Von der hegemonialen Männlichkeit zu Parallelkulturen von Männlichkeiten

Teaser Bild Untertitel
Mit dem Wandel der Gesellschaft verändern sich auch die Vorstellungen der Geschlechter

Der folgende Artikel erschien im Original in dem Journal "Momentum Quarterly" Vol. 4, No. 2 (2015).

„Hoffnung zielt nicht darauf, dass die verstüm­melten Sozialcharaktere der Frauen denen der Männer gleich werden, sondern dass einmal mit dem Antlitz der leidenden Frau das des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; dass von der Schmach der Differenz nichts überlebt als deren Glück“

(Theodor W. Adorno; Prismen, GS 10.1; 82)

Einleitung

Gesellschaften investieren viel in Kann-, Soll- und Mussregeln, damit Frauen und Männer unterscheidbar sind und bleiben. Frauen und Männer tun permanent eine Menge dafür, damit sie als Frauen oder Männer erkennbar sind und bleiben. Der „kleine Unterschied“ wird riesengroß gemacht! Er wird von Kindesbeinen an eingeübt und überliefert. Die kulturellen Praxen der Geschlechterrollen werden derart inkorporiert, dass sie wie selbstverständlich – gleichsam als angeboren – erscheinen und erlebt werden. Wer schon einmal mit einem äußerst dringenden unaufschiebbaren Bedürf­nis eine öffentliche Toilette mit dem komplementären Genus-Zeichen [1] gebotswidrig betreten hat, der/die weiß, was ich meine.

Einerseits: Es besteht ein konservatives Anliegen, das Zwei-Geschlechter-Modell mit vielfältigen Dis­ziplinierungstechniken aufrechtzuerhalten. Verstöße dagegen werden in der Regel als individuelle Störungen sanktioniert.

Andererseits: In dem Maße, in dem im gesell­schaftlichen sozio-kulturellen Wandel die sozialen Orte und damit auch die individuellen Praxen von Mann und Frau zunehmend entgrenzt werden, macht sich ein Unbehagen über das strikte Genderregime breit. Es ist für Frauen und Männer möglicherweise ohne jeden Sinn, wenn sie alltäglich tradierte Grenz­ziehungen überschreiten, aber dennoch immer wieder auf diese Grenzen zurückverwiesen werden. Wenn Männer und Frauen im Prozess der Modernisierung ähnliche Lebenserfahrungen machen, dann führt das dazu, dass sie auch ähnliche Verwirklichungschancen ihrer Personenwerdung einfordern. Daraus ergibt sich dann eine Reihe von Konflikten.

Die jüngste Politikdebatte um die Frauenquote in Deutschland als Debatte um Geschlechtergerechtigkeit in Unternehmen markiert z. B. einen solchen Konflikt: Old Boys gegen Frauenrechte:

Im Frühjahr 2013 noch konnte Unionsfraktions­chef Volker Kauder jubilieren: „Wir lassen der Wirt­schaft bis 2020 Zeit, selbst dafür zu sorgen“, sagte er, weil der Bundestag mit der Mehrheit der CDU/CSU-und FDP-Abgeordneten die Einführung einer gesetz­lichen Frauenquote für Aufsichtsräte in Deutschland abgelehnt hatte. Das Thema war also von der Politik in die Hände einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Unternehmen zurückgelegt worden.

Im Dezember 2014 verabschiedete die Unions- und SPD- geführte Bundesregierung dann einen Gesetzes­entwurf des Justiz- und des Frauenministeriums zur Frauenquote. [2] Im Zentrum des Entwurfs stand, dass für (108!) börsennotierte und mitbestimmungspflichtige Großunternehmen von 2016 an eine feste Frauenquote von 30 % in den Aufsichtsräten gelten solle.

In den Wochen vor der Verabschiedung durch die Bundesregierung war ein heftiger Kampf um das letzte Wort entbrannt: Insbesondere Vertreter der CSU waren bemüht gewesen, die frauenfördernden Richt­linien im männerbündischen Interesse zu schleifen, z.B. die Quote auf 20 % zu senken und nicht in den Gesetzesentwurf aufzunehmen, sodass die Aufsichts­ratsplätze frei bleiben sollten, wenn sie nicht mit einer Frau besetzt werden können.

Die Printmedien – mehr als neunzig Prozent aller Chefredakteure sind Männer – mischten dabei kräftig mit. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) kri­tisierte diese Widerstände und sagte: „Aber die Quote kommt!“ Fraktionschef Volker Kauder (CDU/CSU) wetterte: „Die Frau Ministerin soll nicht so weinerlichsein!“ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) holte vor dem Kabinettsbeschluss alle an den Tisch, versuchte alle Wünsche unter einen Hut zu bringen und entschied – wohl taktisch – pro 30%-Frauenquote.

Am 6. März 2015 hatte der Bundestag das „Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirt­schaft und im öffentlichen Dienst“ mit großer Mehr­heit beschlossen.

Es war ein Herrschaftsdiskurs! Wer hatte die Deu­tungshoheit? Spricht das Ergebnis für einen Sieg, für eine Niederlage? Auf jeden Fall spricht es für einen Kompromiss!

