"Die Männer werden ihre Macht nicht mit uns teilen wollen"

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Demonstration kurdischer Frauen in Berlin, aufgenommen 2011
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Demonstration kurdischer Frauen in Berlin, aufgenommen 2011

Im Interview spricht die KAMER-Gründerin Nebahat Akkoç über ihren 30-jährigen Kampf um Frauenrechte, die endlose Wut der Frauen auf die Politiker und den Problemen von Politikerinnen.

In der Türkei gibt es heute eine sehr starke Frauenbewegung. Vor allem die kurdische  betreibt in vielen Gebieten eine einflussreiche Politik. Wie sahen die Anfänge der kurdischen Frauenbewegung aus?
Wenn Sie mich zu der kurdischen Frauenbewegung zählen, stimmt das nur teilweise. Wir haben KAMER von Anfang an absichtlich nicht “kurdische” KAMER genannt. Denn es gibt Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft oder Glaubensrichtungen. Wir wollten keine der Frauen ausschließen.

Vor 1980 gab es im Grunde genommen schon ernsthafte Frauenaktivitäten. Der Progressive Frauenverein (IKD, Ilerici Kadinlar Dernegi,[die Frauenorganisation der TKP, Anm.d.Übers.) machte sehr gute Arbeit in der Region. Aber nach 1980 hat die zweite Welle des Feminismus uns unddie Türkei insgesamt beeinflusst. Wir gründeten KAMER als erste, unabhängige Frauenorganisation,  die häusliche Gewalt auf die Tagesordnung brachte. Die Frauen waren derart auf der Suche und bereit, Gewalt in ihrem eigenen Leben wahrzunehmen, dass viele Frauen Unterstützung bei KAMER suchten und auch zahlreiche Frauenorganisationen gründeten. Ich denke, dass die schwierigen Lebensbedingungen, der Krieg selbst und die Allgegenwärtigkeit der Gewalt uns in diese Suche nach Auswegen drängten. Ich stimme der Theorie, dass der Krieg habe die Frauen befreit habe, nicht zu. Aber der Krieg lässt die Frauen so sehr verzweifeln, dass sie nach verschiedenen Auswegen suchen. Aus dieser Suche entwickelte sich die Frauenbewegung.  

Gibt es Unterschiede zu Frauenorganisationen anderer Länder?
Wenn ich mir die Frauenorganisationen in der Welt vor Augen führe, fallen mir zwei Dinge auf: Ein Teil organisiert sich zunächst ausschließlich um den Kampf gegen häusliche Gewalt und knüpft dann an die Kriege auf der Welt und im eigenen Land an. Die anderen entstehen aus dem Krieg heraus, hinterfragen die Gewalt und fangen so an, die Rolle von Frau zu hinterfragen. Beiden ist gemeinsam, dass sie im Laufe ihrer Überlegungen andere Formen von Gewalt zu hinterfragen beginnen. Die Frauen merken, dass sich die Gewalt immer aus derselben Quelle nährt. Auf den Bergen, in Untersuchungshaft, in der Familie, beim Mobbing am Arbeitsplatz – es ist das sexistische System, das die Gewalt alltäglich macht und immer wieder reproduziert.

Als eine Frau, die seit langem in Ost- und Südostanatolien mit Frauen an der Basis arbeitet: Wie beeinträchtigt Ihrer Erfahrung nach der bewaffnete Konflikt das Leben der Frauen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen männlicher Gewalt, im Namen von Ehre begangenen Morden, bewaffneten Konflikten, Krieg und Militarismus?
Ja, diesen Zusammenhang erfährt man auf bemerkenswerte Weise im eigenen Leben. Als ich über Militarismus nachdachte, fiel mir sehr deutlich die Gemeinsamkeiten auf zwischen den Militärputschen und der Armee mit ihrer auf Befehl und Gehorsam basierenden Hierarchieeinerseits und der Funktionsweise der traditionellen, autoritären Familienstruktur auf der anderen Seite. In beiden Systemen existieren Befehlshaber und -empfänger. Ungehorsam wird bestraft. Mord im Namen der Ehre hat hier seinen Ursprung.
Als eine, die dort lebt, benötigte ich sechs oder sieben Jahre intensiver Arbeit, bis ich diese Zusammenhänge erkannte. Ich habe mir immer die Frage gestellt: „Gut, es gibt immer Gewalt, aber woher kommen die Ehrenmorde?“ Dann habe ich verstanden, dass es keinen spezifischen Grund gibt: Wer nicht pariert, der wird umgebracht. Das System funktioniert von oben bis unten auf eine sehr ähnliche Art und Weise.

