechterperformance in einer Weise, die die Prozesse der Herstellung, der Darstellung und des Erkennens von Geschlecht aufdeckt. Butler führt aus, dass Menschen zum einen immer und jederzeit ihr Geschlecht verkörpern müssen, um für ihre Umgebung und sich selbst lesbar und damit ‚verständlich‘ zu sein. Zum anderen werden sie dadurch erst vergeschlechtlicht als Subjekte anerkannt. Die Praxis der Wiederholung idealisierter Geschlechternormen – der Vorgang des Drag per se – erschaffe den Eindruck dessen, was im alltäglichen Verständnis als “natürlich” erscheint. Drag wirke damit als Spiegel, der die Bedingungen und Leitlinien geschlechtlicher (Darstellungs-)Ordnung umreißt. Diese scheinbar instinktiv vorhandenen Darstellungskompetenzen werden damit als Illusion von Natürlichkeit sichtbar – Geschlecht ist damit eine bindende, aber zugleich auch eine soziale Kategorie, die ständigen Veränderungen unterworfen ist.

Zum Themenfeld "Geschlecht umreißen" sind folgende Beiträge entstanden:


Mein Leben als Hauke oder Wie Hauke mir die Augen öffnete

von Jana Banana

Hauke macht gerade sein Referendariat an der Waldorfschule in Flensburg. Eigentlich wollte er Gymnasiallehrer für Geschichte und Politik werden. Dies änderte sich.

Er trägt Wanderschuhe, eine blassgrüne Cordhose, ein mittelaltes graues Hemd, darüber einen dunkelgrünen Pullover und eine karierte Jacke.

Er trägt einen rostbraunen Bart und seine leicht fettigen Haare sind zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Er ist mittelgroß, schlank und hat ein markantes Gesicht mit treu-doofen Augen. Seine Hände verschwinden oft locker in den Hosentaschen.

Er hat einen kleinen Tick: Beizeiten wippt er nervös von links nach rechts. Sein Blick ist schüchtern nach unten gerichtet, es sei denn er wird direkt angesprochen. Dann wird er selbstbewusst und erzählt gerne ausführlich von seinem Studium, seiner Arbeit oder seinen Hobbys. Leider ist er ein nicht so guter Zuhörer und schweift gerne ab. Oft merkt er selbst, wenn die zuhörende Person gelangweilt ist und entschuldigt sich dann, rechtfertigt sich und wird wieder schüchtern. Er weiß nicht, was er andere fragen soll, freut sich aber trotzdem über jede Gesellschaft.
Er ist liebenswürdig, doch wenn ihm jemensch näher kommt wird er nervös, verhält sich tollpatschig und unbeholfen, was oftmals in merkwürdigen Situationen endet, über die er sich dann wochenlang ärgert.

Das ist alles, was ich bisher über Hauke weiß.

Ich wollte eine Männlichkeit kreieren, die mir selbst (aus der Sicht als Frau) sympathisch und gleichzeitig realistisch ist. Ich freue mich, wieder er zu sein.

Durch den Drag King-Workshop ist mir bewusst geworden, wie viele (und wahrscheinlich noch mehr oder gar alle) Verhaltensweisen ich mir abgeschaut und antrainiert habe, ohne dieses zu reflektieren. Mein Blick ist geschärfter für die gemeinhin als „männlich“ oder „weiblich“ deklarierten Verhaltensweisen. Ganz besonders ist mir im Nachhinein ein sehr dominantes Redeverhalten aufgefallen – aus meiner neuen Erfahrung heraus kann ich dieses nun benennen und ansprechen. Zugleich versuche ich vermehrt durch die Identitäten und Geschlechtszuweisungen hindurch zu blicken und den Menschen dahinter zu sehen. Schließlich erlebe ich, dass ich meine vorher unmerklich vergeschlechtlichten Verhaltensweisen ab- bzw. umtrainieren kann, wenn ich mir Zeit dafür nehme.

