„Wo auch immer ich hinkam, wurde ich zur Anführerin ernannt“

Nomarussia Bonase
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Nomarussia Bonase

Nomarussia Bonase wurde 1966 im Südafrika der Apartheid geboren. Schon früh beginnt ihr Kampf für gleiche Rechte, später schließt sie sich der von Frauen gegründeten Khulumani Support Group an. Die Anne-Klein-Preisträgerin 2017 im Porträt.

Nomarussia Bonase war noch nicht einmal geboren, als sie zum ersten Mal die Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen erlebte. Man schrieb das Jahr 1966 im Südafrika der Apartheid. Ihr Vater war Bergarbeiter in der Nähe von Johannesburg. Aufgrund der Gesetze, die die Bewegungsfreiheit von Schwarzen einschränkten, musste sich ihre Mutter im Haus eines Farmarbeiters verstecken, wenn sie ihn besuchte. In dieser Nacht wurde die Farm von der staatlichen Polizei gestürmt und nach Personen, die gegen die Passgesetze verstießen, durchsucht.

„Sie entdeckten meine hochschwangere Mutter“, erzählt Bonase heute. „Sie vergewaltigten sie und ließen sie in ihrem Blut liegen.“ Ihr Vater fand sie um 6 Uhr morgens und konnte jemanden überreden, sie in das nahegelegene Baragwanath Hospital zu fahren. So kam Bonase als Frühgeburt, aber lebend, zur Welt.

„Dies war meine erste Lektion in Überleben“, sagt Bonase.

Heute, im Alter von 50 Jahren, hat Bonase nicht nur überlebt, sondern jeden Schritt ihres Lebens gekämpft. Man gab ihr einen Namen, der unter Anti-Apartheid-Aktivisten nicht selten war: „Nomarussia“, ein Frauenname, der die Unterstützung Russlands bei der militärischen Schulung von südafrikanischen Kämpfern im Widerstand gegen die Apartheid würdigte. Ihr Vater sagte damals: „Nomarussia bedeutet ‚Ende der Unterdrückung‘.“

Bonases Kampf fing an, als sie vier Jahre alt war. Das minderwertige Bantu-Bildungssystem für schwarze Südafrikaner/innen schrieb vor, dass sie im Alter von sieben mit der Schule beginnen sollten. Davon wollte die Vierjährige aber nichts wissen. Sie weinte jeden Tag, bis ihr Vater schließlich nachgab und ihr erlaubte, den älteren Schülern und Schülerinnen in die Schule zu folgen.

Als sie acht Jahre alt war, begann Nomarussia ein wenig von dem zu begreifen, was um sie herum vorging. „Ich fragte: was geschieht mit uns? Warum laufen alle weg? Warum werden die Menschen von weißen Polizisten niedergeknüppelt?“ So wurde ihr frühzeitig klar: „Ich würde kämpfen müssen“.

Bonases Vater hatte Angst um sein Kind, das schon früh ein politisches Bewusstsein entwickelt hatte. „Hier wirst du sterben“, sagte er. Er brachte sie weg aus Johannesburg in das ländliche Ostkap, wo sie eine bessere Chance auf einen Schulabschluss haben würde, ohne Angst um ihr Leben haben zu müssen.

„Ich wollte nicht, dass die Jungs mich überholen“

Bonase erwies sich als äußerst gelehrige Schülerin und schaffte zwei Klassen pro Jahr. „Ich wollte nicht, dass die Jungs mich überholen“, sagt sie. Tatsächlich gelang ihnen das auch nie. In der High School begann sie, sich politisch zu engagieren. Es war Nomarussia, die mit Forderungsschreiben zum Schuldirektor gesandt wurde. Es war Nomarussia, die Boykotts organisierte und ihre Mitschüler/innen zum Handeln bewegte.

Sie träumte von einer Hochschulausbildung, aber ihren Eltern fehlte das Geld für die Universität. Nach Abschluss der High School und ihrer Rückkehr nach Johannesburg fand Bonase eine Anstellung bei einem Transportunternehmen. Ihre politischen Ideale hatte sie nicht aufgegeben und wurde schon bald als erste Frau im Unternehmen zur Vertrauensperson ernannt, nachdem sie die Arbeiter/innen gewerkschaftlich organisiert hatte.

„Wo auch immer ich hinkam, wurde ich zur Anführerin ernannt“, erinnert sich Bonase. „Ich weiß nicht was die Leute in mir sehen“. Sie ist eine Frau, die mit aufrichtiger Bescheidenheit auftritt. Doch auch ohne sie näher zu kennen wird klar, was andere in ihr sehen: ein Kern stählerner Stärke, gepaart mit unzerstörbarer Treue zu ihren Idealen.