In der Türkei wurden in den 80er und 90er Jahren Frauen anstelle ihrer Ehemänner oder Söhne festgenommen. Wenn ein Mann in Haft nicht zum Reden gebracht werden konnte, wurde die Frau geholt. Die Frauen wurden vor den Augen ihrer Ehemänner oder Söhne sexuell belästigt und vergewaltigt. Frauen wurden wie Waren behandelt und wegen Unterstützung von Terror verurteilt.

Wie kam die Wende?
Es passierte etwas, dessen Folgen wir immer noch auf eine sehr radikale Weise erleben: Die Männer gingen fort, wurden inhaftiert, sind in die Berge gegangen oder geflohen… Die Frauen aber, sie blieben mit ihrem Leben allein zurück. Das brachte einen vollkommen unvorhergesehenen Rollenwechsel mit sich. Die Frauen mussten Rechtsanwälte besorgen, Gefängnisbesuche machen, ihre Kinder ernähren. Aber, Probleme machen ja bekanntlich stark. Die Frauen sind hieraus erstarkt hervorgegangen. Sie verließen ihre Häuser und ließen sich nicht wieder einsperren. Das sind die Frauen, die wir heute in der Region auf der Straße protestieren sehen.
Hat die häusliche Gewalt durch den Krieg zugenommen? Ja, sie hat meiner Meinung nach zugenommen. Untersuchungen belegen, dass allgemein vorherrschende Gewaltsituation auch die Gewalt im Privaten eskalieren lässt. Die Gewalt wird zu einem Mittel der Kommunikation und zum Instrument, sein Recht durchzusetzen. Sie wird normaler Bestandteil unseres Lebens

Sie haben gesagt, dass der Krieg die Sensibilität der Frauen für Gewalt geschärft habe. Wie hat sich das auf den Kampf der Kurden ausgewirkt?
Die Frauen sind auf die Straße gegangen, haben demonstriert, um Rechenschaft für das Leid ihrer Männern und Söhne einzufordern. Die Frauen denken, dass jede Veranstaltung oder Demo, an der sie sich beteiligen, zur Lösung des Kurdenproblems beiträgt. Sie nehmen nicht daran teil, nur damit etwas getan oder gesagt wird. Die Schläge, Tränengas, Verhaftungen, die Erniedrigungen in Polizeihaft, all das Leiden hat der Bewegung eine Dynamik verliehen.

Was leisten die Frauen noch?
Nicht nur die kurdische Bewegung, auch das Aufsteigen der Regierung mit ihrem hohen Stimmenanteil basiert eigentlich auf der Leistung von Frauen. Dort klafft eine andere offene Wunde: Die Kopftuch tragenden Frauen waren aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Solange sie zuhause oder in dritt- oder viertklassigen Arbeitsplätzen beschäftigt waren, störten sie niemanden. Erst als sie ihr Recht auf Bildung wahrnehmen und arbeiten wollten, da wurden sie sichtbar. Und ab dem Moment entstand das Unbehagen in der Gesellschaft. Die AK Partei (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) erstarkte als politische Bewegung durch die Ausgrenzung, Diskriminierung und Wut der Frauen. Wir haben die Kampagne namens “Ohne Kopftuch keine Stimme” unterstützt (Diese Kampagne forderte die Aufstellung von Kandidatinnen mit Kopftuch auf aussichtsreichen Listenplätzen der AKP, Anm.d.Übers.). Die AK Partei hat diese Kampagne jedoch nicht unterstützt. Sie setzen den Frauen sorgfältig Grenzen.  

Die politische Macht liegt in den Händen der Männer. Sie sagen nichts anderes als: “Gut, ihr könnt in die Parteiversammlung, ihr könnt Gründungsmitglied werden und auch an den Universitäten studieren, aber fordert nicht unsere Sitze.”

Wie steht es diesbezüglich um die kurdische Bewegung?
Ich sehe mich als emanzipierte Frau und das hat viel mit dem Leid zu tun, das ich durchgemacht habe. Ich habe mich auf den Weg gemacht, um über Gewalt in der Familie zu reden und wurde ausgegrenzt. Ich habe dies am eigenen Leib erfahren. Wer sich als unabhängige Frau an eine neue, emanzipierte Politik heranwagt, wird das erleben, was ich erlebt habe.

