Körper und Geschlecht

Prof. Dr. Anke Abraham
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Prof. Dr. Anke Abraham

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1. Einleitung

2. Geschlecht, Geschlechternormen und Körpernormen

3. Modelle von ‚Männlichkeiten’

4. Körperpraxen von Frauen – oder: Von der Gefahr, sich bei der ‚Bearbeitung’ des Körpers zu verpassen …

5. Der komplizierte Prozess der ‚Mannwerdung’

6. Der ‚Männerbund’ als Halt – und Falle

7. Der ‚wunde Punkt’ männlicher Entwicklung

8. Körperumgangsweisen und die Emanzipation des Mannes im Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen

9. Literatur

 


Ich als ‚Frau’ – oder strukturalistischer bzw. konstruktivistischer gesprochen: ich als in der Existenzweise ‚Frau’ lebender Mensch – erlebe es als eine ehrenvolle Aufgabe und auch als eine reizvolle Herausforderung, das Thema „Körper“ bewusst im Hinblick auf die Frage anzusehen, welche Bedeutung der Körper für Jungen und für Männer hat oder haben könnte. In der Vorbereitung zu diesem Vortrag wurde mir deutlich, wie stark mich – oft auch ohne es zu bemerken oder zu reflektieren – bisher eine weibliche Sicht auf den Körper und Fragen des weiblichen Körpers geleitet und beschäftigt haben, und wie wenig ich, im Vergleich dazu, vom männlichen Körper weiß; noch weniger weiß ich vom Befinden von Männern in ihrem Körper und von dem Verhältnis, das Männer zu ihrem Körper haben. Aber damit stehe ich vermutlich nicht so ganz alleine – denn, so nehme ich es wahr, Männer machen sich ja selbst erst allmählich auf den Weg, sich in diesem ‚ihrem’ Körper zu entdecken und tradierte „Männer-Körperbilder“ sowie geforderte oder nahe gelegte und praktizierte Umgangsweisen mit dem eigenen Körper kritisch zu befragen.

Ich halte diese Selbsterkundung und Selbstbefragung, wie sie auch im Rahmen dieser Tagung angedacht ist und möglich wird, für ausgesprochen aussichtsreich, sinnvoll und notwendig – aussichtsreich, weil sie den Blick schärft für die eigene Befindlichkeit sowie für gelebte und nicht gelebte Daseinsmöglichkeiten; sinnvoll, weil sie mit der Referenz auf den Körper den Kontakt zu einer ganz wesentlichen Quelle des Lebens herstellt, und notwendig, weil die Art und Weise, wie Männer und Frauen mit ihrem eigenen Körper und mit dem Körper anderer Menschen umgehen, zentral die Qualität menschlichen Lebens und letztlich die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Existenz überhaupt berührt. Was dem Körper geschieht, geschieht dem Leben – und damit selbstverständlich auch dem Leben von Jungen und Männern.

Geschlecht, Geschlechternormen und Körpernormen
Wenn anlässlich des Themas „der Körper des Mannes“ meine Position als Frau und mein Frausein in Schwingung gerät und sich ins Bewusstsein drängt, so verweist das auf einen sehr zentralen und keinesfalls banalen strukturellen Zusammenhang im Kontext des Phäno-mens ‚Geschlecht’: nämlich auf die in unserer Kultur etablierte und sozial wie psychisch tief verankerte Gegenüberstellung von Mann und Frau. Diese Gegenüberstellung zeigt sich als Dichotomisierung im Sinne der Etablierung von zwei und nur zwei ‚Geschlechtern’ und sie zeigt sich als unterscheidende und polarisierende Zuschreibung von Verhaltensweisen oder gar Eigenschaften, die als ‚männlich’ und ‚weiblich’ angesehen bzw. etikettiert werden.
Ein großes Konfliktfeld entsteht dadurch, dass hoch umstritten ist, ob und wenn ja, welche dieser Verhaltensweisen und Eigenschaften als ‚naturgegeben’ und biologisch oder gene-tisch begründet oder als sozial erzeugt und durch Lernprozesse erworben anzusehen sind. Die Umweltsensibilität von Genen und die ausgesprochen hohe Plastizität des menschlichen Gehirns, das sich in Abhängigkeit von bereitgestellten Erfahrungsmöglichkeiten und den persönlichen Erfahrungen entwickelt, sprechen allerdings immer deutlicher dafür, dass die sozialen Rahmenbedingungen, die je gegebenen Lernkulturen und vor allem auch die ge-schlechterbezogenen Erwartungen und Stereotypisierungen einen überaus großen Einfluss darauf haben, wie sich Menschen, die qua ihrer genitalen Ausstattung als Jungen oder als Mädchen bezeichnet werden, zu ‚Männern’ respektive zu ‚Frauen’ im Sinne gängiger Norma-tive entwickeln.