Ich denke, diese Übungen werden mir helfen, zu der Person zu finden, die ich hinter meiner ‘weiblichen Fassade‘ bin und offener mit Menschen umzugehen, die in keine Schublade passen wollen. Die Definition von ‘normal‘ ist für mich angezweifelt, sie bröckelt und verliert ihre Wirkung.


Die Enge oder #BurnYourClutch!

von Amy Ambitious und unter dem wachsamen Auge von Carla la Caque

Sie war schwarz, klein, aus Leder und nötig, weil mein Outfit keine Hosentasche hatte: Die Clutch – eine Handtasche im wortwörtlichen Sinn, denn sie muss stets in selbige genommen werden. Ein Umstand, der im Laufe des Abends noch zum Problem wurde und gleichzeitig zu der Erleuchtung führte, wie ein kleines Stück Kunstleder mich komplett einschränken kann.

Zuerst aber lag sie elegant auf meinem Schoß. Problematisch wurde es beim Aufstehen und Applaudieren. Soll ich sie auf den Sitz legen oder lieber unter die Achsel klemmen? Ich entschied mich für letzteres, was jedoch das Hinsetzen erschwerte, weil ich penibel darauf achten musste, dass mein Rock richtig sitzt.

Dabei war das erst das Warm-up für weitere Probleme. Da ich meine Clutch nicht ablegen konnte, hatte ich immer nur eine Hand frei. Ich fühlte mich wahnsinnig eingeschränkt, denn eigentlich gestikuliere ich gerne mit zwei Händen. Mit Drink in der einen und Clutch in der anderen Hand folgte dann die totale Unbeweglichkeit: Ich hatte beide Hände voll und nun keine Möglichkeit mehr in irgendeiner Form zu gestikulieren. Ich musste zum einen wegen des Lippenstiftes möglichst zaghaft und behutsam trinken, um nichts zu verschmieren, und zum anderen die Clutch umklammert halten, da in ihr das Geld und damit der Rest meiner (finanziellen) Autonomie lag. Im Ruhemodus war ich außerdem gezwungen, beide Sachen auf unterschiedlicher Höhe zu halten. Erschwerend kam die ständige (gedankliche) Überprüfung des Outfits hinzu. Mir blieb nichts Anderes übrig, als den Drink so schnell es ging die Kehle herunter zu kippen, um zumindest etwas Freiheit wiederzugewinnen. Beim Tanzen stellte ich mir letztlich die Frage, ob ich die Clutch entweder als Verlängerung des Arms nehmen oder sie in Schritthöhe halten soll, was bedeutete, dass ich nur noch züchtig tanzen konnte. So wurde mir schließlich auch das tanzen vergällt.

Mir gab die Clutch zwar Sicherheit, weil ich immer wusste wohin mit den Händen, aber sie engte mich auch wahnsinnig ein, denn eine Hand ist immer belegt. Dabei ist die Clutch nur die Spitze des Eisberges: Handtasche halten, Schmuck richten, richtig aufstehen, elegant hinsetzten, aufpassen, dass die Strumpfhose nicht zu tief sitzt, gerade sitzen, bei jedem Toilettengang das Make-up und die Frisur überprüfen. Wie soll ich denn bei all den To-Do's noch laut, unterhaltsam und flirty sein? Ich vermute, Männer sind deswegen so mächtig, weil sie nicht viel Zeit mit diesen Sachen verplempern müssen und ganz in Ruhe zuhören können, was das Gegenüber sagt. Ich rufe deshalb allen, die sich durch ihre Clutch eingeengt fühlen, zu: Burn your Clutch!

Amy und Carla sind ein schillernd-schräges Duo, das sich und seine Gedanken gegenseitig auf Hochglanz poliert und ins beste Rampenlicht rückt. Sie sinnieren über Politik, Feminismus und Lippenstiftfarben.