Die kurdische Partei BDP scheint großen Wert auf Gechlechtergleichheit zu legen. Wie denken Sie darüber?
Die BDP hat eine Quotenregelung und eine Doppelspitze. Das sind effektive Maßnahmen. Die BDP und ihre Vorgänger, die HEP, HADEP oder die DEP kämpfen für Menschenrechte und Demokratie. Wir sprechen von einer Bewegung, deren fundamentale Rechte missachtet wurden. Insofern musste sich die BDP auf die Gleichheit von Mann und Frau stützen, denn Demokratie bedeutet Gleichheit. Ich respektiere dies sehr und denke, die BDP kann damit auch ein Vorbild für die anderen politischen Parteien sein.  
Andererseits weiß ich nicht, was die Frauen in der BDP machen würden, wenn sie die Dinge von meiner Warte aus betrachten würden. Vielleicht sind meine Erfahrungen mit der damaligen Zeit zu erklären. Ich weiß es nicht.  

Zur Zeit des Ausnahmezustandes, als die Männer gegen den Staat kämpften und ihre Aktivitäten durchführten, haben sich die Frauen bei Ihnen über ihre Männer beklagt und Sie mussten sich beim Staat über diese Männer beschweren. Hat das zu Reaktionen geführt? Wie sind Sie damit umgegangen?
Es gehört zu unseren Prinzipien, dass wir nur auf ausdrücklichen Wunsch einer Frau eine Beschwerde gegen einen Mann einreichen. Aber wenn es auf Messers Schneide steht und die Frau sagt, “Ich habe Angst, er wird mich umbringen”, dann stellen wir uns nicht gegen eine Anzeige.

Unsere Mission war immer, der Frau beim Überleben zu helfen. Wenn der potentielle Täter Kurde war, machte es doch aus einem Mord oder Totschlag nichts Besseres! Das war egal. Die Frau musste an einen sicheren Platz gebracht werden, das zählte. Wir hinterfragen nicht die ethnische Identität oder den Glauben, mit der sich die Frauen geborgen fühlen. Wenn ihr potentieller Mörder ein Kurde war und türkische Sicherheitsleute für ihre Sicherheit sorgten, ist das nicht unser Problem. Wir stießen auf negative Reaktion, kümmerten uns aber nicht darum.   

Im Kampf gegen Grundrechtsverletzungen erscheinen Frauen an sichtbarer Stelle. Im Kampf der Arbeiter, gegen Wasserkraftwerke , bei den Kundgebungen zur Erinnerung an die in Polizeigewahrsam Verschwundenen, in den Gerichtsprozessen gegen häusliche Gewalt – überall sehen wir Frauen. Womit hängt das zusammen?
Wir sind Menschen, die jahrelang zuhause gesessen sind. Nun wachen wir auf. Die Frauen im Kurdengebiet nehmen jetzt nicht nur die Probleme in ihrem eigenen Leben wahr, sondern auch die draußen. Die Frauen entwickeln einen Widerstand gegen Ungerechtigkeiten allgemein. Sie agieren mutiger, überzeugter als früher.  

Der Ministerpräsident,der jetzige Staatspräsident Erdogan, hat die Frauen oder besser gesagt die Mütter um Unterstützung für den Friedensprozess mit den Kurden gebeten. Wie bewerten Sie seine Rede und seinen Appell? Meint er damit eine konkrete Unterstützung oder ist das eher allgemein zu verstehen?
In seiner Rede benutzte er Worte, die mir sehr gut gefallen haben: „Frauen aus der Türkei“, „Mütter aus der Türkei“. Ich habe nur diese Worte wahrgenommen. Den Rest der Rede habe ich kaum beachtet. Ich hoffe, dass er diese Worte beibehält.
Er spricht in der Politik die Mütter besonders an, aber unsere Unterstützung braucht er nicht explizit einzufordern. Wir Frauen fordern ohnehin weltweit unseren Platz am Verhandlungstisch. Es ist nicht seine Rede, die uns antreibt. Als Frauen ist es unsere Pflicht und unser gutes Recht, im Friedensprozess Wort zu ergreifen.  

