Die Praxis der Heinrich-Böll-Stiftung

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Geschlechterdemokratie als Gemeinschaftsaufgabe in einer Organisation*

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat seit 1997 in ihrer Satzung festgelegt, dass Geschlechterdemokratie sowohl Gemeinschaftsaufgabe als auch internes Organisationsprinzip ist. Geschlechterdemokratie als Gemeinschaftsaufgabe soll männlich geprägte Organisationskultur und -strukturen verändern, und zwar auf der strukturellen und organisatorischen Ebene der Stiftung ebenso wie der personellen Ebene der handelnden Akteurinnen und Akteure. Darüber hinaus wird der Ansatz auch in der politischen Bildungs- und Projektarbeit der Stiftung angewandt.

Gleichberechtigung liegt in der Verantwortung von Frauen UND Männern
Mit der Gemeinschaftsaufgabe Geschlechterdemokratie ist der Anspruch an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den einzelnen Abteilungen und Bereichen der Stiftung verknüpft, Gender-Perspektiven zu integrieren.

Geschlechterdemokratie ist eine Führungsaufgabe für den Vorstand und die Leitungskräfte sowie eine Fachaufgabe für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Fachgebieten und Fachabteilungen der Stiftung. Das bedeutet nicht nur eine grundsätzliche Absage an traditionelle Ressortpolitik, sondern auch einen Perspektivenwechsel: es gibt eine gemeinsame Verantwortung von Frauen und Männern für die Gleichberechtigung.

Geschlechtergerechte Politik für Frauen und Männer
Ein weiterer Perspektivenwechsel liegt darin, dass Ansprüche von Frauen und Männern an eine gendergerechte Politik und Organisationskultur gleichermaßen im Vordergrund stehen. Ziel von Genderansätzen ist es, sozial, wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch ausgewogene gleichberechtigte Entwicklungsprozesse anzustreben. Männerspezifische bzw. frauenspezifische Zugänge, Perspektiven, Denk- und Handlungsmuster müssen nicht identisch sein mit männlichen bzw. weiblichen biologischen Zuschreibungen.

Kennzeichen einer geschlechterdemokratischen Organisation
Die Kennzeichen einer geschlechterdemokratischen Organisation werden auf der Grundlage einer Genderanalyse für jede Institution speziell entwickelt. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat folgende Kennzeichen für ihre Organisation festgelegt:

  • Es herrscht Pluralismus und es besteht die Bereitschaft, Differenzen auszuhalten und sich produktiv mit ihnen auseinanderzusetzen.
  • Frauen und Männer sind strukturell vollständig in die Stiftung integriert; Frauen sind in allen Positionen und auf allen Hierarchieebenen mindestens zu 50% repräsentiert.
  • Die Wirkungsmächtigkeit informeller Netzwerke ist zurückgedrängt zugunsten von Transparenz und Formalisierung; es besteht keine Benachteiligung von Frauen und Männern durch informelle Netzwerke.
  • Es gibt weder Vorurteile noch Diskriminierung. Das Verhalten von Frauen und Männern ist weder sexistisch noch rassistisch und nicht auf die heterosexuelle Norm festgelegt.
  • Alle Beschäftigten können sich gleichermaßen mit der Organisation identifizieren; das Ausmaß der Identifikation ist nicht abhängig von der Geschlechtszugehörigkeit.
  • Zwischen Frauen und Männern gibt es relativ wenige bzw. nur schwach ausgeprägte Konflikte, die sich auf Geschlechtszugehörigkeit gründen. Sie tragen Konflikte konstruktiv und lösungsorientiert aus, handeln rücksichtsvoll gegenüber anderen und sind kompromissbereit.
  • Die Organisation übernimmt sowohl in ihrer Außendarstellung und Kund_innenbeziehungen als auch nach innen Verantwortung für das Ziel Geschlechterdemokratie. Frauen und Männer sind bereit, offen und öffentlich die Verträglichkeit der Leitbilder zu prüfen und Konsequenzen daraus zu ziehen.
  • Die Organisation übernimmt in ihrer inhaltlichen bzw. fachlichen Arbeit Verantwortung für die Umsetzung der Gemeinschaftsaufgabe.

Geschlechterdemokratie als Fachaufgabe
Es ist Aufgabe der einzelnen Fachabteilungen und Bereiche, Geschlechterdemokratie als Gemeinschaftsaufgabe umzusetzen. Damit sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Organisation als Ganzes aufgefordert, Geschlechterdemokratie zu verwirklichen und weiter zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Genderkompetenz verfügen.