Menschen in unterschiedlichen Geschlechterrollen überzeugen

von Ta'Yali Wetzel

Während meiner Rolle als Drag King habe ich die Erfahrung gemacht, dass selbst Menschen, die mich im Alltag und ganz ohne Drag kennen, ihr Verhalten mir gegenüber anpassten.

Cocktails mit meiner Mutter

Ich warte vor der Haustür auf meine Mutter. Sie weiß nicht, dass ich immer noch in Drag bin. Meine Mutter kommt aus dem Haus: „Wie siehst du denn aus?“ fragt sie und fängt im gleichen Satz schallend an zu lachen. Ich kann mich nicht beherrschen und muss auch lachen und falle in meine alte Rolle zurück. Das ärgert mich. Ich will sie überzeugen mit meiner Männlichkeit.

Wir machen uns auf den Weg, um Cocktails zu trinken. Meine Mutter gewöhnt sich an meine neue Erscheinung und ich merke, wie mir die enge Bindung zu ihr Sicherheit vermittelt und mich in meiner Rolle unterstützt. Meine Stimme wird immer tiefer und fängt schließlich an zu brummen - genauso wie die Drag-Referentin es uns am Nachmittag erklärt hat.

Gemeinsam mit meiner Mutter werde ich von vorbeigehenden Menschen als cis-Mann wahrgenommen. Sie scannen uns kurz und ignorieren uns dann oder fokussieren sich auf meine Mutter.

In der Bar setze ich mich breitbeinig gegenüber meiner Mutter hin. Irgendwie ist die Atmosphäre anders als sonst. Ich habe das Gefühl, sie versucht mehr, mir zu gefallen.

Die Kellnerin kommt und meine Mutter hat sich noch nicht entschieden. Sie wiegt sich mit einer Art Verbeugung in Richtung Kellnerin und fleht regelrecht „Ich brauche noch ein bisschen. Ich habe mich noch nicht entschieden“. Ich habe dieses Verhalten bei ihr so noch nie wahrgenommen. Liegt das an meiner veränderten Perspektive? Oder hat sie ihr Verhalten an meine veränderte Erscheinung angepasst? Ich ‚erinnere‘ mich wie ich mich in meiner Weiblichkeit manchmal ähnlich verhalte in der Annahme, dass sei höflich. Gerade finde ich es aber einfach nur unnötig. Ich brumme stattdessen „Erdbeer-Colada“ – ein Drink, der in seinem Image überhaupt nicht zu meiner Erscheinung passt.

Auf einem Drag-Event

Die anderen Teilnehmer*innen des Drag Workshops gehen raus auf die Straße. Ich bleibe allein zurück. In meiner Weiblichkeit würde ich mich jetzt sehr unwohl fühlen und mir selbst Schuld geben mich nicht zu integrieren. Meine Männlichkeit registriert kaum, dass ich allein dasitze. Es ist vollkommen egal. Ich bin mit mir zufrieden.

Eine andere Teilnehmerin kommt auf mich zu. Ich glaube, ich tue ihr leid, so ganz allein in der Sitzreihe. Das nimmt zumindest meine Weiblichkeit an. Meine Männlichkeit hingegen ist unberührt von ihrem Bemühen.

Sie kreuzt die Beine und wechselt ziemlich oft die Position ihrer Hände. Zum Reden beugt sie sich zu mir herüber. Ich bleibe sitzen wie gehabt und verändere keine Miene. Ihre Fragen beantworte ich ziemlich kurz. Trotzdem bleibt sie fast zehn Minuten sitzen und betreibt mehr allein Konversation, als dass wir uns ‚ausgewogen unterhalten‘, wie ich es gewohnt bin. Ich habe das Gefühl, sie fühlt sich dazu verpflichtet. Als hätte sie ein schlechtes Gewissen, dass die Unterhaltung so karg ist. Meiner Männlichkeit ist das egal und ich schaffe es das ganze Gespräch über, nicht in meine Weiblichkeit zu wechseln. Ich finde das gerade erfreulich, weil es meiner Weiblichkeit schwerfällt, sich unfreundlich gegenüber anderen zu verhalten.

