Aber natürlich! Frauen, Männer und "die ganze Wahrheit"

Ihren Buchtiteln zufolge können Frauen nicht einparken, träumen von der Liebe und kaufen ständig Schuhe, während Männer beim Zuhören versagen, immer Sex wollen und lügen. Passend zum Weihnachtsfest beantworten sie sogar die drängende Frage „[w]arum Männer sich Socken wünschen und Frauen alles umtauschen“. Allan und Barbara Pease wissen Bescheid und versprechen ihren Leser_innen „die ganze Wahrheit“ über Männer und Frauen. 

zwei Puppen: Frau und Mann
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Allan und Barbara Pease versprechen "die ganze Wahrheit" über Männer und Frauen

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Ihren Buchtiteln zufolge können Frauen nicht einparken, träumen von der Liebe und kaufen ständig Schuhe, während Männer beim Zuhören versagen, immer Sex wollen und lügen. Passend zum Weihnachtsfest beantworten sie sogar die drängende Frage „[w]arum Männer sich Socken wünschen und Frauen alles umtauschen“. Allan und Barbara Pease wissen Bescheid und versprechen ihren Leser_innen „die ganze Wahrheit“ über Männer und Frauen. Und der Bedarf scheint groß: Neben den in 51 Sprachen übersetzten Bestsellern bieten die beiden Hörbücher, DVDs, Seminare und Auftritte als Redner_in an. In seinen zahlreichen Beziehungsratgebern bemüht das australische Ehepaar ein Potpourri aus ‚Humor’, ‚Wissenschaft’ und breitgetretenen Geschlechterklischees. Auch wenn sie ihre „ganz natürlichen Erklärunge[n]“ für männliches und weibliches Verhalten oft mit einem Augenzwinkern, ironisch oder ‚mit Witz’ vortragen, bleiben ihre Weisheiten ähnlich witzig wie ein Mensch, der das Versagen der Nachbarin/Cousine/Freundin an der Bohrmaschine durch ihr fehlendes Y-Chromosom/die Gene/die Hormone begründet. Thesen dieser Art finden sich jedoch leider nicht nur in populär(wissenschaftlich)en Büchern und Fernsehbeiträgen, sondern auch in Wissensmagazinen und auf den Wissenschaftsseiten seriöser Tageszeitungen.

Nicht nur Mario-Barth-Kalauer, beharrliche Geschlechterstereotypen und eigene alltagsweltliche Beobachtungen, sondern auch verschiedene wissenschaftliche Studien bescheinigen Frauen und Männern durchschnittlich (!) unterschiedliche Verhaltensweisen und Einstellungen, beispielsweise in den Bereichen Karriere, Hausarbeit, Schönheitshandeln, Gesundheit, Fürsorge etc. Es ist jedoch wichtig zu unterscheiden zwischen der möglicherweise wissenschaftlich korrekten Feststellung solcher Differenzen (die auch nicht per se ‚Fakten’ liefert, sondern von methodischem Vorgehen und statistischer Auswertung abhängt) und deren Erklärung: So lässt sich etwa aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteiteilung (Männer vorwiegend Lohnarbeit, Frauen vorwiegend unbezahlte Haus- und Fürsorgearbeit) keineswegs schließen, dass dies eine ‚natürliche’, den ‚von Natur aus’ unterschiedlich verteilten Fähigkeiten von Männern und Frauen entsprechende und damit richtige Ordnung ist. Auf diese Folgerung laufen jedoch viele Studien bzw. deren populärwissenschaftliche Aufbereitungen hinaus, denn die ach so unterschiedlichen Verhaltensweisen werden „als ein dem Menschen bzw. seinen Genen inhärentes Erbe seiner Vergangenheit inszeniert, – als eine universelle, unverrückbare Konstante“ (1). Die Journalistin Bettina Weber beschreibt es in einem kritischen Artikel folgendermaßen: Durch die Welle von Publikationen zum Thema Geschlechterdifferenz

„nahm die Leserschaft befriedigt zur Kenntnis, dass es nur logisch, weil eben biologisch bedingt sei, wenn Frauen schlechter in Naturwissenschaften und Männer weniger kommunikativ seien oder wenn Frauen zu Hause blieben und Männer Karriere machten. Simon Baron-Cohen (2) formulierte das so: «Das weibliche Gehirn ist dafür gemacht, Mitgefühl zu empfinden, das männliche dagegen, um Dinge zu verstehen und Systeme zu bilden.» Womit wissenschaftlich verbrämt nichts anderes gesagt wird als: Männer denken, Frauen fühlen. Die Botschaft ist unmissverständlich: Sorry Ladys, aber für gewisse Dinge taugt ihr einfach nicht.“ (3)