Meines Erachtens muss das Ziel einer Geschlechter­gerechtigkeit die Erfahrung von Mann und Frau sein, sich „auf Augenhöhe“ (vgl. de Beauvoir 1951) zu begeg­nen – aus Männer- und Frauenperspektive. Gleichbe­rechtigt auf Augenhöhe begegnen kann bedeuten, sich für den anderen Menschen und seinen Standpunkt, seine Sicht der Dinge zu öffnen. Gleichberechtigt auf Augenhöhe muss bedeuten, dass ein Mensch nicht über den anderen Menschen verfügen darf. Dafür bedarf es eines langwierigen (Gleichstellungs-)Prozesses, in dem politische Gestaltungen, gemeinsame Lebenswelten und persönliches Verhalten – zwischen zunächst Hinneh­men-Müssen und schließlich Gestalten-Können – auf­einander bezogen werden: „ 80 % der Befragten einer aktuellen Repräsentativbefragung in Deutschland ant­worteten zustimmend („voll und ganz“ oder „eher ja“) auf die Aussage: „Ich bin für die konsequente Gleichstel­lung von Frauen und Männern – beruflich und privat“. Aber: „Während bei den Frauen 51 % „voll und ganz“ einverstanden sind, liegt der Anteil bei den Männern bei 30 %“ (Wippermann 2013: 47). Der statistisch gemes­sene Unterschied zwischen den Geschlechtern liefert – wie die Debatte um die Frauenquote – Hinweise darauf, dass Männer skeptischer gegenüber der Erfahrung von Mann und Frau „auf Augenhöhe“ sind. Offensichtlich ist Geschlechtergerechtigkeit aus Männerperspektive anders als die aus Frauenperspektive.

Es erscheint mir sinnvoll, Männer [3] und Männlich­keiten im Wandel unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist es besonders wichtig, Männlichkeiten sowohl von den Chancen als auch von den Risiken her zu betrachten (vgl. Friebel 1995) – nur wenn Männer in ihren Männ­lichkeiten dort abgeholt werden, wo sie sind, kann Geschlechtergerechtigkeit gelingen: „Gender equality needs men – men need gender equality“ [4].

Die folgende Diskussion findet in fünf aufeinan­der aufbauenden Schritten statt: Zunächst führe ich in Kapitel 2 die Grundgedanken des Konzepts „hege­moniale Männlichkeit“ ein. Anschließend in Kapitel 3 thematisiere ich – an den Beispielen Sozialstruktur und Familie – sozialstrukturelle und institutionelle Wand­lungsprozesse, die zur Dekonstruktion traditioneller Geschlechterrollen in der Gesellschaft führen. Dem folgen in Kapitel 4 zwei ausgewählte Exkurse zur Männ­lichkeitsbiografie über krisenhafte Reaktionen von Jungs und Männern auf Verstörungen in ihrer Lebens­welt infolge des gesellschaftlichen Modernisierungspro­zesses. Kapitel 5 kontextualisiert dann den Wandel von der „hegemonialen Männlichkeit“ zur „Parallelstruktur von Männlichkeiten“ mit unterschiedlichen Lesarten: zunächst in einem Exkurs zur Entzauberung von Männ­lichkeit (5.1), dann mit Überlegungen zur Funktion der Wissenschaft im Wandlungsprozess als Diskursivierung von Männlichkeit (5.2 und 5.3) – schließlich mit pers­pektivischen Überlegungen zu „neuen“ Männlichkeiten (5.4). Zum Schluss problematisiere ich noch in Kapitel 6 Bezüge auf einen plakativen Krisenbegriff im Kontext von Wandlungsprozessen.

Der komplette Artikel findet sich online auf Momentum-quarterly.org oder lässt sich hier als Pdf herunterladen.

 


Fußnoten

[1] Biologisch bedingte Unterschiede werden dra­matisch in Szene gesetzt im Sinne einer „Anordnung“ der Geschlechter als räumliche Segregation in sozialen Situa­tionen. Erving Goffman bezeichnet das als „institutionelle Reflexivität“: „Die Trennung der Toiletten wird als natürliche Folge des Unterschieds zwischen den Geschlechtskategorien hingestellt, obwohl sie tatsächlich mehr ein Mittel zur Aner­kennung, wenn nicht gar zur Erschaffung dieses Unterschieds ist“ (Goffman 2001: 134).

[2] Ein Musterbeispiel im internationalen Vergleich ist die seit 2006 (für etablierte Unternehmen) bzw. 2008 (für Firmengründungen) geltende Frauenquote für börsenno­tierte Aktiengesellschaften in Norwegen: mindestens 40 % Frauenanteil. Bereits 2009 war diese Quotenregelung umge­setzt (vgl. Teigen 2012). Erwähnenswert ist hierbei, dass die äußerst effektive Zielerreichung durch von der Norwegischen Business School gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden ange­botenen Weiterbildungsprogramme für Frauen und Männer als Anwärter auf Aufsichtsratsposten (vgl. Standal 2013) begünstigt wurde. Zudem gibt es gestaffelte Sanktionen bei Nichterreichung der 40%-Quote bis zur Zwangsauflösung von Unternehmen und eine differenzierte Berichtspflicht. 2002 lag der Frauenanteil noch bei 6 %.

[3] Es gibt nicht den Mann, so wie es auch nicht die Frau gibt. Paul Zulehner richtet z. B. den Blick auf Unterschiede „zwischen Traditionellen und Modernen (Männern, H.F.) und dazwischen unterschiedlichen Mischtypen“ (Zulehner 2014: 33). Auch kann das Geschlecht nicht für sich gesehen werden, sondern muss an die soziostrukturellen Verhältnisse rückge­bunden werden. Das Männlichkeitsthema ist grundsätzlich intersektional zu differenzieren (vgl. Winkler/Degele 2009).

[4] Ministry of Social Affairs 2006: 3.