Aber das stringente Verbleiben in Drag hat dazu geführt, dass ich diese einzigartige Erfahrung machen konnte. In meiner Weiblichkeit wünsche ich mir oft, dass mich in so einer Situation jemand anspricht, weil ich ungern alleine in einer großen Menge sitze – selten passiert das.

Als Drag King habe ich mich in keinem Moment unwohl gefühlt. Meine Männlichkeit war eher ein anderer Teil und eine Erweiterung für mich – nichts Fremdes. Allerdings fehlten mir Ausdrucksmöglichkeiten: Einerseits weil es Teil meiner Männlichkeit war, die sich sehr cool und selbstsicher fühlte und ein emotionaler Ausdruck dazu im Kontrast stand bzw. zu viel Nähe suggeriert hätte. Andererseits weil ich in meiner Rolle als Drag King noch kaum Erfahrung hatte, sodass ich kein Risiko eingehen wollte, indem ich mich ‚unrealistisch‘ verhalte. Also minimierte ich meine Reaktionen und verhielt mich passiv. Trotz dieses begrenzten Verhaltensspielraums empfand ich es als befreiend neue Möglichkeiten und die Reaktionen anderer darauf zu erleben.

Ta'Yali kommt aus Hamburg, hat Textiltechnik und Textildesign in Mönchengladbach und Seoul studiert und absolvierte begleitend zum Studium eine Ausbildung zur Handweber*in Sindelfingen. Seit Oktober 2017 studiert Ta'Yali im Master Textildesign für Gewebe in London.


Drag als Spiegel/Bild

von Aru

Notwendigerweise baut Drag auf Stereotypen auf. Wenn ich mich als Drag King verkleiden möchte, greife ich auf bestimmte Symbole von Männlichkeit*en zurück. In meiner Transformation zu einem Drag King habe ich es für notwendig empfunden meine Brüste abzubinden, einen Bart anzukleben, Boxershorts, Hemd und eine locker sitzende Hose anzuziehen. Während Drag grundsätzlich ein weites Spektrum von Möglichkeiten eröffnet, gebraucht es diese Symbole derart, dass sie als ein bestimmtes Geschlecht gelesen werden können. In diesem Sinne funktioniert Drag in einem normativen Rahmen, in dem jeweils bestimmte Symbole bedeutsam sind und für uns beispielsweise eine „Männlichkeit“ lesbar machen.

Für eine*n außenstehende*n Betrachter*in sind diese Symbole notwendig um Geschlecht zu erkennen. Daher baut die Darstellung von Geschlecht auch beim Drag, egal ob als theaterähnliche Vorführung einer Geschlechter-Parodie oder als eine unsichtbare Performance in Alltagssituationen, auf solchen Symbolen auf. In diesem Prozess verstehe ich Drag als einen Spiegel, weil die*der Betrachter*in im Anblick von Drag diese Symbole und deren Bedeutung erkennt: Während diese Symbole im Alltag oft als solche unerkannt bleiben, weil sie „natürlich“ und „normal“ zu sein scheinen, legt die Darstellung von Drag den metaphorischen Inhalt von Geschlechter-Symbolen offen.

