Häusliche Betreuung in Deutschland auf dem Rücken osteuropäischer Frauen

Plakat "Faircare - für eine gute, gerechte und legale Beschäftigung osteuropäischer Betreuungskräfte.
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Plakat "Faircare - für eine gute, gerechte und legale Beschäftigung osteuropäischer Betreuungskräfte"

Adriana (Name geändert) aus Rumänien ruft im Fraueninformationszentrum FIZ in Stuttgart an. Die Beraterin Renate Zäckel hebt ab und spricht mit ihr auf Rumänisch – Adriana ist erleichtert, denn ihr Deutsch ist nicht besonders gut, und sie ist aufgeregt. Eine Nachbarin hat ihr diese Telefonnummer gegeben und gesagt, dort gäbe es Beratung für Frauen wie sie, die alte Menschen zuhause pflegen und betreuen. Sie weiß nicht recht, was sie sagen soll, aber dann ist die Beraterin so freundlich, dass es einfach aus ihr herausbricht und sie ihre ganze Geschichte erzählt. Wie sie mit ihrem Mann vor gut drei Jahren einen Kredit für ein Haus aufnahm, das sie liebevoll renovierten. Endlich hatten sie ihr eigenes Zuhause. Doch kaum waren sie eingerichtet, verlor sie ihre Arbeit. Der Lohn ihres Mannes, 300 Euro im Monat, reichte nicht, um die Kreditraten und den Lebensunterhalt zu bestreiten. Was tun? Sollten sie das Haus verlieren und auf der Straße stehen? Adriana berichtet, wie sie überall Arbeit suchte, aber in Rumänien einfach nichts fand. Da wandte sie sich an eine Agentur in Rumänien, die Stellen in verschiedenen Ländern anbot. Und so ließ sie sich nach Deutschland zu einer Familie vermitteln, wo sie die Oma zuhause pflegen sollte.

Ob sie denn einen Vertrag hatte, fragt Renate Zäckel sie. Adriana weiß nun nicht so recht, wie sie antworten soll, dann sagt sie doch die Wahrheit: die Agentur stellte sie vor die Wahl, illegal zu arbeiten und mehr zu verdienen oder mit Vertrag und weniger Geld. Sie brauchte doch das Geld so dringend, also stimmte sie zu, ohne Vertrag zu arbeiten.

Wie es denn dann so ging bei der Arbeit, will Renate Zäckel wissen. Am Anfang war alles gut, erzählt Adriana, sie war so dankbar, endlich Arbeit zu haben, sie arbeitete Tag und Nacht. Nachdem die erste alte Frau verstorben war, arbeitete sie in drei weiteren Familien. Die Arbeit war hart, ja, und sie fühlte sich oft sehr einsam. Aber es ging irgendwie. Bis heute. Doch jetzt sei es anders – sie könne einfach nicht mehr. Ab da hört Renate Zäckel nur noch Schluchzen. Erst nach einer Weile fasst sich Adriana wieder und spricht weiter. Die Pflege des de­menzkranken Mannes, wo sie seit zwei Monaten ist, bringt sie ans Ende ihrer Kräfte. Von morgens bis abends wird sie von ihm beschimpft, als dumme Kuh, als fette Sau, als blöde Rumänin und so weiter. Er ist so aggressiv, dass sie aus Angst vor ihm meist nicht schlafen kann. Sie fürchtet, dass er sie mit seinem Stock schlägt oder sie ohrfeigt. Wenn sie ihn waschen soll, weiß sie nicht, wie sie es anstellen soll. Sie würde am liebsten sofort weggehen – aber was soll sie machen, sie braucht doch das Geld, sonst verliert sie ihr Haus, und was ist dann?