Feministische Analysen haben gezeigt und kritisiert, dass im androzentrischen Weltbild das ‚Eine’, das mit Männlichkeit und dem Mann assoziiert wird, nur durch die Setzung des ‚Anderen’ oder etwas ‚Anderem’, das mit Weiblichkeit und der Frau assoziiert und zugleich abgewertet wird, konturiert werden konnte und kann. Das in seiner Grundstruktur bipolar und hierarchisch angelegte Phänomen ‚Geschlecht’ lässt sich, auch jenseits feministischer Sichten, weiter ausdifferenzieren, wenn man die Elemente „Macht“ und „Norm“ hinzunimmt, die ihrerseits in sich strukturiert sind und strukturierend auf die inhaltliche Ausgestaltung von ‚Geschlecht’ wirken. Da Normative und Machtkonstellationen nicht nur an der Hervor-bringung von ‚Geschlecht’, sondern auch an der kulturellen Verankerung einer spezifischen Geschlechterordnung einen gewichtigen Anteil tragen, sei es erlaubt, zu diesen Phäno-menen etwas ausführlicher zu werden. Für unseren Denkzusammenhang scheint es mir dabei bedeutsam, die Art und Weise zu untersuchen, wie Geschlechternormen und Körper-normen zueinander stehen. Judith Butler hat zu dieser Frage gewinnbringende Theorieange-bote entwickelt, die ich hier ein Stück weit nutzen möchte: Butler geht in ihrer Aufsatzsammlung „Die Macht der Geschlechternormen“ (Butler 2009) davon aus, dass „Gender“ der Apparat ist, durch den die soziale Produktion und Normali-sierung des Männlichen und Weiblichen vonstatten geht. Dieser Apparat wird konstituiert und aufrechterhalten von Normen, die in die Praxis durchgestellt werden. Normen sind dabei nicht Regeln oder Gesetze, sondern ein normalisierender Deutungsrahmen von Wirklichkeit, der Intelligibilität erzeugt. An diesem Punkt – am Punkt der Herstellung von Intelligibilität, was übersetzt werden kann mit „Lebensfähigkeit“ oder einem „lebenswerten Leben“ – setzt für Butler die Macht an: Normen gewinnen Macht, weil und indem sie den Rahmen ab-stecken, der vorzeichnet wie ein lebenswertes Leben zu gestalten und zu führen ist.

Butler hat in diesem Sinne in bestechender Weise aufgezeigt, welche destruktiven Wir-kungen restriktive Geschlechternormen und deren zwingende Durchsetzung für die Entwick-lung der Person und das Führen eines lebenswerten Lebens haben können – und zwar gerade dadurch, dass sie so eng mit dem Körper und darüber so eng mit unseren Em-pfindungen und unseren Gefühlen verbunden sind: Die Norm, sich eindeutig einem der beiden (sozial konstruierten) Geschlechter – Frau oder Mann – zugehörig fühlen zu sollen, die Norm, einen zu diesem Geschlecht ‚passenden’ Körper haben zu sollen (und ihn z.B. bei Nicht-Vorliegen aktiv handelnd oder operativ und gewaltsam im Sinne der Norm verein-deutigen lassen zu müssen oder zu wollen), die Norm, zum vorliegenden Körper ein ‚passendes’ geschlechtliches Ich-Gefühl entwickeln zu sollen und die Norm, ein zu Körper und Geschlecht ‚passendes’ heterosexuelles Begehren entfalten zu sollen, kann für Men-schen, die diesen Normen nicht entsprechen können oder wollen zum Einfallstor ausge-setzten Leidens werden, das bis zum Verlust von Lebenssinn und dem Gefühl der Auslö-schung des Ichs führen kann.
Geschlechternormen und die damit eng verbundenen Körpernormen, müssen vor diesem Hintergrund als eine spezifische Begrenzung von Daseinsmöglichkeiten aufgefasst werden, weil sie uns zu der Entfaltung einer bestimmten Seinsweise und einer bestimmten Auslegung des Ichs nötigen. Für die Körper von Menschen, die als Frauen und Männer existieren bzw. existieren sollen, gibt es leitende Normative, die regulieren, wie ‚man’ oder ‚frau’ sich so inszeniert und darstellt, dass sie in spezifischen sozialen Situationen als Mann oder als Frau erkannt und anerkannt werden. So wird etwa von Männern erwartet, dass sie ausdauernd und robust sind, dass sie einen ‚gestählten’, Schmerz tolerierenden Körper entwickeln, dass sie Muskeln aufbauen oder dass sie eine natürliche Überlegenheit, Souveränität und Autorität ausstrahlen, die ihrer hierarchisch über der Frau stehenden Position gerecht wird und in der sie sich als ‚Macher’ und ‚Lenker’ bestätigen – in jedem Falle aber alles ver-meiden, was irgendwie als ‚weiblich’ oder gar ‚weibisch’ gelten könnte.

Diese Normative regulieren nicht nur die Darstellung nach außen, sondern haben auch Effekte nach ‚innen’: sie erzeugen eine spezifische Sicht auf den eigenen Körper und das eigene Ich und sie provozieren bestimmte Formen des Selbsterlebens und des Fühlens.

Vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten gehe ich davon aus, dass alle Praktiken des alltäglichen Umgangs mit dem Körper und die darin eingelagerten körperbezogenen Haltun-gen, Wahrnehmungen und Empfindungen in einem gesellschaftlichen Raum erfunden, angeeignet, aufgeführt, verstetigt und variiert werden, der von spezifischen Machtkonstella-tionen durchzogen ist. Machtkonstellationen – so ließe sich in gewisser Nähe zur Macht-analyse Michel Foucaults formulieren – haben viele Formen und Akteure und sie bedingen bzw. erzeugen, welche und wessen Reden und Handlungen in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Einfluss gewinnen, sich durchsetzen und Wirkungen entfalten. Macht zeigt sich so auch weniger in den Absichten als vielmehr in den Effekten, die durch spezifische soziale Konfigurationen hervorgebracht werden. Ganz in diesem Sinne sollte es bei der Analyse des Zusammenhangs von Geschlecht und Körperlichkeit auch darum gehen, manifeste Handlungen und Erlebensweisen auf die impliziten und im Verborgenen lie-genden machtvollen und wirkmächtigen Konstellationen hin zu befragen, die die beschrie-benen Effekte des Handelns und Erlebens allererst erzeugen.
Solche im Verborgenen liegenden Strukturen und Konstellationen sind vor allem auch dort anzunehmen, wo es um die individuelle Aneignung von Geschlecht geht. Im Falle der Gewinnung einer geschlechtlichen Identität sind für Männer und Frauen bzw. für Jungen und Mädchen soziale und personalisierte Modelle sehr entscheidend – etwa Vorbilder oder Idole, die als schätzenswert angesehen werden und die sich einer gewissen allgemeinen sozialen Anerkennung gewiss sein können. Hier kommt es entscheidend darauf an, in welchen Kon-texten junge Menschen aufwachsen und wie rigide oder tolerant oder experimentierfreudig hier mit Geschlechtsrollenbildern und den entsprechenden körperlichen Erscheinungs- und Ausdrucksformen umgegangen wird.

Modelle von ‚Männlichkeiten’
Halten wir fest: Auch der Körper von Jungen und Männern unterliegt spezifischen normativen Erwartungen, die in einem je gegebenen kulturellen Raum – etwa in unterschiedlichen Jugendkulturen oder unterschiedlichen beruflichen Feldern, im Sport, beim Militär, in der Partnerschaft oder im Rahmen der Sexualität – auf je besondere Weise ausgestaltet, ermög-licht, eingeklagt und sanktioniert werden. Mancherorts und situativ wechselnd halten sich hartnäckig tradierte Männlichkeitserwartungen, die mit ‚martialischen’ oder gewaltaffinen Körperphantasien gekoppelt werden, anderenorts werden diese Bilder durchlässiger, entste-hen Freiräume der Artikulation und Erprobung neuer Männlichkeiten und der Reintegration unterdrückter oder abgespaltener Persönlichkeitsanteile, und wieder anderenorts entsteht die Chance, dass Männer („endlich“, möchte ich sagen) beginnen können, sich in ihrer tat-sächlichen Fragilität und Verletzlichkeit, die sie immer auch auszeichnet, zu erkennen und anzuerkennen. Auf dem Prüfstand und zur Diskussion steht in diesem Kontext für mich die Frage, wie es gelingen kann, dass Jungen und Männer die Chance erhalten, solche neuen Formen von Männlichkeit zu kultivieren, die die bisherigen Einseitigkeiten, Restriktionen und Beschneidungen aufbrechen und die zu einem reiferen, tieferen, umfassenderen und insge-samt emanzipierterem Mannsein führen können.

Hier, in der Anerkennung der eigenen Vulnerabilität, liegt in meinen Augen eine ganz zen-trale Zukunftsaufgabe, die – wenn sie gelingt – nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen und der Geschlechterbeziehung sowie unserer Kultur insgesamt ausgesprochen zum Vorteil gereichen könnte. Auf diesen gewichtigen Aspekt werde ich abschließend noch einmal aus einem spezifischen emanzipatorischen Blickwinkel eingehen.

Mein oben angedeutetes marginales Wissen über den männlichen Körper und über die Befindlichkeiten von Männern angesichts ihrer Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit, gebietet es an dieser Stelle jedoch, behutsam vorzugehen. Denn sicherlich wäre es anmaßend und wenig hilfreich, sich als Frau in den Emanzipationsprozess des Mannes einzumischen und hier Vorschläge zu unterbreiten. Was ich aber leisten kann und möchte, ist, deutlich zu machen, welche Fragen mit der Idee der persönlichen Entwicklung und mit dem Gedanken der Emanzipation verbunden sein könnten. Dazu werde ich mich von einer Spur leiten lassen, die ich im Rahmen der Erkundung des Körperumgangs von Frauen ausgemacht habe.

Körperpraxen von Frauen – oder: Von der Gefahr, sich bei der ‚Bearbeitung’ des Körpers zu verpassen …

Allgemein sind die Körperpraxen von Mädchen und Frauen inzwischen recht gut untersucht, insbesondere in den Feldern

  • Schönheitstechnologien
  • mediale Inszenierung von Weiblichkeit 
  • sportive Praxen
  • Umgangsweisen und Konflikte im Kontext der Reproduktionstechnologien sowie vor allem
  • der gesamte Bereich somatischer und psychosomatischer Störungen (Befindlich-keitsstörungen, Essstörungen, Depressionen, Traumatisierungen durch Gewalterfah-rungen etc.).