Als ich als Drag King in den Straßen Berlins unterwegs war, ist mir aufgefallen, dass manche Menschen mich nicht einmal gesehen haben, als wäre ich durch ein männliches Privileg einfach unsichtbar geworden. Andere hingegen haben mich mehrfach prüfend angesehen, als hätten sie bemerkt, dass sie durch irgendetwas an meinem Auftreten irritiert wurden und nun die Ursache dessen herausfinden wollten. Dabei kommt es zu einer Analyse dieser bestimmten Symbole, die in unserer geschlechterbinären Gesellschaft Männlichkeit oder Weiblichkeit signalisieren. Gerade weil es sich um allgegenwärtige Verhaltensweisen und Körperlichkeiten handelt, vergessen wir schnell, dass es Symbole sind, die eine Geschlechter-Realität suggerieren, anstatt aus ihr zu resultieren. Genau in diesem Prozess sehe ich Drag als einen Spiegel für die Betrachtenden, da auf einmal Merkmale als Symbol für Geschlecht erkenntlich werden und nicht länger die Konsequenz von Geschlecht sind. In diesem Aspekt messe ich Drag das Potential zu, Geschlecht als soziale Aushandlung, also als soziales Konstrukt sichtbar zu machen.

In diesem Sinne ist Drag nicht nur ein Spiegel für andere – es ist auch ein Spiegelbild, dass mich selbst reflektiert. Drag zeigt mir ebenso wie der*m Betrachter*in auf, dass Geschlecht als Symbol funktioniert. Dabei denke ich an eine Situation, in der mir meine Erfahrung als Drag King Einblicke in meine Weiblichkeit gegeben hat: In dem Versuch mir einen „männlichen“ Habitus, also u.a. Verhaltensweise, Bewegungsmuster und Gesten anzueignen, bin ich einigen Männern in der Straße hinterher gelaufen, um ihre Art zu gehen und sich zu bewegen zu imitieren. Nachdem ich einige Blocks auf- und abgelaufen bin und das Gefühl hatte maßlos zu übertreiben, fand ich meine Imitation von „männlicher“ Körpersprache und Ausdruck recht überzeugend. Dann jedoch hat mich ein anderer Teilnehmer des Workshops darauf aufmerksam gemacht hat, inwiefern ich mich nicht wie ein Mann, sondern wie ein Frau bewege. Es war allein durch diesen Kommentar, dass ich eine Ebene meiner eigenen Geschlechterperformance erkannt habe, die ich zuvor nicht mal als solche eingeordnet habe. Diese war zuvor für mich unsichtbar, weil ich es einfach nur als „natürlich“ und „normal“ empfunden habe, mich auf diese Art zu bewegen. Bei dem Versuch mir einen „männlichen“ Habitus anzueignen, bin ich mir über meinen „weiblichen“ Habitus bewusstgeworden. Die Bedeutung dieser Erkenntnis liegt für mich darin, dass es sich in beiden Fällen um einen Habitus handelt – nicht um eine natürliche Begebenheit oder Essenz eben dieser.

Vor dem Hintergrund Drag als Spiegel zu verstehen, sehe ich es als eine Methode hin zu einer queeren Gesellschaft und Umgangsform. So kann Drag Geschlecht als gesellschaftliches Symbol sichtbar machen.  Ich erhoffe mir, dass durch die Bewusstwerdung von Geschlecht als Konstrukt ein kritischer Umgang mit Geschlechternormen erfolgen kann – ein Umgang, der diese Normen als solche in Frage stellt und somit Raum für vielfältige Geschlechteridentitäten und Ausdrucksformen erlaubt. Drag funktioniert nur, weil wir bestimmte Symbole für Geschlecht haben, aber gleichzeitig macht es dessen Symbolhaftigkeit deutlich – sodass Drag irgendwann nicht mehr Drag sein wird, wenn wir die Normen und die Normativität von Geschlecht überkommen.


