Der Prozess zur Lösung des israelischpalästinensischen Konflikts steckt fest. Direkte Verhandlungen scheinen in weiter Ferne. Die palästinensische Führung ist zwischen Fatah und Hamas gespalten und Präsident Mahmut Abbas wird immer weniger zugetraut, das politische Kapital zu haben, einen historischen Kompromiss mit Israel eingehen zu können. Der israelischen Regierung wird unterstellt, sie sei gar nicht erst an einem Kompromiss interessiert, sondern mit dem Status-Quo ganz zufrieden, der gar keiner ist, da sich die Fakten in den besetzten Gebieten täglich zu Ungunsten der Palästinenser_innen verschieben und eine Zwei-Staaten-Lösung immer weniger möglich erscheint.
In dieser verfahrenen Situation suchen Palästinenser_innen nach alternativen Strategien. Zu neuen Versuchen, Bewegung in den blockierten Verhandlungsprozess zu bringen, gehören der internationale Weg zur Anerkennung über die Vereinten Nationen, gewaltfreier Widerstand, Boykott und Sanktionen (BDS) und Anti-Normalisierung. Anti-Normalisierung fordert den Abbruch nicht nur staatlicher, sondern auch zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Palästinenser_innen und Israeli_innen, weil diese Projekte keine Feigenblatt-Funktion erfüllen sollten, solange die israelische Besatzung auf Regierungsebene nicht beendet werden kann. BDS und Anti-Normalisierung finden international Aufmerksamkeit und Verbündete im linken Spektrum.
Die Kampagne gegen das sogenannte „Pinkwashing“ rechnet sich dieser Widerstandsstrategie zu. Der israelischen Regierung wird vorgeworfen, sie werbe international mit dem schwulenfreundlichen Tel Aviv als Markenzeichen Israels, um sich als einzig wahre Demokratie im Nahen Osten zu gerieren, von der Besatzung abzulenken, und sich gegenüber Homophobie unter Palästinenser_innen und in den übrigen arabischen Gesellschaften abzusetzen.
Selbst-Reinwaschung und überzogene Kritik
Der Vorwurf des „Pinkwashing“ ist mit Vorsicht zu genießen, quasi im Schongang zu waschen. Nichts im Nahen Osten ist Schwarz-Weiß und simpel zu betrachten. Wahr ist, wie Sarah Shulman in ihrem viel beachteten New York Times-Artikel aus dem 38 vergangenen November schreibt, dass das israelische Außenministerium seit einigen Jahren eine internationale Werbekampagne mit der lesbisch-schwulen Offenheit Tel Avivs führt und mit Israel gleichsetzt. Es gibt israelische Wagen auf internationalen Gay-Prides und erst kürzlich wurde Tel Aviv auf www.gaycities.com als weltweit bestes Reiseziel für Schwule gewählt. Sicherlich haben Premierminister Benjamin Netanjahu und der Außenminster Avigdor Liebermann dabei weniger Interesse am Wohlergehen von Lesben, Schwulen und Transsexuellen in Israel oder gar im gesamten Nahen und Mittleren Osten, als vielmehr an einem besseren internationalen Image des zunehmend isolierten Israels. Auch wenn der Tel Aviver Bürgermeister Ron Huldai auf einer internationalen Konferenz für LGBTI-Jugendliche der Israel Gay Youth vom „Homo-Himmel Israel“ spricht, klingt das wenig aufrichtig. Trotz des städtisch geförderten Lesben- und Schwulenzentrum in Tel Avivs Innenstadt, hört der Horizont dieses „Himmels“ an den Stadtgrenzen Tel Avivs auf. Und selbst in Tel Aviv gibt es homophobe Übergriffe.
