Interdisziplinäre Tagung in Heidelberg am 15. Juli 2022

Im Jahr 2022 feiern wir in Deutschland ein für Juristinnen zentrales Jubiläum. Mit dem „Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen in der Rechtspflege vom 11. Juli 1922" (Reichsgesetzblatt 1922 I, S. 573) erhielten Frauen Zugang zu beiden Staatsexamen und damit zu den juristischen Berufen. Seitdem ist die Zahl der Frauen in der juristischen Ausbildung und -Berufstätigkeit stetig gestiegen. An den meisten Universitäten übertrifft die Zahl der Studentinnen mittlerweile die der Studenten. Frauen haben das Recht geprägt, haben Recht gesprochen und sich sowie anderen marginalisierten Gruppen Recht erkämpft.
Das 100-jährige Jubiläum ist aber nicht nur ein Grund zum Feiern. Es soll für uns auch Anlass sein, einen Blick auf die heutigen Lebensrealitäten von Juristinnen zu werfen: Noch immer ist zum Beispiel die Zahl der Professorinnen deutlich niedriger als die der Professoren, stagniert der Frauenanteil in der Partnerriege deutscher Großkanzleien seit Jahren. In anderen juristischen Arbeitsfeldern sind Frauen hingegen bereits deutlich stärker vertreten, einige Rechtsgebiete könnten sogar als „Frauendomäne" bezeichnet werden. Im Rahmen einer Tagung für junge Wissenschaftler:innen, veranstaltet von der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, möchten wir herausarbeiten: Wie stellte sich der Weg zu der Zulassung von Frauen zu juristischen Berufen dar? Was wurde in den letzten 100 Jahren erreicht – was aber auch nicht? Welche Ziele können und sollen noch erreicht werden?
Die Tagung soll in drei Themenkomplexe untergliedert werden, wobei die unten genannten Fragestellungen eine Orientierung zur Einordnung des gewählten Beitrags geben sollen.
Themenkomplex 1: Frauen im Recht – ein historischer Rückblick
Im ersten Themenkomplex soll herausgearbeitet werden, dass der fehlende Zugang von Frauen zu rechtssetzenden und rechtsgestaltenden Tätigkeiten nicht nur ein aktuelles Problem ist. Vielmehr ziehen sich diskriminierende Strukturen seit Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden durch eine Vielzahl von Rechtsordnungen. Mit dem Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11.07.1922 wurde scheinbar Gleichberechtigung geschaffen. Doch auch die Entwicklung zu diesem Gesetz hin und die Position der Frauen in juristischen Berufen nach Erlass des Gesetzes sind kritisch zu beleuchten. Hierzu könnten folgende Fragen relevant sein:
Welche benachteiligenden Rechtsfiguren finden sich bereits in antikrechtlichen Quellen? Inwiefern gibt es diesbezüglich rechtshistorische Kontinuitäten? Welche Frauen kämpften im Laufe der Jahrhunderte für mehr Gleichberechtigung? Wie verlief die Entwicklung der Frauenrechte, spezifisch der Zugang zu juristischen Berufen, in den verschiedenen Rechtsordnungen?
Was waren die unmittelbaren Hintergründe zu und Reaktionen auf das Gesetz vom 11.07.1922? Inwiefern setzten sich Frauenvereinigungen für die Berufszulassung ein? Wie sollte die Ausübung von Hoheitsmacht durch Frauen durch eine philosophisch-historische Argumentation verhindert werden? Wer waren die ersten Frauen im Jurastudium und in heutigen juristischen Berufen und was war ihr Hintergrund?
Wie verliefen die ersten Jahre der Berufszulassung in der Weimarer Republik? Inwiefern wurden Berufsträgerinnen im Nationalsozialismus diskriminiert und Fortschritte rückgängig gemacht? Wie war die Entwicklung von Frauen in juristischen Berufen in BRD und DDR? Welche diskriminierenden Rechtsinstitute hielten sich bis ins 20. Jahrhundert?
Und zuletzt: Hat sich eine feministische (Rechts-)Geschichtswissenschaft herausgebildet?
Themenkomplex 2: Frauen im Recht heute
Wo stehen wir nun 100 Jahre später? Im Themenblock 2 sollen aktuelle, wie zukünftige Herausforderungen beleuchtet werden. Folgende Fragen können Ausgangspunkte für Beiträge im Themenblock 2 bieten:
Wo besteht Ungleichheit weiterhin fort oder wo werden neue Ungleichheiten geschaffen? Welcher Instrumente bedarf es zur Veränderung eines bestehenden Status quo? Wie kann das Recht hierbei aktivistische und gesellschaftspolitische Vorhaben unterstützen und welche Wechselwirkungen entstehen hierbei?
Wie muss eine diskriminierungsfreie juristische Ausbildung ausgestaltet sein? Wie kann Qualitätssicherung im Rahmen von Prüfungssituationen erfolgen? Wie muss ein transparentes Prüfungssystem ausgestaltet sein? Wie kann Sexismus in der Ausbildung entgegengetreten werden? Welche Rolle spielen Vorbilder (Personen, aber auch Texte oder Vorlesungsangebote)?
Auf welche rechtlichen wie sozialen Rahmenbedingungen treffen Juristinnen heute? Welcher (arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen) Reformen oder Anreize bedarf es, um eine Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben zu erreichen? Inwiefern stehen hier klassische Geschlechterbilder entgegen: Welche Lebensmodelle werden den Regelungen zugrunde gelegt? Wie kann eine Anerkennung queerer Lebensmodelle erreicht werden? Welcher rechtlichen Reformen (bspw. des Abstammungsrechts) bedarf es hierfür? Wie kann der geschlechtsspezifischen Lohnungleichheit entgegengewirkt werden? Welche rechtlichen Instrumente können zur egalitären Verteilung von Sorgearbeit führen? Welche (rechtlichen) Mechanismen können Diskriminierung am Arbeitsplatz entgegenwirken?
Themenkomplex 3: Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungsinstrument im Geschlechterkontext
Schließlich wollen wir in einem dritten Themenblock einen rechtstheoretischen und interdisziplinären Blick auf die grundlegenden Strukturen des Rechts und ihrer Verflechtungen mit der Kategorie „Geschlecht“ werfen. Welche Rolle spielt Geschlecht und Gender im Bereich der juristischen Tätigkeit, also der Rechtssetzung, Rechtsfindung, Rechtsgestaltung und der Rechtswissenschaft? Folgende Fragestellungen könnten Eingang in diesen Themenkomplex finden:
Wer wird in den Rechtssetzungsprozess einbezogen? Gibt es Rechtsfindungs- oder –gestaltungsverfahren, die bestimmte (vermeintlich) geschlechtsspezifische Sprach- und Kommunikationsmuster zugrunde legen oder begünstigen (z.B. der sog. „Deal“, § 257c StPO; Diskussion um eine Fürsorge-Ethik)? Oder etwas breiter: Gibt es entsprechende Bezüge auch zu den „klassischen“ juristischen Tätigkeiten des Urteilens, Verteidigens, Anklagens, des Verwaltens sowie der Mediation als jüngerer juristischer Kompetenzbereich?
Auf welchen gesellschaftstheoretischen Überlegungen fußt das Grundgesetz und liegen diesen Überlegungen geschlechtsspezifische Narrative zugrunde? Inwieweit wirken sich diese Narrative in Rechtssetzung und Rechtsfindung heute (noch) aus (z.B. Geschlechterbilder und ihre Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG, Offenheit von BVerfG und Grundgesetz für gesellschaftspolitische Veränderungen im Geschlechterkontext)? Welche Rolle spielt die Kategorie „Geschlecht“ heute im Recht? Verliert die Geschlechtszugehörigkeit an Bedeutung?
Wie ist Rechtssprache (insb. Rechtstexte) im Geschlechterkontext zu bewerten? Konkret: Welchen Einfluss hat das generische Maskulinum in Rechtstexten auf die Repräsentation und Wahrnehmung der Geschlechter? (Sprachlicher Konstruktivismus von Geschlecht in Rechtstexten; Unsichtbarkeit von Frauen und queeren Menschen? Überbetonung von Männern als Straftäter?)
Die (institutionelle) Verankerung von Frauen- und Geschlechterstudien in der Rechtswissenschaft ist in Deutschland ein jüngeres Phänomen. Welchen Platz nimmt die feministische Rechtswissenschaft im rechtswissenschaftlichen Diskurs ein, welchen Beitrag kann sie leisten? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Rechtspolitik und -wissenschaft im Bereich der feministischen Analyse des Rechts? Ist eine Grenzziehung sinnvoll?
Die Tagung möchte insbesondere junge Wissenschaftler:innen adressieren und zur Teilnahme einladen. Auch studentische und interdisziplinäre Beiträge sind ausdrücklich erwünscht. Im Rahmen der Tagung sind Vorträge (circa 20 Minuten) mit anschließenden Paneldiskussionen geplant.
Auswahlverfahren
Bitte senden Sie Ihren Beitragsvorschlag (max. 500 Wörter, deutsch) bis zum 28. Februar 2022 an frau.macht.recht@jurs.uni-heidelberg.de.
Der Tagung soll eine Veröffentlichung der Vorträge in einem Tagungsband folgen. Neben den Referent:innen der Tagung sollen hierbei auch Bewerber:innen, die nicht vortragen konnten, aber ein vielversprechendes Exposé eingereicht haben, berücksichtigt werden. Wir möchten besonders Frauen zur Teilnahme ermuntern.
Ansprechpartnerinnen:
Elisabeth Dux, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für geschichtliche
Rechtswissenschaft (Prof. Dr. Christian Baldus)
Johanna Groß, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europäisches und Internationales Steuerrecht (Prof. Dr. Ekkehart Reimer)
Julia Kraft, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dekanat der Juristischen Fakultät
Rebecca Militz, Rechtsreferendarin am Landgericht Heidelberg und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Sozialrecht in Verbindung mit dem Öffentlichen Recht (Prof. Dr. Peter Axer)
Sina Ness, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Jan C. Schuhr)