Zur richtigen Seite wanken - Sich geschlechtlich durch die Welt bewegen

von Folke Brodersen

Wir sind auf Spurensuche. Öfters etwas leise kichernd und dann aber wieder aufmerksam und still beobachtend sind wir auf der Jagd nach nur schwer Fassbarem. Zu viert gehen wir die Straßen entlang und versuchen fast schon voyeuristisch die subtilen, selten bewusst bedachten Muster zu finden, die uns als Männer und Frauen auszeichnen – als Vorbereitung auf unsere eigenen Transformationen machen wir uns so nochmal anders mit geschlechtlichen Mustern vertraut. Die Haltung des Handgelenks, das Zwirbeln von Haupt- und Gesichtshaar, sich einander Feuer geben oder telefonieren. In all dem erkennen wir – nachdem wir uns erst darauf eingelassen haben – eine geschlechtliche Ordnung. Nie lässt eine Handhaltung oder ein schräg gelegter Kopf allein eine eindeutige Zuordnung zu. Die vielen kleinen Gesten, Mimik und Bewegungsweisen verdichten sich aber zumeist zusammen mit Kleidung und Haaren und machen eine binäre Einordnung oftmals möglich – den Rest erledigen Sehgewohnheiten, die alles Uneindeutige kategorisch ausschließen.

Insbesondere gilt diese anweisende Funktion für das Gehen. Die alltäglichste Sache der Welt, die Fortbewegung, wird für uns so zu einer interessanten Angelegenheit. Als etwa eine kumpelhaft miteinander scherzende Gruppe junger Männer uns überholt, heftet sich eine von uns an ihre Fersen und versucht – möglichst ohne Aufmerksamkeit zu erregen – ihnen hinterher zu laufen und ihre Bewegungen nachzubilden. Mit großen, weiten Schritten Raum einnehmend wirkt sie schon sehr kräftig. Doch irgendwie fällt in diesem Moment und mit dem vorhandenen Vergleich auf, dass das Verhältnis von Hüfte und Beinen nicht stimmt. Dabei geht es nicht etwa um Hüftbreiten oder Beinlängen, sondern um die jeweiligen Bewegungen. Trotz ihres Bemühens fällt auf: Tritt sie mit dem rechten Fuß auf, beugt sie ihren linken Oberkörper in Richtung des Beines. Tritt sie mit dem linken Fuß auf, vollführt der Oberkörper mit einer leichten Rechtsdrehung eine Ausgleichsbewegung, wobei nicht nur die Hüfte ebenfalls bewegt wird, sondern sich ihr Körper auch übermäßig klein macht. Ganz anders bei unseren fünf Anschauungsobjekten: Treten sie mit rechts auf, schwankt ihr ganzer Oberkörper groß und breit mit nach rechts. Treten sie mit links auf, bleibt ihre Hüfte weiter gerade und die Schultern bewegen sich ebenfalls nach links. So ‚wankt‘ die von uns verfolgte Gruppe mit großen Schritten den Gehsteig entlang.

Zuerst sind wir von dieser Beobachtung irritiert, hinterfragen sie und halten Ausschau nach Gegenbeispielen. Doch mit jeder weiteren Person, die wir betrachten, bestätigt sich unsere Beobachtung. Durch genaues Hinsehen erkennen wir nun, wieso ein Hüftschwung weiblich und ein Torkeln männlich konnotiert erscheint – eine Veränderung indessen ist nicht so einfach möglich: Als wir uns alle selbst an den jeweils anderen Bewegungsmustern versuchen, scheitern wir zunächst kläglich. Viel zu falsch und ungewohnt fühlt sich dieses Gehen an. Die Formen der Fortbewegung sind, so scheint es, tief in uns eingekörpert – unsere Körperwahrnehmungen und -möglichkeiten richten sich daran aus. Es scheint uns fast, als wäre diese Art, durch die Welt zu wanken, ein existenzielles Moment von Männlichkeit.