Im Zentrum dieser Ideale steht die Überzeugung, dass die Frau dem Mann gleichberechtigt ist. Zur Veranschaulichung erzählt sie die erschütternde Geschichte, wie sie 1993 vom Tod ihres Bruders erfuhr – ein Opfer jener politischen Gewalt, die die Bergarbeitersiedlungen Johannesburgs vor dem Übergang zur Demokratie überzog.

„Ich sah ihn im Fernsehen. Ich sah, wie auf ihn geschossen wurde. Ich dachte, er sei nur angeschossen und würde ins Krankenhaus gebracht. Dann erhielt ich einen Anruf, dass er in der Leichenhalle sein könnte“, erinnert sie sich.

Gemäß der afrikanischen Kultur war es Frauen damals nicht gestattet, in den Leichenhallen nach Familienmitgliedern zu suchen. Dies war Aufgabe der Männer. Als sie nach zwei Wochen immer noch keine Antworten erhalten hatte, ob ihr Bruder in der Leichenhalle sei, hatte Bonase genug. Sie war eine 27 Jahre alte Frau und als sie vor dem Eingang zur Leichenhalle ankam, schüttelten die Leute ungläubig den Kopf.

„Sie sagten: ‚Du kannst da nicht reingehen, das verkraftest du nicht‘“, erzählt Bonase. „Ich sagte: ‚Ich werde es wohl versuchen müssen‘.“

Bonase arbeitete sich systematisch durch Berge von verwesenden Leichen, die vor der Leichenhalle aufgestapelt waren und gelegentlich mit Wasserschläuchen abgespritzt wurden, um sie zu kühlen. Sie sah die Leichen von kleinen Kindern, von Frauen, von Soldaten. Schließlich erkannte sie ihren Bruder an seinem Fuß. Die Beamten glaubten ihr zunächst nicht, aber sie bestand darauf, dass es sein Fuß sei. Sie hatte Recht.

„Hätte ich damals nicht den Mut aufgebracht, dort nach ihm zu suchen, würde meine Familie immer noch von ‚dem Verschwundenen‘ sprechen“, sagt sie. „Die Menschen wurden in Massengräbern beigesetzt, weil man sie nicht identifizieren konnte.“

Das Schicksal von Frauen im Blick

Als eine von zahllosen Südafrikanerinnen, die ein Familienmitglied in den Gewaltexzessen vor dem Übergang zur Demokratie verlor, war Bonase vorsichtig optimistisch über die Einrichtung der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, kurz TRC), die 1996 ihre Arbeit aufnahm, um Südafrikanern bei der Verarbeitung der Gräuel der Apartheid zu helfen. Als ihr jedoch klar wurde, dass die TRC dieser Hoffnung nicht gerecht wurde, schloss sie sich der von Frauen gegründeten Khulumani Support Group an. Khulumani bedeutet „Sprich es aus“.

„Die TRC ließ Frauen links liegen, denn Vergewaltigung wurde in keiner Weise berücksichtigt“, erklärt Bonase. Sexuelle Gewalt gehörte nicht zu den Aspekten, die von der Kommission untersucht wurden.

„Darüber wurde geschwiegen. Frauen galten als Personen, die um ihre Männer und Söhne weinen sollten. Die Tatsache, dass sie und ihre Töchter selbst Opfer waren, wurde ausgeblendet.“

Der zweite Punkt, in dem die TRC versagte, war, dass sie Empfehlungen an die Regierung aussprach, die beharrlich ignoriert wurden. Als nationale Organisatorin von Khulumani unternahm Bonase zahllose Versuche, die südafrikanische Regierung dazu zu bewegen, diese Empfehlungen umzusetzen: eine angemessene finanzielle Entschädigung von Betroffenen der Apartheid, eine nachhaltige Unterstützung der betroffenen Gruppen sowie ein angemessenes symbolisches Gedenken an das Leid der Apartheid und jene, die darunter zu leiden hatten.

Dass die Regierung diese Themen nicht in gebührendem Maße in Angriff nahm, hat weitreichende Konsequenzen, so Nomarussia Bonase.

Das Massaker an der Marikana-Mine 2012, bei dem 34 streikende Bergleute erschossen wurden, ist eine dieser Auswirkungen. Eine weitere sind die Proteste der Studentinnen und Studenten gegen die Studiengebühren, welche die südafrikanischen Universitäten in den letzten zwei Jahren ins Chaos gestürzt haben, so Bonase.

Ein roter Faden, der sich über all die Jahre durch die Arbeit von Khulumani unter der Führung von Bonase zieht, ist die Unterstützung insbesondere der Frauen, die von diesen Problemen betroffen sind. So vertrat die Gruppe beispielsweise die Witwen der getöteten Bergarbeiter von Marikana in Zeiten, als diese nicht in der Lage waren für sich selbst zu sprechen.

