Heiner, hör mir zu – so, wie ich dir zugehört habe

Mit Afraa Batous stellte „Meet your Neighbours“ am 19. Juli bei Literatur Moths in München zum ersten Mal eine Künstlerin vor, die nicht in München lebt. Sie wohnt nach vier Jahren im Libanon und einigen Monaten in der Türkei seit 2016 in Nürnberg. Silke Kleemann und Denijen Pauljević zeigten Ausschnitte aus dem preisgekrönten Dokumentarfilm "Skin" und sprachen mit Afraa Batous über ihre Kunst, ihre Erfahrungen, ihre Pläne, ihr Gefühl des „un-belongings“, das sie mitnähme, wohin immer sie gehe.

Teaser Bild Untertitel
Afraa Batous

Mit dem Text eines deutschen Dramatikers beginnt die ganz persönliche Erfahrung der syrischen Revolution für Afraa Batous. Die junge Theatermacherin las Heiner Müllers Hamletmaschine, war fasziniert von der grobschlächtigen Sprache, wie besessen von der Hauptfigur, die sich vom intellektuellen Revolutionär zum Gewalttäter wandelt. Das Stück transportierte genau die Emotionen und Bilder, die sie vom radikalen Umbruch im eigenen Land träumen ließen. Mit Freunden bereitete sie eine Aufführung des Stücks vor. „Wir dachten, wir könnten unsere eigene Revolution starten, wenn wir das Stück auf die Bühne brächten. Es fühlte sich gut an, weil wir im Verborgenen arbeiten mussten“, erzählt sie aus dieser Zeit. Und sie fügt sofort hinzu: „Wir waren naiv.“ Es war das Jahr 2010 in Aleppo. Ein Jahr später brach die Revolution aus. Die Aufführung konnte nicht mehr stattfinden. In Afraas Kopf blieben Heiner Müllers Worte und die Frage, ob sie verstanden hatte, ob sie jemals verstehen konnte, was ihr der Autor sagen wollte. Immer noch besessen vom Text griff sie zur Kamera und begleitete zwei ihrer Freunde aus der Theatercrew. Sie zeichnete über vier Jahre hinweg auf, wie sich ihre Leben ab da entwickelten. „Keiner konnte das auch nur erahnen“, so Afraa Batous rückblickend. So entstand ihr Dokumentarfilm „Skin“, den sie im Juli mit Silke Kleemann und Denijen Pauljevic bei Meet your Neighbours in München vorstellte.

Der Film beginnt mit ihrer Antwort an Heiner Müller: „Das Theater konnte nichts an dem ändern, was passierte, Heiner. Hör mir zu, wie ich dir zugehört habe.“ Ihre beiden Freunde, Hussein und Soubhi aus der Theatercrew, gehen unterschiedliche Wege – „Skin“ zeigt, wie sich die Beziehungen der drei untereinander und die persönlichen Einstellungen zur Revolution verändern. Während Soubhi beschließt, seinen Weg als Künstler weiterzugehen und für ein Kunststudium in den Libanon zieht, bleibt Hussein. Er berichtet als Journalist aus seiner Heimatstadt Aleppo in die Welt, kämpft letztendlich selbst auf Seiten der Freiheitskämpfer. Diese beiden Alternativen seien repräsentativ für die Wahlmöglichkeiten der intellektuellen Klasse Syriens: Gehen – um andernorts weiterzumachen und von einem Leben in Frieden zuhause zu träumen (wie Soubhi, der am liebsten eine Bar in Aleppo eröffnen würde) oder Bleiben – um mitzukämpfen bis zur letzten Konsequenz.

Mit langen Dialogen steigt „Skin“ ein. Revolution, Kämpfe und Zerstörung erahnt der Zuschauer nur durch Szenen einer kleinen Demonstration, durch Bilder von Ruinen. Hussein raucht, auf einem Plastikstuhl sitzend, den er auf den Trümmern eines eingestürzten Hauses platziert hat. Soubhi arbeitet im Libanon, Afraa besucht ihn gemeinsam mit Hussein, die drei gehen ausgelassen tanzen, weinen auf dem Heimweg im Taxi. Die Wende: Nach den Wahlen im Jahr 2014. „Genau dies ist eine der Schlüsselszenen des Films für mich“, meinte sie im Gespräch mit Silke Kleemann und Denijen Pauljević. Der Film wird hektisch, laut, die Kamera kann sich minutenlang nur noch um die eigene Achse drehen. Die Grenzen der Zumutbarkeit waren für Afraa Batous erreicht, als sich Baschar al-Assad zum Wahlsieger erklären ließ, während Menschen auf den Straßen Syriens tote Kinder aus Trümmern bargen. Vierzig Filmminuten nach den Szenen bei der Theaterprobe blicken uns zerstörte, von Hitze, Alpträumen und Kampf gezeichnete, aufgedunsene Gesichter an. Die Verwegenheit der Anfangsszenen ist etwas Anderem gewichen.