 

Im Hinblick auf jüngere Generationen sind allerdings immer wieder Aktualisierungen der Befunde angezeigt und auch die Ausdifferenzierung bezüglich unterschiedlicher sozioökono-mischer, bildungsbezogener oder ethnischer Kontexte zeigt deutlichen Forschungsbedarf. Meine Analysen beziehen sich vor allem auf die Felder sportiven und tänzerischen Engage-ments sowie auf das Schönheitshandeln und auf gesundheitsbezogenes Handeln, wobei ich selbst erhobenes biographisches Material ebenso nutze wie biographisch orientierte Sekun-därquellen. Verbunden sind die Projekte mit der Frage, welche Effekte bestimmte Körper-praxen von Frauen im Hinblick auf die persönliche Entwicklung haben können und welche emanzipatorischen Impulse die jeweiligen Praxen beinhalten. Aus diesen Denkzusammen-hängen möchte ich nun einen Fall darstellen:

Die Protagonistin ist 36 Jahre alt und als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Geschlechterforschung tätig. Ihren Körper empfindet sie bei einer Körpergröße von 1,85 m und annähernd 80 kg als defizitär. Er sei zu dick, weise zu viel Masse auf. Als sich durch Stress, ungesunde Ernährung und weitere Gewichtszunahme massive Rückenprobleme einstellen, beschließt sie, ein Fitnessstudio aufzusuchen. Ihr Wunsch ist es, die Rückenschmerzen durch Muskelaufbau zu reduzieren, aber auch, den Körper im Sinne weiblicher Körperideale zu formen: „Ich wollte, dass man Muskeln sieht, Knackarsch, das sollte alles hier besser aussehen und dafür weniger Fett, mehr Muskeln, weniger Fett“ (Sobiech 2006, 81). Und an anderer Stelle: (Ich wollte) „viel schöner aussehen in kürzester Zeit“ (a.a.O.).

Das Training empfindet sie als eine lästige Pflicht und sie quält sich durch viele Übungen an den Geräten. Für die Last und dafür, dass das alles „nicht so wirklich schön“ ist, belohnt sie sich am Abend mit „hemmungslosem Essen“ – mit dem Effekt, dass sie innerhalb des zwei-jährigen Trainings 10 Kilo zunimmt. Dem eigenen Ziel der Gewichtsreduktion und dem Abbau von Fett und Körpermasse ist sie damit nicht gerecht geworden.
Ausgesprochen interessant sind nun die Körperwahrnehmungen, von denen die Protago-nistin berichtet. Hier zeigt sich auf eine irritierende, aber auch symptomatische Weise eine doppelte Brechung der Wahrnehmung von Innen und Außen. Zu ihrem inneren Körperbild sagt sie: „Da ist so ein inneres Körperbild, da fühle ich mich ganz zart und schmächtig und zerbrechlich und schwebend (…) ja, oder so irgendwie ätherisch“.

Diese Wahrnehmung von Zerbrechlichkeit und Zartheit wird konterkariert durch die Wahr-nehmung, wie sie sich im Kontakt mit anderen fühlt und was sie meint, wie andere sie sehen könnten: „da stimmt irgendwas nicht, da bin ich zu groß, zu laut, schwitze ich zuviel, also da bin ich sehr präsent in meiner Körperlichkeit“. Im Gegensatz zu dem privaten Gefühl des Zerbrechlichen erlebt sich die Protagonistin im Kontakt mit anderen, im Außen, also nicht nur als „sehr präsent“ und in gewisser Weise dominant und Raum einnehmend, sondern als „zu“ präsent, als zu viel Raum einnehmend. Dieses Zuviel ist ihr unangenehm: „da stimmt irgendwas nicht“ für sie. Was „nicht stimmt“ ist vermutlich die Diskrepanz von gängigen Weiblichkeitserwartungen und -normativen im Sinne der Zurücknahme, des dezenten Verhaltens, des nicht öffentlichen Schwitzens einerseits und der vermuteten eigenen Erscheinung und Fülle im Raum, die diesen Normativen nicht entsprechen, andererseits. Doch damit nicht genug: Die Diskrepanz von Zartheit und ‚unweiblicher’ Präsenz im Raum erhält weitere Brechungen, indem die Protagonistin eine höchst bedeutsame Leerstelle benennt: Sie sagt von sich, dass sie den Raum, den sie in ihrer Antizipation und Unter-stellung in den Augen anderer einnimmt, von ihrem Gefühl her tatsächlich gar nicht füllt und dass sie „aber auch noch ein bisschen Platz“ braucht. Mit anderen Worten: Es bestehen deutliche Diskrepanzen und Disbalancen zwischen der phantasierten körperlichen Präsenz (wie andere mich vermutlich wahrnehmen), dem inneren Erleben dieser Präsenz (den Raum gar nicht ausfüllen, sich zart, zerbrechlich und ätherisch fühlen) und den eigentlichen und unerfüllten Bedürfnissen: „ich denke, ich brauche aber auch noch ein bisschen Platz“ (Sobiech 2006, 83).

Der männliche Protagonist, der im gleichen Beitrag vorgestellt wird, kennt solche Konflikt-lagen nicht: Er trainiert erfolgreich Muskeln auf und gewinnt durch die antrainierte Masse deutlich an Anerkennung und psychischer Stärke, die er nicht verstecken muss, sondern im Gegenteil stolz präsentieren kann. Dass auch Männer unter den Normativen, die an den männlichen Körper gestellt werden, leiden können und hier in ausgesprochen destruktive Spiralen der Selbstausbeutung geraten können, sollte nicht übersehen werden – eindrücklich hat dies zum Beispiel Mischa Kläber (Kläber 2010) in seinen Analysen zu Biographien von Kraftsportlern in Fitnessstudios und ihrer „Sucht nach dem perfekten Körper“ beschrieben. Die Erarbeitung eines Muskelkorsetts, das zum „Panzer“ werden und zur Abwehr bedroh-licher Gefühle eingesetzt werden kann, ist bereits in frühen Publikationen beschrieben worden – so etwa von Klaus Theweleit in den „Männerphantasien“ (Theweleit 1980) oder in den Untersuchungen von Ulrich Aufmuth (Aufmuth 1984) und in Selbstzeugnissen von Extrem- und Hochleistungssportlern (z.B. Hoischen 1983).