Renate Zäckel hält den Kontakt mit Adriana, sie telefonieren noch viele Male, einmal kann sie persönlich zur Beratung kommen. Renate Zäckel gibt ihr Informationen über die Arbeit mit demenzkranken Menschen. Sie ermutigt Adriana, nach all den Jahren, in denen sie sich Tag und Nacht für andere aufgearbeitet hat, auch einmal an sich zu denken und sich eine Pause zu gönnen. Gemeinsam erarbeiten sie einen Plan, wie sie und ihr Mann haushalten und den Kredit mit niedrigeren Raten bedienen können. Adriana schöpft neue Kraft und gesteht sich schließlich zu, das Arbeitsverhältnis zu beenden und erst einmal nach Hause zurückzukehren.

Bis zu 300.000 Frauen in ausbeuterischer Arbeit

Geschätzte 115.000 – 300.000 Frauen aus Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn oder anderen mittel- und osteuropäischen Ländern arbeiten in deutschen Haushalten (Verdi / Universität Oldenburg, Migrantinnen aus Osteuropa in Privathaushalten, S. 11). Hier passen zwei Puzzle-Teile perfekt zusammen: eine alternde deutsche Gesellschaft, in der Senior_innen so lange wie möglich zuhause bleiben wollen, deren Betreuung aber von den eigenen Angehörigen meist nicht bewältigt werden kann. Diese Lücke füllen Frauen aus Ländern mit wirtschaftlichen Problemen, die zuhause nicht genügend Geld verdienen können und deshalb bereit sind, zu migrieren. Die Arbeit im Privathaushalt hat dabei große Vorteile: sie ist für Frauen unkompliziert zugänglich. Sie brauchen dafür kein Zeugnis, das nach aufwändigen bürokratischen Verfahren anerkannt werden muss, es reicht, Frau zu sein – damit wird ihnen zugesprochen, für Pflege, Betreuung und Hausarbeit qualifiziert zu sein. Jede Frau, ob sie nun Ingenieurin ist oder Bürgermeisterin, Hausfrau oder Lehrerin, kann in der häuslichen Betreuung sofort Arbeit finden. Hinzu kommt, dass bei dieser Arbeit keine Wohnungssuche nötig ist, da die Betreuerinnen in der Regel im Haushalt der alten Menschen mitleben. Die einzige Qualifikation, die erwartet wird, sind Deutschkenntnisse, doch in der Not geht es auch ohne, und bei der Arbeit lernen die Betreuerinnen Tag für Tag ein paar Worte mehr.

Ungeregelte Beschäftigung mit vielen offenen Fragen

Diese Betreuungsverhältnisse werfen viele Fragen aus verschiedenen Perspektiven auf:

Im Blick auf die Betreuungskräfte:

Niemanden kümmert es, dass es sich hier um Arbeitsverhältnisse handelt, für die kein Arbeitsrecht zu gelten scheint. Es interessiert nicht, dass von den Frauen erwartet wird, mindestens sechs Tage, oft sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag bereit und präsent zu sein, oft ohne Urlaubsanspruch oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ein eigenes Privatleben ist dabei nicht möglich, eigene Bedürfnisse müssen völlig zurückgestellt werden. Das kann auf die Dauer nicht gehen, ohne dabei völlig erschöpft, ausgelaugt oder krank zu werden. Niemand prüft, ob der Gesundheitszustand des alten Menschen für so eine Betreuungsform überhaupt geeignet ist – gerade starke Demenz führt oft zu einer totalen Überforderung der Betreuerinnen. Niemand interessiert sich dafür, dass viele Betreuerinnen behandlungspflegerische Tätigkeiten – Medikamente geben, Verband wechseln etc. – übernehmen müssen, obwohl diese nur von medizinischem Fachpersonal ausgeführt werden dürfen und sich die Betreuerinnen damit strafbar machen.

Im Blick auf die alten Menschen:

Niemand interessiert sich dafür, inwieweit die Betreuerinnen für diese Arbeit qualifiziert sind - viele haben tatsächlich keine Qualifizierung für grundpflegerische Tätigkeiten, im besten Fall haben sie Erfahrung aus vorherigen Beschäftigungen. Wenn dann noch Sprachbarrieren hinzukommen, ist keineswegs garantiert, dass die alten Menschen gut versorgt sind.