Tunten, Scham und Weiblichkeit

von Verena Wetzel

Eine nach der anderen läuft mit großen Gesten und unter viel Applaus durch den Raum. Jede stellt ihre an diesem Tag neu und für viele zum ersten Mal aufgetragene Weiblichkeit durch Kleidung, Make-Up, Verhalten und Bewegung dar. Nur ich traue mich nicht, zum Abschluss in vollem Tuntenfummel, mit Perücke, schwarzem Lippenstift, und tief ausgeschnittenem Dirndl zum Beifall selbstbewusst von einem Ende des Raums zum anderen zu gehen. Erst als ich Monate später über Weiblichkeit, Scham, Ärger und Macht nachdenke, verstehe ich, weshalb: Weil ich mich dafür schäme, eine Frau zu sein. Nicht immer und nicht in meinem Alltag. Jeden Tag performe ich dort  eine Weiblichkeit, die viel damit zu tun hat, nicht Hosen sondern grellen Lippenstift, Leder, Samt, Spitze und gern auch Pelz aus dem Second-hand Laden zu tragen. Aber ich schäme mich für meine Weiblichkeit in einem Tuntenworkshops mit fast ausschließlich Männern* als anderen Teilnehmer*innen.

Hilflos sitze ich da und schaue Menschen dabei zu, wie sie mit viel Freude und Gelächter laut in hohen Frequenzen sprechen und sich als Aneignung von typisch weiblichen Eigenschaften sehr emotional geben. Aber nicht alle Emotionen werden den Teilnehmer*innen als Teil des Tuntendaseins angesehen und ausgedrückt: Da ist Freude, sexuelles Begehren, Empörung, Aufregung, Aufgedreht-Sein. Manche geben sich zurückhaltender, betonen ihre Distanz und kühle Eleganz oder kokette Zurückhaltung. Die emotionalen Repertoires sind bei allen anders als vor dem Auftunten und wahrscheinlich immer mit der persönlichen Geschichte und dem Charakter der Person verknüpft. Aber was auffällt, ist der Platz, den alle einnehmen, die Aufmerksamkeit, die sie einfordern und schließlich auch bekommen.

Wenn ich eine Dragperformance, unabhängig von der geschlechtlichen Identifikation der Performer*in, als empowernde Darstellung von Weiblichkeit definiere, gibt mir das einen Hinweis auf das, was die Tunte für mich von meiner im Alltag gelebten Weiblichkeit unterscheidet. Die Kraft, Stolz und Macht mit einer Weiblichkeitsperformance zu verbinden habe ich zwar in meinem Alltag, aber hier in diesem Rahmen bricht sie weg. Ich fühle mich, als würden die anderen Teilnehmer*innen sich Weiblichkeit aneignen und sie mit mehr Selbstbewusstsein performen können als ich, die ich das eigentlich jeden Tag tue. Ich fühle mich minderwertig und schäme mich, denn was für die anderen ein lustiges Spiel ist, ist für mich Alltag. Ich fühle mich, als könnte ich die Komponenten, die aus meiner alltäglichen Performance eine Tuntenperformance machen, nicht annehmen ohne von Scham überkommen zu werden: Selbstbewusstsein, Raum einnehmen, bestimmte Emotionen zeigen.

Scham ist destruktiv, gewendet gegen mich selbst. Scham hindert mich daran, durch den Raum zu laufen und Raum einzunehmen. Ich lese die Scham allerdings als etwas, dass nicht von mir kommt, sondern von außen. Ich verstehe sie als von mir aufgesogene und gegen mich selbst gewendete Botschaften: “Nimm nicht zu viel Raum ein”, “Sei nicht zu laut”, “Sei nicht so emotional”, “Sei nicht so sexuell”. Diese Botschaften sind Teil meiner weiblichen Sozialisation gewesen und sie kehren als Scham in dem Moment wieder zurück, in dem ich die Männer* dabei beobachte, wie sie sich scheinbar ohne Probleme etwas aneignen, das mich qualvolle Jahre gekostet hat: Das Akzeptieren meiner Stärke, meiner Emotionalität und meiner Sexualität. Ich bin wütend auf den Spaß, den die anderen haben, auf die Leichtigkeit, mit der es ihnen gelingt Weiblichkeit und Stärke, Weiblichkeit und starke Emotionalität, und Weiblichkeit und aggressive Sexualität zu verbinden. Andere Frauen* mögen das anders fühlen, aber ich kann darum – in diesem Moment – keine Tunte sein.