Unsere Protagonistin, die durch das Training einen geraden Rücken spürt, gerät hier in Zweifel: „dann kommt der Busen so vor“. Sie traut sich offenbar auch in diesem Fall nicht, zu ihrer Körperlichkeit zu stehen, den Busen selbstbewusst vorkommen zu lassen und den Platz einzunehmen, den sie qua ihrer körperlichen Erscheinung ausfüllen könnte und den sie gemäß ihrer Bedürfnisse auch gern ausfüllen würde. Dieses Zurücknehmen und das Nicht-ernstnehmen der eigenen Bedürfnisse scheint mir (immer noch) symptomatisch für Mädchen und Frauen, Teil ihrer Sozialisation und Teil eines machtvollen Wirkungszusammenhangs, der als gesellschaftlicher Platzanweiser fungiert. Die Ziele, die sich die Protagonistin vorge-nommen hat, nämlich an Masse zu verlieren und mit „weniger Fett“, „Knackarsch“ und einem viel besseren Aussehen in kürzester Zeit das Training beenden zu können, liegen genau auf dieser Linie: Sie bedienen Weiblichkeitsklischees, die Mädchen und Frauen mitunter eher schwächen als stärken, und sie gehen vor allem an dem vorbei, was eigentlich im Sinne persönlicher Reifung und Entwicklung bearbeitet werden müsste: Nämlich – die eigenen Platz- und Entfaltungsbedürfnisse genauer zu erkunden und falsche Zurückhaltungen aufzugeben, aber auch zu schauen, was es mit den Gefühlen der Zerbrechlichkeit auf sich hat und diese unterschiedlichen Strebungen ernst zu nehmen und selbstbewusst nach innen und nach außen auszubalancieren und zu vertreten.

Der komplizierte Prozess der ‚Mannwerdung’
Das ‚Sozialisationsschicksal’ des Mannes – so möchte ich es einmal nennen – zeichnet sich durch andere Ausgangslagen, andere Konflikte und damit auch durch andere Aufgaben-stellungen aus als das der Frau. Während Frauen kulturell eher in die Defensive gedrängt wurden (und werden) und sich aus der zugeschriebenen Position der Schwächeren, Labi-leren, Zarteren herauskämpfen und behaupten wollen, werden Jungen und Männer auf die Rolle des Stärkeren festgelegt und müssen, wollen sie als ‚richtiger’ Mann gelten, diese Rolle ausfüllen und verteidigen lernen. Mir scheint dies der schwierigere Part zu sein. Denn mit der Verpflichtung auf die Seite des ‚Winners’ werden Jungen und Männer enorm unter Druck gesetzt und sie ahnen, dass im Falle des Versagens harte Sanktionen drohen. Die Frei-räume für alternative oder multiple Entwicklungsmöglichkeiten sind daher für Jungen und Männer (immer noch) enger gesetzt als für Mädchen und Frauen – auch wenn sich Locke-rungstendenzen immer deutlicher abzeichnen, womit aber die Risiken der ‚Mannwerdung’ nicht eben kleiner werden.

Der Neurobiologe Gerald Hüther hat zu dem komplizierten Mannwerdungsprozess heute, bei dem traditionelle Orientierungen von neuen Möglichkeiten und Ansprüchen an das Mannsein überlagert werden, sehr interessante Gedanken entfaltet. Ein Aspekt seiner Überlegungen ist: Neurobiologisch ist der Junge sehr stark auf „Antrieb“ gepolt, zugleich aber auch körper-lich anfällig. Tradierte Bilder vom starken Mann und elaborierte Männerkulturen geben dem Jungen, später dem Jugendlichen und dem Mann, in dieser instabilen Lage Gewissheit und Halt – erfüllen also eine wichtige seelische Funktion; sie bedeuten aber auch Einengung und Fixierung auf bestimmte Artikulationsformen, behindern oder verhindern eine umfassende Mannwerdung und gehen nicht selten auch mit der Unterdrückung anderer einher (vgl. Hüther 2009, bes. 61 – 85).

Um die Beschaffenheit solcher Halt gebender Gerüste und deren zweischneidige bis prekäre Wirkung ein wenig anschaulicher zu machen, möchte ich exemplarisch auf das Phänomen des Männerbunds und das Feld des Sports eingehen. Diese Bereiche können als Muster-beispiele für die Herstellung und Aufrechterhaltung eines Männerbildes gelten, das eine lange Tradition besitzt und bis heute wirkmächtig klassische Erwartungen an Jungen und Männer transportiert (vgl. dazu grundlegend auch Meuser 2006).