Im Blick auf die deutsche Gesellschaft:

Niemanden stört es, dass Millionen Euro an Sozialabgaben und Steuern durch irreguläre Arbeitsverhältnisse verloren gehen. Eine gesetzliche Regelung und Subventionierung der häuslichen Betreuung würde Anreize für legale Beschäftigung schaffen und den illegalen Markt austrocknen, gleichzeitig würde dadurch auch Familien mit geringerem Einkommen eine legale Unterstützung durch eine Betreuungskraft  ermöglicht. Eine solche Bezuschussung würde nachgewiesenermaßen weniger kosten als durch Sozialabgaben in die öffentlichen Kassen zurück fließen würde.

Die Politik ignoriert die Problematik bisher völlig und lässt damit die deutschen Familien allein bei der Frage, wie sie die Betreuung ihrer alt gewordenen Familienmitglieder leisten können. So wird eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung auf die private, einzelne Familie abgeschoben, die zur Lösung oft keine andere Idee hat als zu tun, was alle tun – auf möglichst billigem Weg eine 24-Stunden-Kraft aus Mittel- und Osteuropa zu holen.

Vermittlungsagenturen machen riesige Gewinne auf dem Rücken der Frauen

Auf diesem boomenden Markt profitieren in erster Linie „Vermittlungsagenturen“ im In- und Ausland. Sie verdienen viel Geld, weil die deutsche Politik irreguläre Beschäftigungsverhältnisse duldet. Es gibt dabei verschiedene „Modelle“:

Manche Frauen arbeiten alleine oder durch eine Agentur vermittelt als „Selbständige“ – damit sind sie selbst für ihre Versicherungen und Versteuerung  zuständig, die deutsche Familie muss sich um nichts kümmern und außer dem Lohn nichts bezahlen. Oft sind die Frauen dann aber weder kranken- noch unfall- oder rentenversichert. Solche Tätigkeiten sind riskant und in der Regel als scheinselbständig zu werten.

Das derzeit häufigste Modell ist die Entsendung: eine Agentur beschäftigt die Betreuerin im Herkunftsland und entsendet sie zur Arbeit nach Deutschland. Dabei nutzen Agenturen die EU-Gesetzgebung zu ihren Gunsten aus, so dass die Betreuerinnen nur den dort üblichen Mindestlohn und zusätzlich „Spesen“ erhalten, von denen keine Steuern und keine Beiträge zur Sozialversicherung (etwa in die Rentenkassen) abgeführt werden. Dadurch ist dieses Modell preisgünstig, zur Freude der deutschen Familien. Auch hier würden die meisten Beschäftigungsverhältnisse einer Prüfung kaum standhalten, weil sie die Grunderfordernisse einer echten Entsendung nicht erfüllen (zum Beispiel müsste der überwiegende Teil des Personals im Herkunftsland tätig sein) und wären als illegale Arbeitnehmerüberlassung zu bewerten (Dr. Marta Böning). Dazu kommt, dass bei einer Entsendung die deutsche Familie gar nicht weisungsbefugt ist – nur Arbeitgeber_innen im Herkunftsland dürften der Betreuerin Aufgaben übertragen, was unrealistisch ist.

Die einzig sichere legale Beschäftigungsform, bei der die Familie die Betreuungskraft anstellt und Steuern und Sozialversicherungen abführt, ist durch die Bürokratie für viele Familien schwierig, dazu kostenintensiver und es bleibt die Frage, wie die Familie eine Betreuerin findet.

So greift die Mehrheit auf die so seriös wirkenden, aber de facto unseriösen Angebote der Agenturen zurück, was aus einem simplen Grund hervorragend funktioniert: Prüfungen im Privathaushalt und über die Grenzen hinweg sind schwierig und finden kaum statt. So kann die Profitmache munter weitergehen.