„Wir fuhren zur Farlam Commission [der staatlichen Kommission zur Untersuchung des Marikana-Massakers], um den Frauen beratend zur Seite zu stehen, mit ihnen zu sprechen, während sie weinten und keine Heilung finden konnten“, sagt Bonase. Später wurden Workshops und Kunsttherapie-Sitzungen mit den Frauen veranstaltet, um ihnen zu ermöglichen, das Trauma ihres Leids auszudrücken. Khulumani half den Witwen, das ausbeuterische Bergbaukonzept zu verstehen und ihre Menschenrechte von den Minengesellschaften einzufordern.

Furchtlos und mit langem Atem

Wenn man Bonases Kolleginnen bittet, sie zu beschreiben, ist „furchtlos“ das Adjektiv, das immer wieder fällt.

„Sie lässt sich durch nichts aufhalten, wenn sie von ihren Aktionen überzeugt ist“, meint Ntombi Nyathi, die mit Bonase beim Grail Centre in Kleinmond zusammengearbeitet hat. Sie erinnert sich, wie Bonase vor einigen Jahren mit ihr gemeinsam an einem Schulungskurs für Transformation teilnahm.

„In der ersten Phase des Kurses verstarb ihr Mann. Nomarussia erschien auch zur zweiten Phase und schloss den Kurs erfolgreich ab. Es ist mutig für eine Witwe in Afrika so zu handeln, denn es wird von ihr erwartet ein Jahr lang zu trauern. Doch für Nomarussia musste das Leben weitergehen.“ Bonase hat drei Töchter und einen Sohn – dieser heißt Khulumani.

Nyathi erinnert sich auch, wie Bonase gegen Rassismus im südafrikanischen Kleinstadtmilieu kämpfte und siegte.

„Nomarussia und ihre Klassenkolleginnen gingen nach dem Mittagessen in Kleinmond einkaufen. Dies ist ein kleiner Ort, in dem Rassismus im alltäglichen Handeln der Leute noch erstaunlich lebendig ist“, erklärt sie. Bonase bat darum die Toilette benutzen zu dürfen und wurde vom Personal des Geschäfts informiert, dass sie dies nicht dürfe.

„Nomarussia rief: ‚Leute, unser Geld nehmen sie hier zwar gerne, aber wir können noch nicht einmal ihre Toiletten benutzen. Legt eure Waren wieder in die Regale zurück und lasst uns gehen. Dieses Geschäft ist nicht für Südafrikaner!‘ Als das Personal sah, wie die große Gruppe aus dem Geschäft marschierte, tauchte plötzlich ein Schlüssel für die Toiletten auf. Unmittelbar danach änderten sich auch die internen Regeln des Geschäfts.“

Marjorie Jobson, Bonases Kollegin bei Khulumani, beschreibt sie als „meine größte Lehrerin, Unterstützerin, Kollegin und Ratgeberin“.

Jobson weiter: „Nomarussia ist ein Mensch mit einem tiefen Sinn für Gerechtigkeit und der Überzeugung, dass der Kampf um Gerechtigkeit schließlich Früchte tragen wird. Eine Frau, die Möglichkeiten für eine gleichberechtigte Zukunft aufzeigt, die Männer dazu inspiriert, sich zu engagieren und eine Welt zu schaffen, die sicher für Männer und Frauen und junge Leute ist. Eine Frau, die mit einer solchen Intensität zuhört, dass sie die Fähigkeit der Menschen, ihre Stimmen zu finden, mobilisiert.“

Nomarussia gibt Hilfe und Verständnis

Heute engagiert sich Bonases halbe Familie für die Arbeit von Khulumani. Frauen kommen ständig in ihr Haus auf der Suche nach Rat, Unterstützung und Verständnis.

„Ich sage, dass Khulumani in meinem Bauch ist, denn Frauen kommen ständig rein und gehen wieder raus“, lacht Bonase. Und das gilt nicht nur für Frauen: sie leitet auch ein Männerforum bei Khulumani, in dem sie nicht als Frau gesehen wird, wie sie sagt, sondern als jemand, der für gleiche Rechte aller kämpft.

Bonase wurde gebeten, sich als Abgeordnete für eine politische Partei aufstellen zu lassen und lehnte dies ab mit der Begründung, dass sie lieber allen Hilfsbedürftigen dient, unabhängig von ihrer politischen Orientierung.

„Ich werde diese Arbeit bis zu meinem Tod weiter machen“, sagt sie. „Wir werden Südafrika zu einem besseren Land machen.“

Übersetzung ins Deutsche von Helge Mayer.