Der ‚Männerbund’ als Halt – und Falle
Der traditionelle Sport weist mit seinen Prinzipien und Codes eine deutliche Parallele zu anderen gesellschaftlich dominanten Systemen wie Ökonomie, Wissenschaft, Technik auf. Leitend sind das Leistungsprinzip, der Wettbewerb, das Prinzip der Leistungssteigerung und Überbietung des Gegners sowie Sieg und Niederlage. Auf der Ebene des sozialen und institutionalisierten Arrangements lässt sich der Sport als eine ‚männerbündisch’ orientierte, d.h. in ihrem Kern homosoziale Kulturform begreifen – ähnlich wie die berühmten ‚Seil-schaften’ in Wirtschaft, Management, Politik und Wissenschaft. Der Sportsoziologe Michael Klein konstatiert hierzu Anfang der 1990er Jahre: „Körpertechniken, Körpersymbolik und Anforderungsprofile des dominanten und gesellschaftlich favorisierten Sports folgen einer männlichen Grammatik (…). Die sportliche Praxis vermittelt somit dem männlichen Habitus vor allem Jugendlicher symbolischen Gewinn und bestätigt die soziale Ordnung der männ-lichen Dominanz und der Randständigkeit der Frau. Gerade wenn die Frau das dominante sportive Muster wählt und akzeptiert, wird sie als Unterlegene bestätigt“ (Klein 1990, 141). Unterzieht man den Männerbund unter psychischen und tiefenpsychologischen Aspekten einer systematischen Analyse, so werden zwei Motive besonders augenfällig: das Motiv der Abspaltung und das des Todes. Beide Motive sind eng an den Körper geknüpft, wie ich im Folgenden zeigen möchte:

Die Körperkonzepte, die die Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorge-bracht hat, und die mit der Ausbildung einer Theorie des Männerbundes zusammenfallen, verdichten Utopien und Ängste gleichermaßen: die Phantasie von der Freiheit und Unan-greifbarkeit des männlichen Körpers, der strahlenden, siegreichen, allmächtigen Gestalt, die durch harte Arbeit und Askese zum ‚Fels in der Brandung’ wird – und zugleich, eng damit verbunden und bei genauerer Betrachtung das Ursprungsmotiv: die Angst vor Invasion, Vernichtung, Untergang. Eine typische Polarisierung bewegt sich so auch zwischen Reinheit und Klarheit auf der einen und der drohenden Überflutung durch ‚dunkle Substanzen’ auf der anderen Seite. Deutlich wird eine massive Angst vor Grenzverletzungen, Grenzver-wischungen, die sich zunächst und unmittelbar am Körper festmachen lassen und auch dort festgemacht werden, an der Oberfläche des Körpers, der Haut, an den Körperöffnungen, an der Linie zwischen ‚Außen’ und ‚Innen’; die Polarisierung von einem bedrohlichen, bösen Außen und einem klaren, wertvollen Innen lässt sich übergangslos erweitern zu den binären Konstruktionen von stark und schwach, fest (gefestigt) und weich (weichlich), zentral und peripher, männlich und weiblich, Mann und Frau. Die zentrale Angst der Männer kreist um das Verschlungenwerden durch ‚dunkle Fluten’, die in ihrem Kern an Weiblichkeit fest-gemacht werden, und die Abwehr des Bedrohlichen richtet sich in der Folge auf der Ebene sozialen Handelns konkret vor allem gegen Frauen, aber auch gegen alles Fremde. Mit Eva Kreisky (Kreisky 1995) könnte man sagen, dass die Kernidee des Männerbundes ein Kampfprogramm gegen existentielle Ängste ist und der Ausschluss von Frauen konstitutiv.

Folgt man psychoanalytisch orientierten Entwicklungstheorien, so wird deutlich, dass ein zentrales Thema im Rahmen der männlichen Individuation die Abgrenzung und Ablösung von der Mutter ist und dass der Erwerb einer eigenen Identität als Mann nur möglich zu sein scheint unter Abwehr weiblicher Anteile und mit Hilfe der Errichtung starrer Ich-Grenzen, die den Ausschluss alles Fremden, Anderen und vermeintlich Schwächeren bedeuten. Abgren-zung und Distanzierung, aber auch Abwertung des Anderen und Betonung der eigenen Überlegenheit sind daher zentrale psychosoziale Muster männlicher Identität.

So ist psychodynamisch zu erklären, weshalb Männer Allmachts- und Omnipotenzphanta-sien entwickeln: Die Verleugnung von Abhängigkeit und Bindung und die gewaltsame Ab-spaltung weiblicher Anteile erzeugt eine hohe Instabilität, Ungewissheit und Unsicherheit, auch Bedürftigkeit; diese Bedürftigkeit kann jedoch – nicht zuletzt durch die kulturell etablierte Fixierung auf das Starksein – nicht zugelassen werden und sie wird kompensiert durch Stärke, Härte gegen sich selbst und andere, Machtgebaren und Unangreifbarkeit. Das Militär und der Sport scheinen besonders geeignet, die Bedürfnisse nach Ordnung, Überle-genheit, Kontrolle greifbar zu machen, gerade auch deshalb, weil unmittelbar körperlich spürbar wird, wo die ‚Grenzen’ liegen, wie das ‚Ich’ zusammengehalten wird und in der Hierarchie der Auserwählten zu verorten ist und wie der Körper zum ‚Panzer’ gegen die bedrohliche ‚weibische Schwäche’ werden kann.