Szene aus dem Dokumentarfilm „Skin“

Silke Kleemann und Denijen Pauljević zeigten Ausschnitte aus Skin und sprachen mit ihr über ihre Filme, ihre Erfahrungen, ihre Pläne, ihr Gefühl des „un-belongings“, das sie mitnähme, wohin immer sie geht. Gleich zu Beginn meinte Afraa Batous: „Wer nicht gesehen hat, was wir gesehen haben, für den werden es immer nur …“, und sie zeigte mit einer ausladenden Geste auf die Regale um sich herum „… immer nur Bücher bleiben.“ „Skin“ zu drehen, wurde für sie zu einem permanenten Balanceakt zwischen dem, was sie zeigen wollte, und der Zumutbarkeit für die Zuschauer.

Für Besucher des Abends im Moths, die sich mit geflüchteten Menschen und dem Wandel unserer Gesellschaft auseinandersetzen, brachte der Film und das Gespräch zwischen Afraa, Denijen und Silke auch eine neue Perspektive. Weil im Film gezeigt wird, dass die zu uns geflüchteten Menschen keine gesichtslosen Opfer sind, die hier Hilfe erwarten – sondern Individuen, die in ihrer Vergangenheit Entscheidungen getroffen haben, manche bewusst, manche aus Mangel an Alternativen, dass sie eine Geschichte mitbringen, die sie nicht an der Grenze abgeben können. Der Film hält das Reflektieren darüber fest und zeichnet behutsam eine Entwicklung nach, die, so Afraa, niemand ahnen konnte, als sie zu filmen begann: „Ich hätte nie gedacht, dass in meiner Stadt so etwas passieren kann, ich kannte die Bilder doch auch nur aus dem Fernsehen, aus meinen eigenen Alpträumen, aus dem Text.“

Afraa, Soubhi und Hussein handeln, sehen sich teils als Mitauslöser von Revolution und all dem, was diese mit sich brachte und fragen sich rückblickend, was sie hätten anders machen sollen. Die Bilder von zerstörten Straßen und unberührtem Land, das viele Rot, das aus Alpträumen den Weg in den Tag findet, das Schweigen angesichts mancher Fragen, Husseins Kampf für die Befreiung seines Landes, Soubhis künstlerische Auseinandersetzung mit gebrochenen Gestalten, seine Sehnsucht nach einer guten Zukunft in der Heimatstadt Aleppo und Husseins Entsetzen darüber, sich trotz jahrelanger Hingabe nach der Flucht wie ein Verräter zu fühlen – all das eingerahmt durch Afraas eigenes Hadern mit dem Text Heiner Müllers, dem Sinn und Irrsinn von Revolutionen. Der Film hat viele Ebenen, die sich an manchen Stellen auch tatsächlich bildlich überlagern, wie Annika Reich (Initiatorin von Wirmachendas.jetzt, zu Gast aus Berlin), im Gespräch danach bemerkte.

Das Theater, es konnte nichts ändern. Doch Afraa arbeitet weiter, dreht – parallel zu WG-Suche und Deutschunterricht – bereits den nächsten Film.

Dieser Artikel erschien zuerst beim Aktionsbündnis "Wir machen das". Der Originalbeitrag hier.


Für „Skin“ wurde Afraa Batous kürzlich mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgezeichnet.

“Meet your neighbours” ist eine eigene Begegnungs-Reihe, initiiert und organisiert von den Münchner Autor*innen und Lektor*innen Björn Bicker, Lena Gorelik, Marion Hertle, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Silke Kleemann, Denijen Pauljević, Kathrin Reikowski, Fridolin Schley und Nora Zapf. Seit April stellen die Autor*innen einmal im Monat in ihren Lieblingsbuchhandlungen und Literaturorten Menschen vor, die auf der Flucht nach München gekommen sind. Es werden Geschichten erzählt, Filme gezeigt, es wird gelesen. Zu diesen Gesprächsabenden laden sie alle interessierten Münchnerinnen und Münchner ein, mit und ohne Fluchterfahrung. Es gilt: Wenn man sich begegnet, ist alles möglich.

Die Veranstaltungen der Meet your neighbours–Reihe 2017 finden statt in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung und der Stiftung :do.