Der Vorwurf des „Pinkwashing“ ist auch nachvollziehbar, wenn eine große israelische Lesben- und Schwulenorganisation sich als einzigen Rettungsanker für verfolgte palästinensische Lesben, Schwule und Transsexuelle darstellt, wie in Gil Yaron‘s kürzlich erschienen Spiegel-Online-Artikel „Es ist besser, Du stirbst“. Yaron ignoriert, dass es mit Al-Qaws und Aswat (siehe die Beiträge in diesem Artikel übergeordneten i&p Heft) zwei mutige und wichtige palästinensische Nichtregierungsorganisationen gibt, die in der palästinensischen Gesellschaft in Israel und den besetzten Gebieten für sexuelle Rechte und Vielfalt kämpfen. Es gibt zwar einige hundert palästinensische LGBTI-Flüchtlinge in Israel, aber auch hunderte LGBTIs, die sich selbstbewusst in Haifa, Jaffa, Jerusalem und Ramallah treffen, und nahezu an die tausend, die monatlich zu einer palästinensischen LGBTI-Party nach Tel Aviv kommen.
Die Sympathie mit dem „Pink Washing“-Vorwurf endet allerdings, wenn israelische LGBTI-Organisationen generell beschuldigt werden, sie seien Handlanger der Regierung und aktive Unterstützer der Besatzung. Ihnen wird vorgeworfen, sie legitimieren die israelische Regierungspolitik mit ihrer auf LGBTI-Rechte konzentrierten Arbeit. Die Jugendorganisation Israel Gay Youth, das Schulaufklärungsprojekt Hoshen oder das Elternnetzwerk Tehila, haben das Recht, sich auf eigene Ziele und Aufgaben zu beschränken. Andere NGOs, wie das Jerusalem Open House, aus welchem Al-Qaws hervorgegangen ist, haben wiederum ganz bewusst ein umfassendes Rollenverständnis. Als Menschenrechtsorganisationen sollten sich alle der komplexen und ungleichen Situation von LGBTI in Israel und Palästina bewusst sein und der Debatte stellen, wie sie dieser gerecht werden können. Sie sollten Belange von Palästinenser_ innen weder ignorieren noch sollten sie palästinensische LGBTI zum eigenen Vorteil instrumentalisieren. Gleichzeitig ist es überzogen, von allen Gruppen zu erwarten, das Ende der Besatzung als Hauptaufgabe zu betrachten.
Auch die Finanzierung durch den israelischen Staat wird den NGOs als Paktiererei vorgeworfen und muss differenziert betrachtet werden. Es ist eine Errungenschaft der israelischen LGBTI-Community, dass sie staatliche Unterstützung zu HIV/AIDS-Prävention oder zur politischen Bildung zu LGBTI-Angelegenheiten erhalten. Auch die Finanzierung internationaler Reisen von israelischen LGBTI-Organisationen sollte nicht per se zum Tabu erklärt werden. Unbenommen sollten sich NGOs gut überlegen, an welchen Delegationen und Aktivitäten sie teilnehmen, und prüfen, ob sie auf einer regierungsfinanzierten Reise Kritik an israelischer Politik üben können. Internationale Gegner solcher Reisen sollten sich wiederum überlegen, ob sie bereit wären, selbst für die Reisekosten israelischer LGBTI-Aktivist_innen zu spenden, um kritische Reisen zu ermöglichen.
Nur differnzierte Argumente greifen
Die „Pinkwashing“-Kritik wird überwiegend von palästinensischen und internationalen Gruppen geübt. Auf israelischer Seite wird sie eher im queeren Spektrum geführt. Israelische LGBTI-Organisationen, wie IGY, scheinen in der Defensive. Dadurch geben sie wenig Raum für tiefere Debatten und selbstkritische Analysen. Sie könnten mutiger sein. Solange jedoch einige der Queer-Aktivist_innen bewusst im Unklaren lassen, ob sie vom Ende der Besatzung von 1967 oder von 1948 sprechen, können sie wenig Unterstützung aus Israel erwarten und müssen auch international zur Eindeutigkeit gedrängt werden.
