Wo steht der Feminismus?

Feministischer Zwischenruf

Keine Ahnung. Fest steht nur: Das Thema Gewalt ist zurück auf der Agenda. Und das ist gut.

AktenEinsicht_Buchcover_Clemm

Sonnenklar ist: Es gibt nicht DEN Feminismus. Es gibt nur eine vielfältige, auch widersprüchliche feministische Szene, in der Akteur*innen unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Trotzdem hält sich zum Beispiel in der Presse hartnäckig die Vorstellung, Feminismus sei irgendwie ein einheitliches Ding, dessen Stand spätestens zum 8. März abgefragt werden sollte.

Vermutlich erklärt sich dieses mediale Bedürfnis nach Wasserstandsmeldungen nicht allein aus Unwissenheit, sondern auch aus der Vergangenheit. Noch bis vor dreißig Jahren war Alice Schwarzer nahezu die einzige Feministin, die ins öffentlich-rechtliche Fernsehen durfte. Es gab sie also mal, diese bis heute gesuchte eine Feministin, die erklärt, was DEN Feminismus gerade so umtreibe. Ja, es war mal übersichtlicher. Spätestens mit der digitalen Revolution hat sich diese Ein-Frau-Show aber erledigt. Und das ist gut so und sollte endlich zur Kenntnis genommen werden. Viele feministische Stimmen jeden Alters, unterschiedlichster Herkünfte und mit verschiedensten Expertisen publizieren in mehr oder weniger etablierten Zeitungen, haben ihre Blogs, machen ihre Podcasts, arbeiten in Parlamenten, Kanzleien und Fachkommissionen. Bei aller Verschiedenheit, verbindet sie nur, dass sie das Grundrecht auf Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit endlich umgesetzt sehen möchten. Sie alle leisten Arbeit für die Demokratie.

Besonders eine Sache schlingt seit ein paar Jahren wieder wie ein rotes Band um die vielfältigen Expert*innen: Das Thema Gewalt.

Das Schweigekartell ist angekratzt

Allen Beschwichtigungen und neoliberalen Schmähungen zum Trotz – “Selbst schuld, Frauen!” “Hört auf, Euch als Opfer aufzuspielen, Frauen!” – ist die Kritik an einer systematischen und andauernden Gewalt gegen Frauen zurück auf der Agenda. Nachdem der 2013 gelaunchte #aufschrei und die vielen Geschichten von alltäglichen Übergriffen in Deutschland ein paar Jahre später schon wieder fast vergessen waren, setzen sich 2017 gegen den einst unantastbaren Filmproduzenten Harvey Weinstein 90 Frauen zur Wehr. Mithilfe von #metoo lösten sie Wut und eine Bewegung gegen die systematische sexistische Gewalt aus und schafften es, dass Weinstein jüngst tatsächlich wegen Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt verurteilt wurde. Ihnen gelang damit etwas, womit kaum jemand weltweit gerechnet hatte: Sie durchbrachen die schier endlose Tradition der Straffreiheit für Täter von sexualisierter Gewalt. Denn Weinstein repräsentiert das weiße Establishment der USA. 

In Deutschland sind wir von einer solchen Zäsur noch weit entfernt. Laut Bundeskriminalamt werden rund 100.000 Frauen Opfer von sogenannter partnerschaftlicher Gewalt, und zwar jedes Jahr. Lassen wir die Zahl kurz sacken: 100.000. Dabei geht die Dunkelfeldforschung davon aus, dass nur 8 Prozent der Fälle zur Anzeige kommen. Die Zurückhaltung hat viel damit zu tun, was Frauen passiert, wenn sie den Rechtsweg beschreiten. Die Expertin für Rechtsextremismus Franziska Schutzbach schrieb am 05.03.20 leider treffend auf Twitter: „Frauen dürfen heute ein Unternehmen führen oder gewählt werden. Aber wehe, wenn du sexualisierte Gewalt anklagst. Das ist die rote Linie, das verzeiht man dir nicht.” Anlass waren die Hasskommentare zu einer Dokumentation “Tabu Vergewaltigung”, die im Schweizer Fernsehen gezeigt worden war. Die Situation in Deutschland ist nicht anders.

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Die Gewalt in den Gerichtssälen

Wie systematisch die Glaubwürdigkeit von Frauen in den Gerichtssälen untergraben wird, davon berichtet auch die Berliner Strafrechtsanwältin Christina Clemm in ihrem, absolut zu empfehlenden, gerade erst erschienen Buch “AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt”.

Sie schreibt aus ihrer 25-jährigen Erfahrung als Anwältin die Geschichten hinter den erdrückenden Zahlen auf. Geschichten wie etwa die von Claudia S. „mit ihrem kleinen weißen Pelzjäckchen und gleichfarbigen Pudel“, die bei ihr im Wartezimmer sitzt. Claudia kommt nicht, wie es das Klischee will, aus schwierigen Verhältnissen, sondern ihre Eltern sind Lehrer und Theologin und leben ein liberales Mittelschichtsleben. Sie aber verliebt sich in Kevin, flieht aus ihrer normalen Welt und genießt das Abenteuer und sein vieles Geld. Bis Kevin zuschlägt und sie vergewaltigt. Als er ihr auch noch den Pudel wegnimmt, zeigt sie ihn an, „eigentlich aus Versehen“, denn sie weiß, dass das viel zu gefährlich ist. Was sie nicht weiß ist, welche Brutalität ihr im Gerichtssaal entgegenschlagen wird. Und das, obwohl sie am Ende gewinnt, und Kevin hinter Gitter muss.

Clemm beschreibt sachlich, leichtfüßig und auch mit Humor, wie systematisch gewaltbetroffene Frauen fertiggemacht werden. Das ist keine leichte Lektüre, aber sie ist wichtig. So wissen alle Beteiligten im Gerichtssaal, dass ihre Art zu fragen, gewalttätig ist und ziemlich sicher retraumatisiert. Nachdem sie aber vom Mythos der lügenden Frau überzeugt sind, halten sie das für richtig. Keine einzige Zahl untermauert den Verdacht, Frauen würden sich über Falschanzeigen Vorteile verschaffen. Jede Studie zeigt, dass in Sachen Sexualstrafrecht genauso viel gelogen wird wie im Steuerrecht, nämlich wenig. Und wie schmerzhaft, teuer und unsicher der Weg ist, hat frau sich einmal für den Rechtsweg entschieden, ist vielfach belegt. Dennoch kümmert dies die Verantwortlichen bislang kaum.

Feminismus mit Popsternchen

Viele finden dieser Tage, dass der Feminismus im Aufwind ist. Ja, Feminismus hat ein paar Popsternchen bekommen. Gleichzeitig nimmt die Kritik an der andauernden und strukturellen Gewalt zu. Wir reden neuerdings über Femizide, darüber, dass in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex)Partner ermordet wird, dass Gerichte dies aber in der Regel nur als Todschlag, nicht als Mord ahnden, zumindest wenn es sich um christlich sozialisierte bzw. weiße Täter handelt. Wir reden neuerdings auch über die Gewalt gegen Frauen im Kreissaal und empören uns über die Ignoranz gegenüber digitalem Hass und die endlose Unterfinanzierung von Frauenhäusern. Und genau in dieser Verbindung liegt die Chance: Erst wenn der kleine feministische Glamour mit den Geschichten der systematischen Gewalt gegen Frauen verbunden wird, dann kann die ganz normale toxische Männlichkeit überwunden werden. Und um nichts Anderes geht es.