So wird auch verständlich, warum der Tod, die Zerstörung und Opferphantasien eine so zentrale Rolle in männlichen Inszenierungen spielen: der Opfertod ist zum einen Ausdruck der männlichen Größe, zu verstehen als Sieg der Siege über die Schwäche, und er ist zum anderen Erlösung von den beschämenden Gefühlen der Unsicherheit, des Selbstzweifels und der Anfälligkeit und damit Rückgewinnung von Autonomie und Kontrolle. „Entsprechend wird auch der ‚männliche Sport’ als eine permanente Abfolge von Prüfung und Bewährung, Heldentum und Scheitern in der Grandiosität inszeniert“ (Klein 1990, 147).

Der ‚wunde Punkt’ männlicher Entwicklung
Dieser Exkurs in klassische Tätigkeitsfelder, typische soziale Formationen und traditions-reiche Inszenierungsweisen von Körper und Geschlecht des Mannes konnte – so hoffe ich – eine Ahnung davon vermitteln, dass und wie Jungen und Männer in eine ausgesprochen prekäre Entwicklungsfalle hineingeraten können: Verpflichtet auf Stärke und verdammt zur Verleugnung der eigenen körperlichen und seelischen Verletzlichkeit, wird es ihnen ausge-sprochen schwer gemacht, ein angemessenes Verhältnis zum eigenen Können aufzubauen, eine Sensitivität für die eigene körperliche und seelische Bedürftigkeit zu entwickeln und den Mut aufzubringen, diese Bedürftigkeit – die sich z.B. in einem Bedürfnis nach Anlehnung, Halt, bedingungsloser Anerkennung und Liebe zeigen kann – auch anzuerkennen, zu artiku-lieren und in Verbundenheit mit anderen zu leben. Hier – in der Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit – liegt ein sehr gewichtiger wunder Punkt männlicher Ent-wicklung, der im Übrigen auch durch eine kritische Männerforschung immer wieder markiert wurde und wird (siehe etwa Gruen 1989, Hollstein 1993, Böhnisch/Winter 1994, Schnack/ Neutzling 1997 sowie jüngst Hüther 2009).

Sehr einfühlsam thematisiert Gerald Hüther diesen wunden Punkt, wenn er sagt: Jungen, die sich mit ihrer schwächeren Konstitution und ihrem stärkeren Antrieb immer wieder verirren oder in tradierte Rollen pressen lassen, brauchen eines am allermeisten: „Sie müssten jemanden finden, am besten eine Mutter oder einen Vater, der sie vorbehaltlos annimmt“ (Hüther 2009, 84) – und liebt. Und er fügt hinzu: „Es wird Zeit für uns, authentische und souveräne Männer zu werden. Sonst können wir weder ihnen (unseren Söhnen; d. V.) noch ihren Müttern (unseren Partnerinnen; d. V.) jemals zeigen, was es heißt, wirklich geliebt zu werden“ (a.a.O., 85).

Körperumgangsweisen und die Emanzipation des Mannes im Kontext gesell-schaftlicher Herausforderungen
Erlauben Sie mir, dass ich abschließend die Frage der Emanzipation und der Emanzipation des Mannes noch einmal aus einer übergeordneten gesellschaftspolitischen Perspektive aufgreife und sie mit der Thematik der Körperlichkeit verknüpfe:

Männer tragen einen gewichtigen Anteil an der Gestaltung von Welt und die Gestaltung von Welt ist zutiefst mit dem Körper verbunden. Wie wir kulturell und sozial mit dem Körper umgehen, was wir unserem eigenen Körper oder dem Körper eines anderen zumuten, was wir ihm entziehen, wofür wir ihn nutzen und ausnutzen, was wir ihm Gutes angedeihen lassen, wie wir ihn schwächen und schädigen, wie wir ihn technologisch aufrüsten, umbauen und manipulieren oder wie wir ihn in Akten der Gewalt zerstören und vernichten, beeinflusst zutiefst unsere Person, unsere Handlungsfähigkeit im sozialen Raum und die Zukunftsfähig-keit unserer Gesellschaft und Kultur. Daher ist es keinesfalls nebensächlich, wie Männer zu ihrem Körper stehen, wie sie mit ihm umgehen und was sie mit ihm tun und es sind keine abgedrehten „Spielwiesen“-Veranstaltungen, sondern es ist ein wichtiges politisches Zei-chen, wenn Männer beginnen, über sich, ihr Mannsein, ihr Körpersein und ihren Körperum-gang nachzudenken.

Zum Kanon des bisher dominanten und maßgeblich durch Männer gestalteten Umgangs mit Welt gehört der Gestus der Beherrschung, der Kontrolle und der Effizienzsteigerung. Dinge zu beherrschen, sie unter die eigene Kontrolle zu bekommen und sie effizienter machen zu wollen, ist nun allerdings nicht per se ein Irrweg, sondern zunächst einmal ein Vermögen und eine Lust oder Motivation, die (in der Regel) allen Menschen zu eigen ist und die es im Zuge der eigenen Entwicklung – neben anderen Qualitäten und Vermögen – auch auszubilden und zu verfeinern gilt. Destruktiv wird der Gestus der Beherrschung dann, wenn er zum einzigen oder zentralen Mechanismus des Umgangs mit Welt wird und wenn er andere oder anderes dabei nicht gelten lässt, ausnutzt, ausbeutet und um das Existenzrecht bringt.
Der Körper, die Seele und die Natur sind Paradebeispiele für die zerstörerischen Wirkungen eines einseitigen Beherrschungs-, Kontroll- und Effizienzgebarens.