Es muss endlich gehandelt werden!

Berater_innen und wissenschaftliche Forscher_innen sind sich einig: es ist unglaublich, dass die deutsche Politik diese Zustände weiter hinnimmt. Sie setzen sich deshalb auf ganz verschiedene Weise für Verbesserungen ein:

Durch Beratung von Frauen, die in solch irregulären Beschäftigungsverhältnissen stehen, wie im Fraueninformationszentrum FIZ in Stuttgart oder bei den Anlaufstellen von Faire Mobilität des DGB. Durch Angebote von legaler und fairer Vermittlung wie bei „FairCare“ des Vereins für Internationale Jugendarbeit Württemberg e.V. oder Caritas24 in Soest, Olpe und Paderborn. Durch wissenschaftliche Studien wie an der Universität Oldenburg zu den rechtlichen Rahmenbedingungen. Durch Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit wie im Bündnis Faire Arbeitsmigration Baden-Württemberg, in dem sich kirchliche Verbände, Gewerkschaften und Beratungsstellen zusammengeschlossen haben, um das Thema in die Öffentlichkeit und in die Politik zu tragen.

Dennoch konnte noch keine ernsthafte Debatte in der Politik erzeugt werden. Das ist tragisch, ja unverantwortlich. So geht die Betreuung von 1,5 Millionen Pflegebedürftigen in Privathaushalten in Deutschland eben weiterhin seinen irregulären Gang – auf dem Rücken mittel- und osteuropäischer Frauen.

Ein Happy-End für Adriana

Adriana meldet sich nach einem Jahr erneut im FIZ. Sie suche wieder Arbeit, sie habe Kraft getankt und wolle es noch einmal mit der Betreuung in Deutschland versuchen. Aber nie mehr illegal! Renate Zäckel verhilft ihr zu einer legalen Stelle über die Fair­Care-Vermittlung beim Verein für Internationale Jugendarbeit. Hier gilt eine 40-Stunde-Woche, sie hat klar geregelte Arbeits- und Freizeit. Doch das Wichtigste: Adriana fühlt sich nun frei, weil sie legal arbeitet und versichert ist. Nie hätte sie gedacht, wie anders das ist! Plötzlich kann sie offen auf die Straße gehen, ohne Angst, entdeckt zu werden. Sie will einen Deutschkurs besuchen, sie hat wieder Freund_innen, mit denen sie einkaufen und neue Rezepte auszuprobieren kann. Alles ist anders – denn nun muss sie sich nicht mehr verstecken. Gerne würde Renate Zäckel viel mehr Frauen in solche Beschäftigungsverhältnisse bringen – aber zu wenige deutsche Familien sind bereit, sich auf eine eingeschränkte Arbeitszeit der Betreuerin einzulassen. Andere können es sich schlicht nicht leisten. Renate Zäckel seufzt: „Warum ist es in Deutschland normal geworden, Frauen aus Mittel- und Osteuropa ausbeuterisch zu beschäftigen? Ihnen stehen die gleichen Arbeitsrechte zu wie uns – davor können wir nicht länger die Augen verschließen!“


Literatur / Informationen:

Migrantinnen aus Osteuropa in Privathaushalten. Problemstellungen und politische Herausforderungen. März 2014. Dr. Marta Böning, DFG-Projekt »Rechtliche Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Personaleinsatzes aus Polen nach Deutschland am Beispiel der Pflegebranche«, und Dr. Margret Steffen, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di, Bereich Gesundheitspolitik, Berlin.

Dr. Marta Böning, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg. Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Rechtliche Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Personaleinsatzes aus Polen nach Deutschland am Beispiel der Pflegebranche“, Projektleitung: Prof. Dr. Christiane Brors.

M. Sc. Mareike Bröcheler, Kompetenzzentrum Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen und Universität Gießen

 

Stefanie Visel, Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik