Drei Jahre Arabellion: Der Frühling der Frauen?

Frauen demonstrieren auf dem Tahrir-Platz, Kairo Februar 2011.
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Frauen demonstrieren auf dem Tahrir-Platz, Kairo Februar 2011.

Vor gut drei Jahren nahm der Arabische Frühling seinen Anfang. Die Serie von Demonstrationen, Aufständen und Revolutionen hat die Länder Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens grundlegend verändert. Daran hatten insbesondere Frauen einen großen Anteil: In den politischen Kämpfen haben sie eine zentrale Rolle gespielt – als Akteurinnen, Aktivistinnen, Mitläuferinnen, Täterinnen und auch als Opfer.

Wie differenziert wir uns die Rolle von Frauen denken müssen, verdeutlicht bereits der Beginn des Arabischen Frühlings. Sein Ausgangsort war die tunesische Stadt Sidi Bouzid. Hier lebte Ende 2010 Faida Hamdi, eine Mitarbeiterin der Gemeinde. Ihre Aufgabe war es, illegalen Gemüseverkauf zu ahnden. Am 17. Dezember 2010 traf sie auf Mohammed Bouazizi, der ohne Lizenz Gemüse verkaufte. Es kam zum Streit zwischen den beiden, in dessen Verlauf Faida den Händler angeblich ohrfeigte. Sie bestreitet dies bis heute, eindeutig herleiten lässt sich der Tathergang nicht mehr. Fest steht aber: Die Ware wurde konfisziert, und Mohammed Bouazizi fühlte sich ungerecht behandelt – vom korrupten Regime Ben Alis, das obendrein von einer Frau repräsentiert wurde. Bouazizi übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Mit dieser Selbstverbrennung begann die tunesische Revolution – und damit der Arabische Frühling. Mohammed Bouazizi erlag am 4. Januar 2011 seinen Verletzungen. Dass er eine Revolution ausgelöst hatte, konnte er nicht mehr wahrnehmen. Und auch Faida Hamdi hat nicht geahnt, dass sie ein Teil des Tropfens war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie wurde – noch zu Zeiten Ben Alis – wegen Gewaltanwendung gegenüber einem Bürger zu fünf Jahren Haft verurteilt. Erst nach der Revolution erhielt sie Rechtsbeistand, mit dessen Hilfe sie die Freiheit zurückerlangte [1].

In allen Ländern des Arabischen Frühlings wurden Frauen vor und während der Proteste verhaftet, eingeschüchtert, sexuell belästigt, vergewaltigt und getötet. Dennoch sind Aktivistinnen auf die Straße gegangen und haben demonstriert – ob in Tunesien oder Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien oder Bahrain. Dabei haben sie auch führende Rollen im Aufstand übernommen und in diesem Sinne zunächst vom „allgemeinen Ausnahmezustand“ profitiert.

Der Aufstand der Frauen

Insbesondere in Tunesien beteiligten sich Frauen massiv an den Protesten. Seit dem Sturz des alten Regimes streiten sie für ihre Beteiligung am politischen Transitionsprozess und wehren Restaurationsversuche erfolgreich ab.

Auch in Ägypten nahmen Frauen in bislang völlig ungewohntem Ausmaß an den Demonstrationen teil. Im Dezember 2010 setzte die Armee massive Gewalt gegen einen friedlichen Protest ein, 17 Menschen wurden dabei getötet. Einige Tage später versammelten sich rund zehntausend Frauen in Kairo, um gegen die Gewalt zu protestieren, Frauen aus Alexandria schlossen sich an. Es war die 26jährige Bloggerin Asmaa Mahfouz, die Anfang 2011 einen Onlineaufruf startete und die Männer und Frauen Ägyptens aufrief, sich an den Demonstrationen am 25. Januar 2011 am Tahrir-Platz zu beteiligen.

In Libyen versammelten sich am 15. Februar 2011 vor dem Gericht in Benghazi Mütter, Schwestern und Witwen der Männer, die 1996 im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis getötet wurden. In dem Hochsicherheitsgefängnis, in dem sich viele politische Gefangene befanden, war es im Juni 1996 zu einem Massaker gekommen; Schätzungen zufolge starben dabei 1200 der damals über 1600 Gefangenen [2]. Die Demonstrantinnen forderten die Aufklärung des Massakers und prangerten die Korruption des Regimes an. Und es waren maßgeblich libysche Frauen, die über den Widerstand sprachen und damit zur Verbreitung beitrugen. Sie schmuggelten Waffen und versorgten die Verletzten sowie deren Familien. Am 1. September 2011 versammelten sich zehntausend Frauen in Tripolis, um das Ende des Gaddafi-Regimes zu feiern [3].