Ähnlich deutlich äußert sich der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der 2007 im Magazin SZ Wissen „[a]uf die kritische Nachfrage, ob sich Frauen und Männer die Erziehungs- und Erwerbsarbeit nicht teilen könnten“ (4) antwortet:

„Nein, Männer verlieren zu schnell das Interesse, wenn sie mit Kindern spielen. Frauen haben viele Millionen Faserverbindungen mehr zwischen den Hemisphären des Gehirns und damit auch zwischen Regionen, die emotionale und rationale Aufgaben wahrnehmen. Bei Männern wird das eher getrennt abgerufen, mal ganz rational und gefühlsmäßig kaum ansprechbar, mal völlig emotional, da versagt dann der Verstand. Pflegende, soziale Aufgaben erledigen Frauen daher wesentlich besser. Man müsste bei uns nur mehr Anerkennung schaffen für diese Aufgaben.“ (5)

Eine solche Naturalisierung, also ‚Natürlich-Machung’ gesellschaftlicher Phänomene wie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung enthebt diese aus ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext und beraubt sie damit ihrer Kontingenz und Veränderbarkeit. Männer und Frauen scheinen also durch ihre Biologie zu unterschiedlichem Verhalten determiniert zu sein. Die Naturalisierung ist immer auch eine Strategie der Entpolitisierung: Wenn das Soziale zur Natur erklärt wird, verliert es das ihm innewohnende Konfliktpotential. Gegen ‚natürliche Zustände’ anzukämpfen ist zwecklos. Rechtfertigen lassen sich so nicht nur vom Geschlecht abhängige Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse, sondern ebenso die ethnische oder Klassenhierarchie einer Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund sind wissenschaftliche und journalistische Redlichkeit und eine kritischen Grundhaltung im Umgang mit ‚objektiven, naturwissenschaftlichen Aussagen’ über bestimmte Menschengruppen von besonderer Bedeutung. Die populärwissenschaftliche Aufbereitung von Studien aus Psychologie, Verhaltensforschung und Neurowissenschaften für ein größeres Publikum ist eine Gratwanderung, die angesichts der komplexen Inhalte, der vorgegebenen Kürze des Artikels und des angestrebten Neuigkeits- oder Wahrheitswerts der Nachricht leider oftmals zu kurz greift. Statt eine kritischen Würdigung von Forschungsfragen und -ergebnissen vorzunehmen, vertrauen die meisten Autor_innen ganz auf die ‚objektive Stimme der Wissenschaft’ und die Fakten, die sie ans Tageslicht befördert. Jüngste naturwissenschaftliche Erfolgsgeschichten wie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms erhöhen den Status naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die neue Technik der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung, die sogenannte Hirn-Scans, also bunte Bilder von Gehirnaktivitätslevels liefert, stärkt ihre Glaubwürdigkeit, indem sie sie für alle Leser_innen sichtbar macht. Wie diese Bilder in die Welt kommen und auf wie vielen von Menschenhand gezogenen, mehr oder weniger willkürlichen Grenzen sie gründen, bleibt meist außen vor.
Gerade solche Fragen sind aber aus feministischer, wissenschaftskritischer Perspektive besonders interessant. Nicht nur die naturwissenschaftliche Wissensproduktion, sondern auch die dazugehörige Popularisierung ist eine genauere Untersuchung wert: Denn dort wird „ebenso wie in den Wissenschaften selber – wissenschaftliches Wissen vermittelt, rezitiert, reflektiert, funktionalisiert, erzeugt und verhandelt.“ (6) Es geht also nicht nur um Wissensvermittlung und eine gewisse Vermarktung der Naturwissenschaften, „sondern auch darum, wie umgekehrt gesellschaftliche Prozesse über die populärwissenschaftlichen Medien wissenschaftliches Arbeiten beeinflussen“ (7).
Mit diesen Wechselwirkungen setzt sich u.a. die promovierte Biologin Prof. Dr. Sigrid Schmitz auseinander. Sie lehrt und forscht in Wien im Bereich Gender Studies und hat zuvor das Kompetenzforum "Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften" an der Universität Freiburg geleitet. Zusammen mit Smilla Ebeling hat sie 2006 das Buch „Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel“ herausgegeben, auf das ich mich im Folgenden besonders stütze und das ich Interessierten zur Lektüre empfehle. Zunächst möchte ich allerdings anhand eines Beispiels aus „Warum Frauen schlecht einparken… Ganz natürliche Erklärungen für weibliche Schwächen“ zeigen, an welchen Stellen Kritik ansetzen kann:

„Frauen und Männer sind unterschiedlich. Nicht besser oder schlechter, sondern unterschiedlich. Wissenschaftler, Anthropologen und Soziobiologen wissen das seit Jahren. In der heutigen Gesellschaft will man jedoch mit aller Macht daran glauben, daß Frauen und Männer genau die gleichen Fähigkeiten, Talente und Potentiale haben, und das ironischerweise zu einem Zeitpunkt, da Wissenschaftler die ersten unwiderlegbaren Beweise dafür gefunden haben, daß genau das Gegenteil der Fall ist.“ (8)

In diesem Statement stecken vier verschiedene Elemente, die eine nähere Betrachtung wert sind: 1. Der wissenschaftliche, unwiderlegbare Beweis, dass 2. eine fundamentale Geschlechterdifferenz besteht, die 3. natürlich, das heißt ursprünglich und biologisch gegeben ist, sodass 4. die hieraus resultierenden Fähigkeiten und Tätigkeiten der Geschlechter komplementär (aber eventuell gleichwertig) sind.

  1. Der wissenschaftliche, unwiderlegbare Beweis
    Das Vertrauen in die Naturwissenschaft und ihre Fähigkeit, reine Fakten hervorzubringen ist unter den Anhängern einer biologisch begründeten Geschlechterdifferenz ungebrochen. Schon sprachlich lassen sie keinen Zweifel an der Objektivität von Forscher_innen und Ergebnissen, denn ‚unwiderlegbare Beweise’ sprechen für sich. Nur auf dieser Grundlage können Pease/Pease wie im obigen Zitat behaupten zu wissen, während ihre Kritiker glauben. Schon die Verwendung „einer deterministischen Argumentationslogik und Sprache («erwiesen ist», «klar ist») statt probabilistischer Sprache («wahrscheinlich», «möglicherweise», etc.)“ (9) folgt mehr der medialen Logik größtmöglicher Aufmerksamkeit als einem Anspruch an wissenschaftliche Redlichkeit. Auch durch beständige Wiederholung lassen sich der Wahrheitswert bestimmter Theorien und ihre „gesellschaftliche Wirkmacht“ (10) immens steigern. In vielen Popularisierungen garantiert allein die Referenz an die Naturwissenschaft (oftmals dargestellt als ‚die einzig wahre Wissenschaft’) die Glaubwürdigkeit der Aussagen; nach Verweisen auf die Primärquellen sucht der/die Leser_in oft vergebens (11). Notfalls werden die entsprechenden Daten dann auch einfach erfunden, wie im Falle der „«Gehirn-Scans von mehr als einer Million Mädchen und Jungen», die nachweislich nie erhoben wurden“ (12)
     
  2. Eine fundamentale Geschlechterdifferenz besteht
    Nicht nur Übertreibungen und die Eindeutigkeit suggerierende Sprache sind wenig wissenschaftlich. Die Vertreter_innen einer fundamentalen Geschlechterdifferenz vernachlässigen zumeist ebenso die Tatsache, dass Biolog_innen, Verhaltensforscher_innen und Psycholog_innen nicht in einem luftleeren Raum denken und forschen, sondern dies als Teil einer Gesellschaft tun, in der bestimmte Schubladen, Rollenzuschreibungen und Erwartungen existieren. Anstatt die „Geschlossenheit der wissenschaftlichen Systeme“ (13) vorauszusetzen, müssen im Gegenteil gerade die Wechselwirkungen und Verschränkungen von Wissenschaft und Gesellschaft und damit auch die gesellschaftlich konstruierten Kategorien herausgestellt werden, auf deren Grundlage jede Forschung betrieben wird. Auch im Umgang mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen gelten daher