Verhaftungswellen gegen kurdische Politiker im Rahmen des KCK-Verfahrens denken, Aufruhr nach den kurdischen Feiern wegen der Rückkehr bewaffneter PKK-Kämpfer aus dem Nordirak, Debatten über die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter: Bisher hat sich in der Türkei nach jeder „Öffnung“ die Situation angeheizt. Bei dem jüngsten Prozess hingegen sprechen alle von Frieden. Wie bewerten Sie das?
Momentan schweigen die Waffen. Das ist ein Prozess, der den Weg für Frieden eröffnet. Sowohl die BDP als auch die AK Partei und die Kommentatoren, sie alle sind sehr vorsichtig. Denn die Enttäuschung nach dem Debakel um die Rückkehr der Kämpfer war wirklich groß. Ich glaube daran, dass dieser Prozess Realität wird und unterstütze ihn.

Was unterscheidet die heutigen Friedensbemühungen von früheren?
Alle haben eingesehen, dass ein Fortgang des Krieges zur Schwächung des Landes beiträgt und eine starke Position der Türkei in der neuen Weltordnung gefährdet. Ich denke, das ist der Hauptgrund.
Der Ministerpräsident hat zwar im Nahen Osten eine bedeutende Rolle erlangt, aber dort gibt es viele Unbekannte. Die russisch-iranische Allianz, die Syrienfrage – das ist keine besondere Aussicht für die Türkei. Wenn sie im Land selbst Demokratie und Frieden schaffen kann, wird das ihre Position in der Welt stärken. Ich denke, das ist die eigentliche Motivation.

Man spricht oft von fehlendem Vertrauen gegenüber dem Staat. Wie bewerten die Menschen in Ost- und Südostanatolien, die den Krieg hautnah erlebt und am meisten darunter gelitten haben, diese jüngsten Friedensbemühungen?
Es sieht so aus, als sei der gegenwärtige Friedensprozess festgefahren in der Frage nach der Einstellung des bewaffneten Kampfes. Die Menschen denken, dass selbst wenn ihre Kinder nicht nach Hause zurückkehren, so sterben sie doch zumindest nicht mehr irgendwo in den Bergen. Alle freuen sich darüber und haben hohe Erwartungen. Das Danach wird ehrlich gesagt noch nicht diskutiert.
Für die BDP ist es schwierig, ihrer auf Feindschaft gegenüber der AK Partei aufgebauten politischen Sprache zu etwas weicheren Tönen zu finden. Mildere Töne in der Politik wären gut, das reduziert die Spannung.  

Mildert das auch die Spannungen in der Basis?
Selbstverständlich. Diese Spannungen hätte es überhaupt nicht geben sollen. Das ist nicht die richtige Art, Politik zu betreiben. Und ich meine damit beide Seiten.

Nach Veröffentlichung der Gesprächsprotokolle der Oslo-Gespräche zwischen der Regierung und der PKK wurde zunehmend Transparenz in den Verhandlungen gefordert. Wie bewerten Sie diese Forderungen?
Die Veröffentlichung der Gesprächsprotokolle war ein vollkommen unerwarteter Schlag ins Gesicht. Ich denke, aus Gründen der Sicherheit können manche Dinge durchaus geheim bleiben. Es gibt auf beiden Seiten Kreise, die den Frieden sabotieren wollen. Es ist auch nicht schwer sich auszumalen, wer diesen Prozess hintertreiben möchte. Ich muss zum Beispiel keine Einzelheiten darüber wissen, wie der Rückzug der bewaffneten PKKler vonstattengehen soll. Was wirklich transparent gestaltet werden muss, ist die Zeit nach dem Waffenstillstand. Noch sind wir nicht so weit.

Wäre es besser gewesen, die Protokolle wären geheim geblieben?
Manchmal denke ich das. Öcalan hat seinen eigenen Gesprächsstil und er ist seit Jahren isoliert; er hat im Vertrauten geredet, ohne dass er an eine Veröffentlichung seiner Worte dachte. Was hat die Veröffentlichung denn gebracht? Das ist nur Wasser auf die Mühlen der Friedensgegner.

Welche Schritte müssen nach einem bleibenden Waffenstillstand unternommen werden,  um die Wunden des seit 30 Jahren andauernden Krieges zu heilen?
Wenn die Waffen schweigen, werden die Menschen erst einmal zwangsläufig weinen. Denn erst dann werden sie begreifen, dass sie ihre Söhne und Töchter verloren haben und sie unwiederbringlich fort sind.  