In Syrien zählen Frauen zu den wichtigsten Stimmen des Aufstandes und sind zugleich massiv von dem blutigen Bürgerkrieg betroffen: Die Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh lebte seit Beginn der Revolution im Untergrund und schrieb unablässig über ihre Arbeit und die Lage vor Ort. Ihr syrisches Tagebuch erschien wöchentlich in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Anfang Dezember wurde sie, gemeinsam mit ihrem Mann und zwei weiteren Aktivistinnen, in Syrien entführt. Die Bloggerin Razan Ghazzawi, eine Mitarbeiterin des vom syrischen Regime geschlossenen Center for Media and Freedom of Expression, ist bekannt für ihre klugen Darstellungen der Revolution. Sie zog in die befreiten Gebiete, um mit traumatisierten Kindern zu arbeiten; ihre Erfahrungen publiziert sie auf dem Videoportal YouTube.

Rima Dali wurde hingegen mit der Kampagne „Stop the Killing“ berühmt. Schon zu Beginn der Revolution hatte sie sich vor dem syrischen Parlament postiert, auf einem Plakat forderte sie das Ende des Tötens und verbrachte dafür einige Tage im Gefängnis. Im November 2012 gingen Dali und mehrere Mitstreiterinnen in Brautkleider gehüllt durch den Basar von Damaskus. Dabei riefen sie alle Kriegsparteien auf, die Kämpfe zu beenden: „Wir sind müde. Ihr seid es auch. Wir brauchen eine andere Lösung.“ Erneut kam Dali in Haft, erst nach vielen Monaten wurde sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wieder freigelassen.

Auch wenn derzeit die Brutalität salafistischer Gruppen viele Menschen einschüchtert, gibt es weiterhin Demonstrationen – etwa im ostsyrischen Raqqa. In der einzigen Provinzhauptstadt, die das Regime aufgeben musste, haben nach einer kurzen Blüte zivilgesellschaftlichen Engagements salafistische Gruppen die Herrschaft übernommen. Zwei Monate lang demonstrierte die Lehrerin Souad Nofal – tagtäglich und alleine vor dem Hauptquartier der al-Qaida-nahen Organisation „Islamischer Staat im Irak und der Levante“. Inzwischen hat Nofal ihre Aktion eingestellt, weil sie massiv von Salafisten bedroht wurde.

Das Ringen um Gerechtigkeit

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Frauen im Arabischen Frühling nie ausschließlich für Frauenrechte auf die Straße gegangen sind. Diese waren und sind immer Bestandteil einer größeren Agenda für mehr soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte.

Tatsächlich hatten die Revolutionen in den meisten Ländern einen sozialen Ursprung. Zu der Forderung nach sozialen Rechten trat allerdings mehr und mehr der Ruf nach politischen Rechten – insbesondere als Polizei und Militär begannen, mit brutaler Gewalt gegen Protestierende vorzugehen.

Ein Grund für die sozialen Forderungen war die grassierende Armut. Sie war im Vorfeld des Arabischen Frühlings erschreckend hoch – trotz der moderaten und mitunter hohen Wachstumsraten der arabischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren. Das Wachstum führte jedoch kaum zu Umverteilung, was auch die Arab-Human-Development-Berichte des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) von 2002 bis 2009 belegen. Es ist „in den meisten Staaten nicht gelungen [...], soziale Ungleichheit abzubauen und menschliche Entwicklung entscheidend voranzubringen“ [4].Von der sozialen Ungleichheit zeugen auch die niedrigen Alphabetisierungsraten sowie ein geringes Bildungsniveau. Hier sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern besonders groß. Im Index zur geschlechtsspezifischen Ungleichheit für das Jahr 2012, der dem Human Development Report 2013 zugrunde liegt, rangieren Länder wie Ägypten (126), Syrien (118), Irak (120) oder Saudi-Arabien (145) auf den hinteren Plätzen. Lediglich Tunesien und Libyen schneiden mit den Rängen 46 und 36 (derzeit noch) besser ab.

Der massive Unmut der Menschen in den Ländern des Arabischen Frühlings richtete sich aber auch gegen die alltägliche Korruption, Gewalt und Willkür. Auch hier schneidet die Region im globalen Vergleich schlecht ab. Alle betroffenen Länder sind autokratische Systeme. Manipulierte und gefälschte Wahlen waren an der Tagesordnung; vielerorts grassiert Willkür, Korruption und Vetternwirtschaft. Es gab – und gibt weiterhin – keine Rechtsstaatlichkeit, keine Presse- und kaum Versammlungsfreiheit.

Die sozialen Probleme werden zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass die meisten Gesellschaften der Region extrem jung sind. So liegt der Anteil der unter 35jährigen in Tunesien, Qatar und Bahrain bei knapp 60 Prozent. Junge Menschen sind von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen. So ist in Ägypten fast die Hälfte der 20- bis 24jährigen arbeitslos [5]. Bei ihnen ist der Frust über das verkrustete politische System besonders hoch.

Differenzen der Frauenbewegung

Trotz der herrschenden Ungerechtigkeit ist sich die Frauenbewegung keineswegs in allen Fragen ihres politischen Kampfes einig [6]. Unterschiede sind vor allem zwischen den Generationen sowie zwischen säkularen und religiösen Aktivistinnen erkennbar.

Die Proteste wurden stark von jungen Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten getragen; diese stellten die Bereitschaft der älteren Generation in Frage, sich zu öffnen und sich neuen Fragestellungen zu widmen. Die älteren Aktivistinnen – zumeist wohlhabend, gut ausgebildet und säkular ausgerichtet – wiederum beklagten die programmatische Unklarheit der Jüngeren. Bereits vor dem Arabischen Frühling war die ältere Aktivistinnen-Generation durch die internationalen UN-Frauenkonferenzen und UN-Prozesse – wie die UN-Antidiskriminierungskonvention CEDAW – durchaus politisiert sowie regional und international gut vernetzt. Ihre Arbeit wurde in vielen säkularen arabischen Ländern von staatlichen Frauenorganisationen sowie von moderaten Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Damit hatten sich einige Frauen als „Staatsfeministinnen“ in den säkularen, aber autoritären Regimen wie in Ägypten kleine Freiräume für etwas mehr Frauenrechte erobert.

Gleichzeitig bestand immer die Gefahr, dass sie als Aushängeschild von den Regierungen instrumentalisiert und als einzige Alternative zu den Muslimbrüdern gepriesen wurden, die Frauenrechte mit Füßen treten würden. Säkularer Staatsfeminismus war so für autoritäre Regime auch ein probates Mittel im Kampf gegen den politischen Islam. Ein bekanntes Beispiel ist der ägyptische National Council of Women, der zur Zeit der Mubarak-Ära von Suzanne Mubarak geführt wurde. Die Belange der Frauen wurden auf diese Weise erfolgreich kooptiert – und auch international unterstützt. Von diesem Verständnis und dieser Instrumentalisierung distanzieren sich nun die jüngeren Frauen. Trotz dieser Differenzen besteht zwischen den Generationen durchaus Einigkeit, sich für politische Partizipation einzusetzen und sich gegen ein politisches Rollback zu wehren, das derzeit im Rahmen von Verfassungsprozessen und anderen Gesetzesänderungen etwa im Bereich des Familienrechts in vielen Ländern des Arabischen Frühlings von konservativen Kräften forciert wird.

Weitaus tiefer noch sind die Gräben jedoch zwischen säkularen und religiösen Frauen. Beispiele dafür finden sich in Ägypten und Tunesien, aber auch in Palästina, Syrien und im Libanon. In diesen Ländern sitzt das wechselseitige Misstrauen tief, wenn überhaupt lassen sich lediglich punktuelle Kooperationen finden. So haben die Muslimschwestern als weibliche Unterorganisation der Muslimbruderschaft in Ägypten durch ihren unermüdlichen Einsatz für Wohltätigkeit und Bildung maßgeblichen Anteil am politischen Erfolg der Organisation. Viele der „Schwestern“ sind beruflich qualifiziert und politisch aktiv, allerdings verfolgen sie keinen feministischen Ansatz. Stattdessen propagieren sie „eine komplementäre Rollenverteilung mit gleichwertigen, aber ‚wesensgemäß’ unterschiedlichen Aufgaben für Frauen und Männer und die Vorrangstellung des Mannes in der Familie als konstitutive Elemente der ‚göttlichen Ordnung’. Liberale‚ feministische Konzepte werden als ‚westlich’ denunziert und als individualistisch und zerstörerisch für die Familie abgelehnt.“ [7] 

Der politische Islam als Machtfaktor

Der Islam war noch nie homogen und nimmt pro Land und theologischer Denkschule ganz unterschiedliche Interpretationen und Perspektiven zur Stellung von Frauen in der Gesellschaft ein. Welche Rolle der Islam in der Gesellschaft, in der Verfassung, in der Rechtsprechung in den neuen politischen Systemen spielen soll, ist ein zentraler Streitpunkt zwischen den politischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft und natürlich auch zwischen den verschiedenen Frauenorganisationen.

Entsprechend unterschiedlich sind ihre Haltungen zu den Rechten von Frauen – je nachdem, ob der Koran aus ihrer Sicht keine, eine oder die Quelle des Rechts ist. Die Muslimbruderschaft in Ägypten befürwortete beispielsweise das Recht von Frauen, einer Berufstätigkeit nachzugehen, die salafistische Al-Nur-Partei hingegen lehnt dies ab [8] . Mitunter aber verkehren sich die gewohnten Fronten: In Tunesien etwa hat die islamistische Ennahda-Partei die Frauenquote befürwortet, während säkulare rechtsgerichtete Parteien die Quote zu blockieren suchen.

Gerade in Tunesien, wo es seit der Unabhängigkeit des Landes umfassende Frauenrechte gibt, steht im politischen Übergangsprozess viel auf dem Spiel. Hier ist die Polygamie bereits seit langem verboten, und seit 1965 ist die Abtreibung legalisiert. Um diese Freiheiten zu erhalten, rangen Aktivistinnen in Tunesien besonders hart um die neue Verfassung. Hieß es in einem ersten Entwurf der Verfassung noch, die Frau sei dem Mann „zur Seite gestellt“, so ist dieser Passus mittlerweile – auch dank des unermüdlichen Drucks der Zivilgesellschaft, allen voran von Frauenrechtsorganisationen – gestrichen. Die tunesische Nationalversammlung hat Anfang Januar nun mit 159 von 169 abgegebenen Stimmen einen Verfassungsartikel zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen beschlossen [9] . Das Ausmaß an Gleichberechtigung ist hier größer als anderswo in der arabischen Welt.

Welche Rolle der Islam in Gesellschaft, Verfassung und Rechtsprechung der neuen politischen Systeme spielen soll, ist aber nicht nur ein zentraler Streitpunkt zwischen den politischen Parteien und den Organisationen der Zivilgesellschaft, sondern auch zwischen den verschiedenen Frauenorganisationen untereinander.

So haben zahlreiche muslimische Frauenrechtlerinnen begonnen, tradierte Interpretationen des Koran und der islamischen Traditionen zu hinterfragen. Sie heben unter anderem hervor, dass die Gleichheit von Mann und Frau im Einklang mit dem Islam stehe. Damit weiten sie nicht nur den sozialen und rechtlichen Handlungsrahmen von Frauen aus, sondern stellen auch die Definitionsmacht der männlichen Patriarchen in Frage.

Demgegenüber verweisen andere auf die gottgegebene wesensmäßige Verschiedenheit der Geschlechter und deren Komplementarität [10] . Ebendiese Komplementarität steht einer Gleichberechtigung und Gleichbehandlung jedoch entgegen und ist damit ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung – auch und gerade im Streit um die tunesische Verfassung.

 

Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt

Eine der größten Herausforderungen in der Region bleibt die sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, aber auch gegen Jungen und Männer. Sie ist nicht neu, sie hat aber unter den Bedingungen des Umbruchs neue Dimensionen angenommen. Sexualisierte Gewalt als Waffe in politischen Umbruchsituationen ist ein globales Problem, die arabischen Transformationsländer stellen hier keine Ausnahme dar. Allerdings leiden Frauen und Kinder hier besonders unter Unsicherheit und Gewalt – häuslicher wie militärischer. Die sexualisierte Gewalt reicht dabei von sogenannten Jungfrauentests bis hin zu Vergewaltigungen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht und kann es gar nicht geben: Viele Übergriffe werden nicht gemeldet oder sie können nicht zur Anzeige gebracht werden, etwa weil das Opfer den Überfall nicht überlebt.

Auch die Flüchtlinge sind massiver physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind rund 2,3 Millionen Menschen in die Nachbarstaaten geflohen, innerhalb des Landes sind schätzungsweise 4,25 Millionen Menschen auf der Flucht [11]. Das Syrian Network for Human Rights berichtet von rund 4000 Vergewaltigungen. Zudem werden in den Flüchtlingslagern regelmäßig Mädchen im Alter von zwölf Jahren und jünger verheiratet. Auch die unabhängige Untersuchungskommission der UNO hält in ihrem Bericht vom August 2013 fest, dass sexualisierte Gewalt im Syrienkonflikt eine große Rolle spielt. Vermutet wird eine hohe Dunkelziffer [12].  Darüber hinaus trifft der Zusammenbruch der Wirtschaft und der Gesundheitsversorgung Frauen überproportional stark.

Auch in Libyen wurden und werden Frauen während der militärischen Auseinandersetzungen Opfer von Übergriffen. Laut der Menschenrechtsorganisation International Federation for Human Rights (FIDH), die im Juli 2011 gemeinsam mit der tunesischen Organisation Association tunisienne des femmes démocrates (ATFD) Interviews mit Libyerinnen durchführte, entschieden sich zahlreiche Frauen aus Furcht vor Vergewaltigung durch Regimekräfte für die Flucht nach Tunesien [13].

Doch nicht nur von bewaffneten Kämpfern droht den Frauen Gefahr, sondern auch von der eigenen Familie. Weil Vergewaltigungen und sexualisierte Kriegsgewalt in vielen Ländern der Arabischen Revolutionen einem gesellschaftlichen Tabu unterliegen, kam es in einigen besonders brutalen Fällen sogar zum Mord an Frauen durch ihre männlichen Familienangehörigen. Diese verübten die Taten aus dem Motiv heraus, die Familienehre zu bewahren – mitunter sogar präventiv. So tötete ein Junge während der Kriegswirren in Libyen seine Schwester, um sie vor der Vergewaltigung durch anrückende Gaddafi-Kräfte zu bewahren. Die von sexueller Gewalt Betroffenen erhalten aufgrund des gesellschaftlichen Tabus zudem meist keinerlei Unterstützung [14]. Mitte Februar 2011 kamen Frauen in Tripolis zu einer stummen Kundgebung zusammen, um gegen die Missstände zu protestieren. Sie forderten Unterstützung für die Opfer und Strafverfolgung der Täter. Getan hat sich seither wenig. Ein Gesetz, das den Betroffenen finanzielle Unterstützung verspricht, schiebt das Parlament seit Monaten auf die lange Bank [15].

In Ägypten ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen ebenfalls ein großes Problem. Während der Demonstrationen im Vorfeld und im Nachgang des Sturzes des Mubarak-Regimes wurden Demonstrantinnen immer wieder sexuell belästigt. So wurden Frauen, wenn sie verhaftet wurden, unter anderem gezwungen, sich zu entkleiden und sich „Jungfrauentests“ zu unterziehen – diese wurden von Männern durchgeführt. Human Rights Watch berichtet, dass während Demonstrationen gegen Mursi Ende Juni 2013 in gerade einmal vier Tagen 91 Frauen auf dem Tahrir-Platz vergewaltigt oder sexuell belästigt wurden [16].

Doch es gibt auch Gegenwehr: Ägypterinnen und Ägypter schlossen sich bereits 2010 zur Initiative HarassMap zusammen, um gegen sexualisierte Gewalt – und deren gesellschaftliche Duldung – einzutreten. HarassMap dokumentiert Übergriffe und betreibt Aufklärungsarbeit in Gemeinden, um so das Eintreten gegen sexualisierte Gewalt zu fördern [17].

Politische Partizipation von Frauen

Langfristig wird diese Gegenwehr jedoch nur Erfolg haben, wenn Frauen auch in gesellschaftliche und politische Machtpositionen gelangen. Tatsächlich birgt der Arabische Frühling die Chance, die Beteiligung von Frauen zu verbessern – gerade weil er der Hoffnung auf Demokratisierung und politischer Liberalisierung entspringt. Bislang fallen die Erfolge jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich aus.

Als im Oktober 2011 in Tunesien die ersten freien Wahlen zur Übergangsregierung und verfassunggebenden Versammlung anstanden, nahmen Frauen als Wählerinnen, Kandidatinnen und Beobachterinnen teil. Erstmals sollten die Wahllisten paritätisch besetzt werden. Diese Regel wurde zwar nicht immer eingehalten, zudem waren Frauen meist auf den unteren Listenplätzen vertreten. Gleichwohl trug diese Regelung dazu bei, dass über 27 Prozent der Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung Frauen sind. (Ein Großteil von ihnen gehört der islamistischen Ennahda-Partei an.) [18] 

Ähnliche Erfolge, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie in Tunesien, können die Frauen in Libyen verbuchen. Patriarchale und tribale Strukturen und konservative Wertevorstellungen verhinderten zur Zeit des Gaddafi-Regimes weitgehend, dass Frauen Zugang zum öffentlichen und politischen Leben erhielten. Doch am Sturz des Gaddafi-Regimes beteiligten sich auch viele Frauen; sie setzten sich dafür ein, in den neuen politischen Institutionen vertreten zu sein.

Als 2012 der Nationalkongress neu gewählt wurde, traten Frauengruppen vehement für eine Quotierung der Wahllisten ein. Im Ergebnis sieht das Wahlrecht nun Geschlechterparität vor: Alle Parteien sind demnach verpflichtet, ihre Wahllisten abwechselnd mit weiblichen und männlichen Kandidaten zu besetzen. Am Ende standen 600 Frauen zur Wahl; zudem waren 45 Prozent der registrierten Wähler weiblich. Das Engagement unzähliger Frauen hat sich ausgezahlt: 33 der 200 Sitze des nationalen Kongresses gingen an Frauen, das entspricht 16,5 Prozent [19].

Ganz anders sieht es in Ägypten aus. Obwohl Frauen aktiv an den Protesten beteiligt waren, sich als Teil der „Straße“ gegen das Mubarak-Regime wehrten, wurden sie weitgehend vom politischen Transitionsprozess ausgeschlossen. Keine einzige Frau war im Rat zur Verfassungsänderung vertreten, der 2011 nach dem Umsturz einberufen wurde. Eine Quote für Frauen auf Wahllisten wurde ebenfalls nicht umgesetzt.

Als zum Jahreswechsel 2011/12 in Ägypten ein neues Parlament gewählt wurde, erzielten islamistische Parteien 70,4 Prozent der Stimmen. Stärkste Kraft wurde die Muslimbruderschaft, die gemeinsam mit ihren Bündnispartnern knapp 46 Prozent der Stimmen erhielt. Auf Platz zwei landete die radikal-islamische Al-Nur-Partei, die zusammen mit anderen kleineren Parteien aus dem Lager der radikal-islamischen Salafisten rund 25 Prozent der Sitze gewann [20] – auch mit den Stimmen von Millionen Frauen. Der Anteil der Frauen im Parlament hat sich mit dem Machtwechsel sogar verringert: Nur 35 Frauen – das entspricht lediglich neun Prozent der Abgeordneten – wurden ins ägyptische Parlament gewählt, unter Mubarak waren es noch zwölf Prozent gewesen. Allerdings löste der ehemalige Präsident Mursi das Parlament im Juni 2013 wieder auf. Nach dessen Sturz erarbeitete der „Ausschuss der 50“ einen neuen Verfassungsentwurf. Ihm gehören Regierungsvertreter und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an, darunter auch einige wenige Frauen. Im Januar nahm die ägyptische Bevölkerung den Entwurf mit großer Mehrheit an [21]. Die neue Verfassung garantiert demnach die Gleichheit von Mann und Frau in allen Bereichen. Eine parlamentarische Quote für Frauen findet sich darin jedoch nicht [22].

In Syrien wiederum liegen die politischen Prozesse aufgrund des Bürgerkriegs weitgehend brach. Dennoch wird hinter den Kulissen und von unterschiedlichen Kräften am Aufbau neuer politischer Institutionen gearbeitet. Frauen sind im Oppositionsbündnis wie dem Syrischen Nationalrat vertreten. Darunter auch Suheir Atassi und Basma Kodmani. Suheir Atassi hat im März 2013 als erste Frau eine Sitzung der Arabischen Liga geleitet, nachdem der Sitz Syriens an die Syrische Nationalkoalition überging, das Oppositionsbündnis, das sich Ende 2012 gründete und in dem auch der Syrische Nationalrat vertreten ist. Basma Kodmani hingegen war bis August Sprecherin des Syrischen Nationalrates. Sie trat zurück, da sie der Organisation Glaubwürdigkeitsverlust vorwarf. Atasi und Kodmani sind zwei prominente Beispiele für die Partizipation von Frauen in der syrischen Politik; gleichwohl werden die Gremien nach wie vor von Männern dominiert. Sollten die internationalen Friedensverhandlungen in Genf erfolgreich sein, müssen auch Frauen – ganz im Sinne der UN-Resolution 1325 – am Verhandlungstisch sitzen und über ihre Rolle in der künftigen syrischen Gesellschaft mitreden. Die Resolution sieht vor, Frauen gleichberechtigt in Friedensverhandlungen einzubeziehen.

Fest steht: In allen Ländern des Arabischen Frühlings ist die gesellschaftliche Stellung der Frau nach wie vor umkämpft. Überall sind islamische Kräfte auf dem Vormarsch, die deren Rechte beschneiden oder verhindern wollen, dass Frauen welche erhalten. Mitunter wussten starke Frauenbewegungen die Angriffe konservativer Kräfte erfolgreich abzuwehren und die Umbruchprozesse zur Verbesserung ihrer Lage zu nutzen. Damit diese Erfolge nachhaltig sind, müssen die Frauen vor Ort allerdings noch viel Überzeugungsarbeit leisten – sowohl bei den Männern als auch den Frauen in der arabischen Welt.
 

* Ich danke Claudia Rolf für die Mitarbeit an dem Beitrag.

 

Fußnoten:

 [1] Vgl. J. Michael Totten, The Woman Who Blew Up the Arab World, in: „World Affairs Journal“, 17.5.2012, www.worldaffairsjournal.org.

[2] Human Rights Watch, Libya: June 1996 Killings at Abu Salim Prison, 27.6.2006.

[3] Vgl. FIDH, Women and the Arab Spring: Taking their Place?, Paris 2012, S. 27.

[4] Muriel Asseburg, Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, SWP-Studie, Juli 2011, S. 10.

[5] Vgl. Asseburg, a.a.O., S. 9 f.

[6] Die ethnischen Friktionen sind sicher auch ein wichtiger Faktor, zu dem jedoch bislang nur wenige geschlechterdifferenzierte Analysen vorliegen.

[7] Renate Kreile, Empowerment und Ausschluss – Islamistische Frauen und die Politik der Frömmigkeit in Ägypten, in: „iz3W“, 4/2013, www.iz3w.org.

[8] Vgl. Care International, Arab Spring oder Arab Autumn? Women‘s political participation in the uprisings and beyond: Implications for international donor policy, Geneva 2013.

[9] Deutsche Welle, Tunesien schreibt Gleichberechtigung fest, 6.1.2014.

[10] Vgl. Kreile 2006, a.a.O.

[11] 2Vgl. UNHCR, UNHCR continues to reach toughest areas of Syria, races to provide winter aid, 22.10.2013 sowie UNHCR, Syrien-Krise: Größter UN-Spendenaufruf aller Zeiten, 16.12.2013.

[12] Die Organisation Women under Siege arbeitet an der Dokumentation der sexualisierten Gewalt in Syrien und hat eine Crowdmap erstellt, über die auch Fälle von sexualisierter Gewalt gemeldet werden können, www.womenundersiegesyria.crowdmap.com.

[13] Vgl. Fidh 2012, a.a.O., S. 27.

[14] Ebd.

[15] Vgl. Christina Hering, Libyen steht vor neuen Herausforderungen, in: Amica-Beilage zur taz, 11.12.2013.

[16] Human Rights Watch, Egypt: Epidemic of Sexual Violence, www.hrw.org, 3.7.2013; vgl. auch: Fast 100 sexuelle Übergriffe am Tahrir-Platz, www.zeit.de, 3.7.2013.

[17] Vgl. HarassMap, www.harassmap.org/en.

[18] Vgl. UNICEF 2011: Tunisia – MENA Gender Equality Profile, www.unicef.org/gender/files/Tunisia-Gender-Eqaulity-Profile-2011.pdf.

[19] Human Rights Watch, A Revolution for All: Women’s Rights in the New Libya, 2013, S. 12 und 16, www.hrw.org.

[20] Islamisten gewinnen Wahlen in Ägypten, www.zeit.de, 21.01.2012.

[21] Vgl. 98 Prozent für die neue Verfassung, www.tagesschau.de, 19.1.2014.

[22] Vgl. Ägypten erhält neue Verfassung, www.tagesschau.de, 30.11.2013.

 

Hinweis: Dieser Beitrag erschien zunächst in  Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 2/2014, S. 81-89