    „generelle wissenschaftskritische Aspekte: 1. Fakten sind immer Theorie geladen und dies beeinflusst die jeweiligen Interpretationen, 2. Theorien sind immer Wert geladen und die Werte folgen dem modernen heteronormativen Wertesystem, also der grundlegenden Vorstellung hierarchischer Geschlechter- und Familienverhältnisse. 3. Werte sind historisch entwickelt (z. B. die bürgerliche Kleinfamilie als Zentrum der Gesellschaft) und spiegeln die Geschlechterstereotype ihrer Zeit und Kultur wieder.“ (14)

    Die Brille der gesellschaftlichen Prägung sitzt auch Naturwissenschaftler_innen fest auf der Nase und lässt sie ihre Untersuchungsgegenstände dementsprechend wahrnehmen und mit ganz bestimmten, anschlussfähigen Begriffen und Bildern beschreiben. So illustriert die Untersuchung von Metaphern, wie sie etwa in einer populärwissenschaftlichen Beschreibung des menschlichen Befruchtungsvorgangs (15) und in verschiedenen evolutionsbiologischen Fortpflanzungstheorien (16) verwendet werden, wie stark die Darstellung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Themen anknüpft an gesellschaftlich geteilte Vorstellungen von typisch männlichen und typisch weiblichen Verhaltensweisen und Eigenschaften. Hier kann folglich nicht von einer ‚rein objektiven’ Rekonstruktion biologischer Prozesse gesprochen werden.

    Problematisch sind darüber hinaus auch die häufigen Übertragungen von Tier zu Mensch sowie grobe Verallgemeinerungen, die „unreflektiert über die Historie, die Kultur- und Evolutionsgeschichte des Menschen hinweg gezogen [werden] mit Aussagen wie «schon vor tausend Jahren», «seit der Urzeit des Menschen»“ (17). Neben der Verquickung von Gesellschaft und Wissenschaft werden die ‚objektiven Aussagen’ über die Geschlechterdifferenz auch durch methodische und statistische Fehlerquellen problematisch, mit denen sich wohl nicht nur Soziologiestudent_innen schon zu Studienbeginn auseinandersetzen. Die Bildung von Kategorien und die Setzung von Grenzwerten haben ebenso wie die Art der Berechnung einen Einfluss auf das Ergebnis, insbesondere, wenn als Ergebnis eine Geschlechterdifferenz bereits antizipiert wird. So erläutert Schmitz beispielhaft für die Hirnforschung,

    „dass eine ganze Reihe von Vorannahmen nicht benannt werden, derer es aber bedarf, um nach Geschlechter- (und anderen) Differenzen überhaupt zu suchen. Erstens muss eine binäre Gruppierung festgelegt werden, die eine eindeutige Trennlinie aufweist. Zweitens muss postuliert werden, dass die beiden Gruppen diesseits und jenseits der Trennlinie eindeutige Unterschiede im Verhalten aufweisen. Drittens muss vorausgesetzt werden, dass in der biologischen Materie des Gehirns ebenso klar abgrenzbare Unterschiede in Arealgrößen, Kortexdichten oder Aktivierungsnetzen vorliegen, die viertens messbar sein müssen. Fünftens muss von einem direkten Zusammenhang zwischen Hirndifferenzen und Verhaltensunterschieden ausgegangen werden.“ (18)

    Schließlich müssen Wissenschaftler_innen und/oder Journalist_innen aus den zahlreichen, oftmals widersprüchlichen Daten eine hinreichend plausible Aussage konstruieren, um Aufmerksamkeit zu erregen und Gelder für weitere Forschungen oder einen prominenten Platz in der Zeitung zu erreichen. Diese Strategie der Homogenisierung durch Reduktion und Vereinfachung verfälscht wissenschaftliche Ergebnisse der Verständlichkeit und zumeist auch dem Verlangen nach einfachen Thesen zuliebe. (19) Angesichts der genannten Probleme ist es daher zweifelhaft, ob die behauptete fundamentale Geschlechterdifferenz überhaupt besteht.
     