Die internationale Resonanz auf die „Pinkwashing“-Kampagne gegen den internationalen Jugendgipfel von IGY im Dezember 2011 und Absage der Stadt Seattle zu einem Empfang mit einer, vom israelischen Außenministerium finanzierten, LGBTI-Delegation im März 2012 zeigen, dass die Aktivist_innen auf internationaler Ebene durchaus Erfolge zu verzeichnen haben. Es ist fraglich, ob sie innerhalb Israels eine kritische Masse an Unterstützer_innen erreicht. Eine Alternativveranstaltung zum IGY-Gipfel im Tel Aviver Queer-Zentrum „Rogatka“ zog zwar eine Reihe internationaler Gipfel-Teilnehmer_ innen an; die Argumente der Kritiker_innen schienen die jungen Gäste jedoch wenig zu überzeugen. Offen bleibt auch, ob eine breitere Debatte über die Instrumentalisierung von LGBTI-Rechten durch die israelischen Regierung und queerem Protest gegen die Besatzung entstehen kann, wenn beispielsweise Sarah Shulman‘s beachtlicher Film zur Geschichte von „Act Up!“, der amerikanischen HIV/ AIDS-Bewegung der achtziger Jahre – ein erfolgreiches Beispiel von gewaltfreiem und massenhaften Widerstand – im Rogatka vor lediglich 25 Personen gezeigt wird. Eine Israel-Premiere vor möglicherweise hunderten Zuschauer_innen im Programmkino Cinematheque wäre möglich gewesen, wurde aber von den Veranstaltern aus politischen Gründen abgelehnt, da das Kino vom israelischen Staat und der Stadt Tel Aviv finanziert wird.
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat das Ziel, sich im Rahmen ihrer Demokratie- und Menschenrechtsarbeit weltweit für LGBTI-Rechte einzusetzen. LGBTI- Rechte sind Menschenrechte, und dennoch scheinen sie in der politischen Realität bisweilen im Widerspruch – zumindest jedoch in einem sehr komplexen Verhältnis – zueinander zu stehen. Ziel der Arbeit in Israel und in Palästina ist es, einen Beitrag zur Lösung des Nahost-Konflikts zu leisten und für offene und demokratische Gesellschaften auf beiden Seiten einzutreten. Im Kontext des Konflikts und der Asymmetrie zwischen Israelis und Palästinensern ist dies ein kompliziertes Unterfangen. In der LGBTI-Arbeit in Israel kann dies jedoch nicht bedeuten, die Zusammenarbeit mit israelischen NGOs einzuschränken, so bald diese Gelder vom israelischen Staat erhalten.
Diejenigen, die der israelischen Regierung „Pinkwashing“ vorwerfen, haben recht damit, dass es auch in Israel für die Gleichstellung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen noch viel zu tun gibt. Genauso zentral bleibt jedoch auch die Unterstützung von palästinensischen Lesben und Schwulen in ihrem Kampf für sexuelle Rechte und auch für die Selbstbestimmung als Palästinenser_innen. Einen Beitrag, den die Heinrich-Böll-Stiftung in dieser Situation leisten kann, ist, eine kritische Auseinandersetzung und der Dialog mit LGBTI-Organisationen zum Zusammenhang sowie Umgang von LGBTIRechten im Kontext des Nahost-Konflikts zu führen. Eine internationale Stiftung darf sich jedoch weder von der einen noch der anderen Seite instrumentalisieren lassen.
Der Artikel erscheint in der kommenden Ausgabe von israel und palästina - Zeitschrift für Dialog (2/2012)
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Marc Berthold ist Leiter des Israel-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
Links:
2012
Dieser Text ist in der Zeitschrift "Israel & Palästina: Pinkwashing Israel – Lesben- und Schwulenrechte in Israel, Palästina und im Nahostkonflikt" (2/2012) erschienen.