Schlüsselqualifikation: Genderkompetenz
Genderkompetenz erfordert Wissen über Geschlechterbeziehungen, über die eigene Sensibilität bzgl. Geschlechterrollen und Geschlechterfragen sowie das Wissen um die Existenz und die Entstehung geschlechtshierarchischer gesellschaftlicher Strukturen (Genderwissen/Genderexpertise). Genderkompetenz verlangt auch den praktischen Umgang mit den Ergebnissen und Erfahrungen, die aus Genderanalysen von Organisationen und Strukturen gewonnen wurden, sowie die Bereitschaft,  genderbezogene Forschungs-, Bildungs- und Beratungsansätze in die eigene fachliche Arbeit zu integrieren.

Darüber hinaus geht es um die sensible Gestaltung von Geschlechterbeziehungen am Arbeitsplatz und in der Organisation sowie um die genderorientierte Gestaltung der Strukturen. Genderkompetenz trägt dazu bei, die Analysekategorie „Geschlecht“ als
wesentliches Kriterium zur Lösung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Fragestellungen und Probleme anzusehen und anzuwenden. Die Heinrich-Böll-Stiftung schätzt, unterstützt und stärkt die Genderkompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und entwickelt sie als relevante Schlüsselqualifikationen auf den folgenden Ebenen weiter:

  • auf der persönlichen Ebene: durch die Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Geschlechterfragen und Fragen der eigenen Geschlechteridentitäten (sog. Gendersensibilisierung)
  • auf der fachlichen Ebene: durch die Fähigkeit, Genderwissen in den fachlichen Arbeitsalltag umzusetzen
  • auf der strukturellen Ebene: durch die Verantwortung der Organisation als Ganzes nach innen und außen und durch das Top-Down-Prinzip, d.h. die Führungsverantwortung der Leitungsebene.

Durch die Anwendung des gesammelten Erfahrungswissens und genderbezogenen Fachwissens erreicht die Organisation als Ganzes eine eigene Kompetenz. Ziel ist es, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf allen Ebenen zu befähigen, genderbezogene Aspekte in ihrem Arbeitsfeld zu erkennen und diese im praktischen Handeln einzusetzen

Heinrich-Böll-Stiftung als geschlechterdemokratisches Vorbild
Geschlechterdemokratie wird in der Heinrich-Böll-Stiftung seit vielen Jahren von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfolgreich praktiziert. Für andere Organisationen ist die Stiftung ein Vorbild und sie wird oft um Unterstützung und Beratung angefragt. Indem sie beispielhafte Projekte und Prozesse fördert und in der eigenen Organisation richtungsweisend umsetzt, wirkt die Stiftung auch in Zukunft am geschlechterdemokratischen Umbau politischer und gesellschaftlicher Organisationen mit.

Umsetzungsstrategien
Ein Instrument der Heinrich-Böll-Stiftung sind Zielvereinbarungen. In diesem Zusammenhang hat der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung in Abstimmung mit den Abteilungsleitungen für die weitere Umsetzung der Gemeinschaftsaufgabe Geschlechterdemokratie strategische Orientierungen festgelegt:

  • Entwicklung und Förderung von Genderkompetenz im Rahmen von geeigneten Qualifizierungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen (inkl. Bedarfserfassung und -analyse)
  • systematische Erhebung und Auswertung von Daten/Statistiken unter genderspezifischen Gesichtspunkten (Genderanalysen) wie Personalstatistik, TeilnehmerInnen-Statistik, Projektmittelverwendung, Zielgruppenanalyse etc. im Rahmen eines quantitativen und qualitativen Controllings
  • Entwicklung und Einführung einer genderorientierten Projekt und Programmplanung
  • Haushaltsplanung und -überwachung nach genderorientierten Kriterien
  • Genderspezifisch aufbereitete Daten und Statistiken (Personalstatistik, Projektmittelverwendung, geschlechtsspezifische Daten zu den politischen Inhalten) sind unabdingbare Voraussetzung zur Umsetzung geschlechterdemokratischer Ziele in der politischen Bildungs-, Projekt- und Programmarbeit.

Aufgaben und Zuständigkeiten
Aufgaben und Zuständigkeiten für die Umsetzung von Geschlechterdemokratie innerhalb der Stiftung sind klar verteilt:

  • Dem Vorstand obliegt die Verantwortung für die Strategiebildung und Ressourcenplanung.
  • Die Abteilungsleitungen sind für die operative Umsetzung und Evaluierung verantwortlich, während die konzeptionelle und inhaltliche Verantwortung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern liegt.
  • Die Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Abteilungen erfolgt durch Zielvereinbarungen.
  • Der Personalabteilung kommt eine spezifische Verantwortung im Bereich Personalentwicklung unter den Aspekten Geschlechterdemokratie und Frauenförderung zu.

*Zusammenfassung eines Vortrags von Henning von Bargen: „Geschlechterdemokratie als Gemeinschaftsaufgabe in einer Organisation – das Beispiel Heinrich Böll Stiftung“, Berlin 2003