  3. Die fundamentale Geschlechterdifferenz ist natürlich, das heißt ursprünglich und biologisch gegeben
    Fraglich ist darüber hinaus erst recht, ob (vermeintlich) bestehende Unterschiede zwischen Männern und Frauen genetisch bedingt und ‚von Geburt an’ (wie Baron-Cohen behauptet) gegeben sind. Es gilt also, jenseits der zunehmend veralteten Frontstellung nature vs. nurture „die theoretischen Konzepte selber zu hinterfragen, mit Hilfe derer die Befunde interpretiert werden“20. Deterministische Konzepte, die sich auf Gene, Hormone und die Evolution – und damit auf nature – berufen, werden herausgefordert durch neuere Forschungen zur Hirnplastizität. Die Biologin Schmitz beschreibt deren gegensätzliche Vorannahmen folgendermaßen:

    „Deterministische Konzepte heben genetische und hormonelle Ursachen für Unterschiede in Hirnstruktur und Arbeitsweise hervor. Sie gehen davon aus, dass die biologischen Voraussetzungen im Gehirn mehr oder weniger festgelegt sind und im Folgenden die Prozesse der Informationsverarbeitung, des Denkens und des Handelns bestimmen. Plastizitätskonzepte verstehen die Entwicklung von Hirnstrukturen und Hirnfunktionen dagegen stärker als Ergebnis der individuellen Erfahrung. Das Verhalten, das Denken und die Verarbeitung von Informationen formen erst die Nervennetzwerke im Gehirn.  Die Materie Gehirn ist dann ebenso Resultat wie Ursache von Verhalten und Denken.“ (21)

    Dementsprechend stellt die deterministische Vorstellung von genetisch vorherbestimmten Geschlechterunterschieden in Fähigkeiten und Interessen keine Wahrheit dar, wie nicht nur Pease und Pease suggerieren, sondern muss als eine Theorie unter vielen verstanden werden, die zudem auf Grund aktueller Forschung zunehmend in die Defensive gerät.
     

  4. Die hieraus resultierenden Fähigkeiten und Tätigkeiten der Geschlechter sind komplementär (aber eventuell gleichwertig)
    „Nicht besser oder schlechter, sondern unterschiedlich“ (22). Mit diesem Statement betont das Ehepaar Pease die angebliche Gleichwertigkeit und Komplementarität der gegensätzlichen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen und Einstellungen. Beide Geschlechter sind mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Tätigkeiten (Analyse und Emotion bzw. Lohnarbeit und unbezahlte Fürsorge/Hausarbeit) gleich wichtig für den Fortbestand der Gesellschaft und sollen sich ihrer ‚Natur’ entsprechend entfalten und ergänzen. Einer solchen Vorstellung von gegengeschlechtlicher Komplementarität zufolge ist allein das arbeitsteilige heterosexuelle Paar beziehungsweise die daraus entstehende Familie die wahrhaft vollkommene Daseinsform.

    Des Weiteren bleibt die Tatsache, dass Gleichwertigkeit sich derzeit ‚natürlich’ nicht auf die materielle Situation von Männern und Frauen bezieht (vgl. etwa die geschlechtsspezifische Lohnlücke oder die durchschnittlichen Rentenbezüge von Männern und Frauen), im Peaseschen Universum vernachlässigbar. Denn auch in Sachen finanzieller Absicherung soll wohl das Prinzip der Komplementarität (auf gut deutsch Abhängigkeit) gelten. Frauen wollen, ihrem sozialen und selbstlosen Wesen entsprechend, ja gar kein Geld, sondern, wie es auch Eibl-Eibesfeldt im obigen Zitat erklärt, „Anerkennung“. Ob die in Form eines Schulterklopfens oder doch als Blumenstrauß am Muttertag daherkommen soll, bleibt offen.

    Was letztlich ein moderner Sexismus der ‚biologischen Tatsachen’ ist, kommt betont freundlich, gar fast anti-sexistisch daher:

    „Er will die Frauen nicht an den Rand der Gesellschaft drängen, sondern sie gemäß ihrer Fähigkeiten fördern und ihnen so helfen, ihren natürlichen Ort einzunehmen. Es heißt nicht länger: «Frauen an den Herd! » – vielmehr hat es die Form des neidlosen Zugeständnisses bekommen, dass Frauen am Herd einfach besser sind als Männer.“ (23)

    Den historischen Kontext der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Begriffe wie Herrschaft oder Macht kann man mit einem solchen biologischen Erklärungsmodell getrost verabschieden.

    „Im modernen Sexismus ist die benachteiligte Stellung von Frauen in dieser Gesellschaft weder Folge göttlicher Ordnung noch himmelschreiender Ungerechtigkeit. Die Frau hat vielmehr durch das Besetzen von Berufen und privaten Tätigkeiten, die Sozialkompetenz und defensive Empathie verlangen, ihren natürlichen Ort gefunden - im statistischen Durchschnitt, versteht sich. Einzelne »männliche« Frauen dürfen sogar Minister werden. Freundlicher können gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen kaum vernebelt werden!“ (24)

    Naturalistische Erklärungen für Geschlechterdifferenzen sind aus wissenschaftskritischer Sicht höchst problematisch und können keinesfalls als nackte Tatsachen oder gar ‚reine Wahrheit’ verstanden werden. Trotz ihres zweifelhaften wissenschaftlichen Werts sind solche Erzählungen aber äußerst wirksam und anschlussfähig für individuelle Alltagstheorien. Aus feministischer oder allgemein emanzipatorischer Perspektive gilt es, die Naturalisierung sozialer Ungleichheit als solche kenntlich zu machen, um so einer ‚natürlichen’ Immunisierung gegenüber Kritik und politischen Forderungen entgegenzuwirken.


Fußnoten:
(1) Maier 2009.
(2) Simon Baron-Cohen, Psychologe und Autor des Buchs „Vom ersten Tag an anders“.
(3) Weber 2011.
(4) Maier 2007.
(5) SZ Wissen 14/07, zitiert nach Maier 2007.
(6) Schmitz/Schmieder 2006, 363.
(7) Ebd.
(8) Pease/Pease 2002a, 9, Buchrücken.
(9) Schmitz/Schmieder 2006, 371.
(10) Ebd.
(11) Ebd. 370f.
(12) Pease/Pease 2002b, 166, zitiert nach Schmitz/Schmieder 2006, 371.
(13) Schmitz/Schmieder 2006, 364.
(14) Schmitz 2006 ,197f.
(15) Schmitz/Schmieder 2006, 372-275.
(16) Ebeling 2006.
(17) Schmitz/Schmieder 2006, 371.
(18) Schmitz 2006b, 215.
(19) Schmitz/Schmieder 2006, 371.
(20) Schmitz 2006b, 212.
(21) Ebd.
(22) Pease/Pease 2002a, 9.
(23) Zunke 2004.
(24) Ebd.

Verwendete Literatur:

  • Ebeling, Smilla (2006): Amazonen, Jungfernzeugung, Pseudomännchen und ein feministisches Paradies.
    Metaphern in evolutionsbiologischen Fortpflanzungstheorien. In: Schmitz/Ebeling, S. 75-94.
  • Maier, Tanja (2009): Auf der Suche nach dem großen Unterschied. Geschlechterstereotypen in populären Wissensmagazinen. http://www.medienheft.ch/kritik/bibliothek/k09_MaierTanja_01.html (zuletzt aufgerufen am: 01.05.11).
  • Pease, Allan/Pease, Barbara (2002a): Warum Frauen schlecht einparken… Ganz natürliche Erklärungen für weibliche Schwächen. München: Ullstein.
  • Pease, Allan/Pease, Barbara (2002b): Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. Berlin: Ullstein.
  • Schmitz, Sigrid (2006a): Jägerinnen und Sammler. Evolutionsgeschichten zur Menschwerdung. In: Schmitz/Ebeling, S. 189-210.
  • Schmitz, Sigrid (2006b): Frauen- und Männergehirne. Mythos oder Wirklichkeit? In: Schmitz/Ebeling, S. 211-234.
  • Schmitz, Sigrid/Ebeling, Smilla (Hrsg.) (2006): Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Schmitz, Sigrid/Schmieder, Christian (2006): Popularisierungen. Zwischen Naturwissenschaften, Medien und Gesellschaft. In: Schmitz/Ebeling, S. 363-378.
  • Weber, Bettina (2011): Mann und Frau ticken gar nicht so verschieden. Tagesanzeiger online 17.02.2011. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Mann-und-Frau-ticken-gar-nicht-so-verschieden/story/12499015 (zuletzt aufgerufen am: 08.05.2011).
  • Zunke, Christine (2004): Falsche Anthropologie der Differenz - Biologismus unter dem Label von Nicht-Sexismus. Forum Wissenschaft 4. http://www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/97753.html (zuletzt aufgerufen am: 11.05.2011).

Zum Weiterlesen:

  • Fausto-Sterling, Anne (2000): Sexing the brain. How biologists make a difference. In: Dies.: Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books. S. 115-145.
  • Fine, Cordelia (2010): Delusions of Gender. The Real Science Behind Sex Differences. London: Icon.
  • Jordan-Young, Rebecca M. (2010): Brain Storm: The Flaws in the Science of Sex Differences. Harvard: Harvard University Press.