  • Die Suche nach optimaler Rendite zum Beispiel führt in der Agrarindustrie zu ma-schinellem, großflächigem, monokulturellem Anbau in schneller Folge, ausländische Investoren vertreiben die einheimischen Bauern, laugen die Böden auf Jahre aus und hinterlassen ökologisches wie soziales Ödland. 
  • Auf Gewinnsteigerung ausgerichtete Unternehmen verlangen von ihren Mitarbeitern ein hohes Maß an zeitlichem und emotionalem Selbstmanagement im Dienste des Erfolgs (siehe dazu etwa Böhnisch 2006, Flick 2009), wobei die Arbeitszeiten faktisch immer länger, die Löhne real immer niedriger und die Gefahr, wegrationalisiert zu werden immer größer wird – dies zeitigt erhebliche körperliche und seelische Folge-kosten, wie die deutlich gestiegenen Zahlen von Angststörungen, Depressionen und „Burnout“-Symptomen unter Männern etwa im Management- und Investmentbereich belegen (zur Illustration siehe z.B. Schüle 2007). 
  • Im Hochleistungssport wird der Körper durch immer raffiniertere Medikamente und Methoden künstlich zur Leistungssteigerung angeregt – nicht selten verbunden mit gravierenden gesundheitlichen Schädigungen. Analog dazu steigt im Bereich der geistigen Fitness, an Schulen, Universitäten und in Forschungslaboren, der Konsum so genannter Neuro-Enhancer, wobei die Langzeitwirkungen überhaupt noch nicht erforscht sind und eher als bedenklich einzuschätzen sind (siehe dazu auch Abraham 2010). 
  • Kinder und Jugendliche – zumeist Jungen – , denen es an der geforderten Aufmerk-samkeit und Konzentration mangelt, werden mit der Droge Ritalin auf die Spur effi-zienten Lernens gesetzt, ohne dass dabei gefragt würde, wofür dieses ‚Abschalten’ der Kinder oder auch ihr übermäßiges ‚Aufdrehen’ ein Zeichen ist, was sie damit zum Ausdruck bringen und was dieses Verhalten und der dahinter liegende seelische Zustand mit dem Lerntempo, dem Lernklima und mit einer sie nicht mehr oder nicht genug haltenden Welt zu tun haben könnte (vgl. dazu DeGrandpre 2002, Mattner 2006, Dammasch 2006).

Diese Beispiele zeigen, dass ein allein auf Beherrschung, Kontrolle, Effizienz und Gewinn-maximierung basierendes Denken und Handeln einen unzumutbaren, lebensfeindlichen und letztlich selbstzerstörerischen Raubbau an unseren Lebensgrundlagen betreibt.

Der Körper, der ein so zentrales Scharnier in der Gestaltung von Welt darstellt, weil er uns das In-der-Welt-Sein und das In-der-Welt-Handeln ermöglicht, könnte einen Weg aus diesen Einseitigkeiten und Sackgassen weisen – und zwar gerade deshalb, weil er so verletzlich, so sensibel und endlich ist. Die so oft beklagte Schwäche des Körpers, die ehrgeizigen Fort-schritts-, Leistungs- und Erfolgsszenarien im Wege steht und die technologisch überwunden werden soll, könnte sich als eine große Chance erweisen. Ähnlich wie Michael Meuser gehe ich davon aus, dass der Körper nicht nur Objekt unserer Verfügung und Mittel unserer Ge-staltungsmöglichkeiten ist, sondern dass er darüber hinaus auch ein Handlungssubjekt oder „agens“ ist (Meuser 2004), das einer eigenen Logik folgt und eine eigene Sprache spricht. Der Körper hat uns unter dieser Perspektive etwas zu sagen – im Schmerz merken wir das ganz deutlich, aber auch in den vielen feinen Schwingungen, die vom Körper auf den unter-schiedlichsten Ebenen ausgehen, die der Körper sinnlich aufnimmt und mit denen er uns die Qualitäten des Seins und unseres Seins vermittelt, wird das spürbar. Es käme darauf an, sich vom Körper etwas sagen zu lassen – seine Grenzen zu gewahren, sich empfänglich zu zeigen für seine Signale und in einen Dialog mit ihm einzutreten.

Der letztlich zerstörerische Steigerungsimperativ sowie destruktive Machbarkeitswünsche und Omnipotenzphantasien könnten begrenzt werden, wenn der Reichtum, den der Körper auch ohne „Enhancement“ bietet, erkannt und gewürdigt würde. Dies würde eine neue Qualität in den Umgang mit dem Körper bringen und von dort aus vielleicht auch in den Umgang mit der Welt (siehe dazu auch Abraham 2011).
Mit dieser Sicht ist ein Emanzipationsverständnis verbunden, das nicht auf eine, technolo-gisch durchaus immer möglicher werdende, Befreiung vom Körper zielt, sondern das im Gegenteil auf eine Verbindung mit dem (verletzlichen und endlichen) Körper abhebt, und ein Emanzipationsverständnis, das nicht allein auf Beherrschung des Körpers gründet und sie verabsolutiert, sondern das den Respekt für die Bedürfnisse und Grenzen des Körpers stark macht und auf einen dialogischen Austausch setzt, in dem das Gestalten des Körpers und das Sich-leiten-Lassen vom Körper in einem gedeihlichen Wechselspiel stehen.

 

Literatur:
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