Es gibt ein aufgestautes Leid. Man muss Möglichkeiten schaffen, dass die Menschen dieses Leid verarbeiten können. Ich habe zum Beispiel Folgendes vorgeschlagen: In den 80er Jahren nach dem Militärputsch war das Leid extrem groß. Öffnet die Tore des (für seine grausamen Foltermethoden bekannten) Gefängnisses in Diyarbakir. Lassen wir die Menschen hinein, sie sollen sich ausweinen, an den Mauern entlanggehen. Wir müssen viele Ideen entwickeln, um das Leid zu mildern, den Zorn der Menschen zu entladen. Beide Seiten müssen sich treffen, auf beiden Seiten müssen Wahrheitskommissionen gegründet werden.

Werden die Waffen Ihrer Meinung nach dieses Mal für immer schweigen?
Ich denke, dass das Ganze dieses Mal im Vorfeld gut durchdacht wurde. Die PKK bringt ihre bewaffneten Leute außer Landes. So kann keiner mehr nach einem Anschlag, einer gezielten Provokation im Land sofort mit dem Finger auf die PKK zeigen. Der Staat muss sich nun um Saboteure kümmern. Ich glaube nicht, dass die PKK den Prozess abbrechen wird.   

Und was werden dann die Frauen in dem Friedensprozess fordern?
Wie gesagt, konzentrieren wir uns derzeit nur auf einen anhaltenden Waffenstillstand. Über den Prozess danach können wir später sprechen. Aber dennoch liegt die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht auf dem Tisch, das ist eindeutig.

Ebenso klar liegt die Forderung nach einer neuen Definition dessen auf der Hand, wie die Staatsbürgerschaft in der türkischen Verfassung definiert wird. Eine Staatsbürgerschaft, mit der sich alle identifizieren können. Für die politische Beteiligung der Frau brauchen wir die Quote; die „Ein-Mann-Politik“ muss beendet werden, die Zehn-Prozent-Klausel muss beseitigt werden. Die Anzahl an Einrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen muss erhöht werden. Außerdem brauchen wir mehr Frauenhäuser und noch viele andere Maßnahmen. Wenn der Friedensprozess einmal begonnen hat, werden wir über viele Dinge reden müssen. Dann müssen die Hindernisse vor einer partizipatorischen Demokratie weggeräumt werden, das steht fest.

Was passiert, wenn den Frauen die Teilnahme am Friedensprozess verwehrt wird?
In der Türkei beginnt eine neue Zeit. Alles wird neu geordnet werden. Wir kopieren also kein vergangenes Modell, wir haben keine Vorbilder. An Verhandlungstischen, an denen keine Frauen sitzen, können keine richtigen Beschlüsse gefasst werden; das wäre defizitär und ungleich. Und Defizite führen immer zu Fehlern. Man wird uns natürlich nicht problemlos an den Tisch lassen. Das ist eine Männerwelt. Die Männer werden ihre Macht nicht mit uns Frauen teilen wollen. Also werden wir es erzwingen müssen.

Warum wollen die Männer ihre Macht nicht teilen?
Die Frauen denken seit zwanzig, dreißig Jahren über Gender-Fragen nach, aber die Männer scheuen sich noch immer davor. Gesellschaftliche Geschlechterrollen tangieren nicht nur die Rollen von Frauen, es geht dabei auch um die Rolle der Männer. Frauen sind sich ihrer Rolle bewusst geworden, sie haben verstanden, wie sie zu zweitklassigen Menschen wurden, wie Gewalt reproduziert wird und wie sie diskriminiert wurden. Aber es gibt so wenige Männer, die über ihre Rolle nachdenken. Auch sie müssen ihre Wahrnehmung schärfen.

Es gibt unter den bewaffneten PKKlern nicht gerade wenige Frauen. Welche Rolle kommt der weiblichen Guerilla in dem Lösungsprozess zu?
Auch sie werden sich, wie die anderen bewaffneten Einheiten, aus der Türkei zurückziehen. Aber ich bin mir sicher, dass sie bereits innerhalb der PKK einen Kampf um Gleichberechtigung führen. Wir haben in den Medien gelesen, dass Sakine Cansiz , eine der drei PKK-Frauen, die in Paris im Jahr 2013 ermordet wurden, an führender Stelle der Frauenbewegung innerhalb der PKK war. Für die Revolution waschen Frauen sogar noch Geschirr. Sie sind nicht gleichberechtigt.

Was bedeutet „Frieden“ für Sie persönlich?
Eine Welt, in der sich jede/r in Sicherheit fühlt, in der er/sie auf seine/ihre eigene Art und mit allen Besonderheiten frei leben kann.

 

Das Gespräch führte  Çiçek Tahaoğlu für bianet, 21. März 2013