Anne-Klein-Frauenpreis 2015 geht an Nebahat Akkoç aus der Türkei

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Nebahat Akkoç
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Nebahat Akkoç

Der Anne-Klein-Frauenpreis 2015 geht nach einstimmigem Beschluss der Jury an die Menschenrechtlerin und Frauenaktivistin Nebahat Akkoç aus Diyarbakir. Die armenisch-alevitische Kurdin aus der Türkei ist eine bemerkenswerte und mutige Verteidigerin der Menschenrechte und der Rechte der Frauen auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben. Der Alltag der Menschen im Südosten der Türkei war durch den Kurdenkonflikt jahrzehntelang von Gewalt geprägt. Gewalt in Form von extralegalen Hinrichtungen, Folter und Menschenrechtsverletzungen. Gewalt war omnipräsent. Auch häusliche Gewalt, in den Familien, gegenüber den Kindern und den Frauen, war und ist noch immer stark verbreitet. Angesichts der staatlichen Repressionen schien häusliche Gewalt jedoch weniger relevant in der politischen Auseinandersetzung. Nebahat Akkoç jedoch sieht dies anders. Sie ist eine der Pionierinnen für Frauenrechte und gegen häusliche Gewalt in der Türkei und in den kurdischen Gebieten der Türkei. Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen begann sie Mitte der 90er Jahre, das Thema häusliche Gewalt auf die Agenda zu setzen und Frauen Unterstützung anzubieten. Ihrem Einsatz ist es maßgeblich zu verdanken, dass häusliche Gewalt in der Türkei heute nicht mehr auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stößt, wie es noch in den 90er Jahren der Fall war.

Nebahat Akkoç Engagement gegen Gewalt gründet auf eigener Gewalterfahrung. In ihrer Zeit als Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim Sen wurden allein neunzehn Lehrer ermordet. Wie viele politisch aktive Menschen seinerzeit, war auch Nebahat Akkoç sehr direkt von dieser Gewalt betroffen. Ihr Ehemann wurde 1993 ermordet. Sie selbst wurde mehrfach festgenommen und gefoltert. Nebahat Akkoç wehrte sich gegen diese omnipräsente staatliche Gewalt: Als erste Frau aus der Türkei verklagte sie die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Folter. Die türkische Regierung wurde vom EGMR verurteilt und musste Nebahat Akkoç für das zugefügte Unrecht entschädigen. Doch das war Nebahat Akkoç nicht genug. Sie will die Gewalt dort angehen, wo sie entsteht: In den Familien und in den Köpfen. In der Türkei wurde noch in den 90er Jahren Gewalt als selbstverständlich und unvermeidbar angesehen, selbst von 95 Prozent der türkischen Frauen.

Nebahat Akkoç gründete 1997 die türkisch-kurdische Frauenrechtsorganisation KAMER (KAdin MERkezi, Frauenzentrum). Kamer ist inzwischen in 23 Städten im Südosten der Türkei vertreten und Teil eines Netzwerks von Frauenrechtsorganisationen und Frauenzentren, türkei- und europaweit. Kamer bietet psychologische und rechtliche Beratung für Frauen, Schutzräume und Unterstützung zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit. In Diyarbakir z.B. betreibt Kamer ein ausschließlich von Frauen geführtes Café in der alten Karawanserei, einem Basar, der bis dahin ausschließlich von Männern besucht war. Nebahat Akkoç kennt keine Tabus, wenn es um die Verteidigung der Frauenrechte geht. So organisiert sie nach jedem „Ehren“mord eine Großdemonstration zur Beerdigung. Die Frauen von Kamer tragen den Sarg zum Friedhof, was traditionell den Männern vorbehalten ist.

Mittlerweile ist Vergewaltigung in der Ehe in der Türkei strafbar, gesetzliche Näherungsverbote nach Gewalt werden angewendet, und „Ehren“morde strafrechtlich mit nicht weniger als 10 Jahren verfolgt. 80 Prozent der türkischen Frauen finden inzwischen Gewalt in der Ehe nicht mehr normal. Dieser Bewusstseinswandel ist nur möglich durch die hartnäckige Arbeit von Aktivistinnen wie Nebahat Akkoç. Sie selbst meint: „Eine Frau, die zu uns kommt, verändert sich. Ein Mann, der schlägt, bleibt immer der alte.“

Mit dem Anne-Klein-Frauenpreis würdigen wir die Arbeit von Kamer, die zu einem großen Teil von Ehrenamtlichen getragen ist, aber vor allem Nebahat Akkoç als deren Gründerin. Nebahat Akkoç selbst stellt sich der Gewalt – nach wie vor wird sie auch persönlich bedroht – furchtlos entgegen und weigert sich, genderspezifische Gewalt und jede Ungleichbehandlung zu akzeptieren. Dabei macht sie keine Unterschiede zwischen Türken und Kurden, Armeniern und anderen, Christen, Muslimen oder Angehörigen anderer Glaubensrichtungen. Sie findet Gewalt, ganz unabhängig auf welcher vermeintlichen Tradition sie wurzelt, generell inakzeptabel. Den Frauen im Südosten der Türkei und darüber hinaus gibt sie den Mut, sich jeder Gewalt aktiv entgegenzustellen. So wird die Gewaltspirale unterbrochen. Dies beindruckt uns tief.

 

Der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises gehören an:

  • Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung, Juryvorsitzende
  • Renate Künast, MdB, Bündnis90/Die Grünen
  • Prof. Dr. Michaele Schreyer, Vize-Präsidentin des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland
  • Jutta Wagner, Rechtsanwältin, ehemalige Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes
  • Thomas Herrendorf, Inneneinrichter

 

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Fotografin: Emel Ernalbant
Lizen: CC-BY-NC
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