Bevölkerungspolitik unter dem Deckmantel des Lebensschutzes - Zur Geschichte des §218

Seit seiner Aufnahme ins Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs am 15. Mai 1871 war der §218 Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen – bis heute. Er ist nicht nur juristisch, sondern auch gesellschaftlich einer der umstrittensten Paragrafen. Seit dem „Kompromiss“ von 1995 bleibt er unangetastet. Um herauszufinden, warum das so ist, und wie sich das ändern kann, lohnt ein Blick in seine Geschichte.

Illustration mit zwei Personen, die Protestschilder gegen den §218 halten

Zu den Fakten

Der §218 regelt im deutschen Strafgesetzbuch den Schwangerschaftsabbruch. Wer eine Schwangerschaft abbricht, handelt demnach rechtswidrig und kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden. Unter bestimmten Bedingungen ist der Abbruch jedoch „straffrei“. Hierzu muss die schwangere Person in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle an einer Pflichtberatung teilnehmen und drei Tage Bedenkfrist einhalten. Außerdem muss der Abbruch vor Ende der 12. Schwangerschaftswoche (nach Empfängnis) geschehen. Die Kosten werden in der Regel nicht übernommen. Von der Rechtswidrigkeit ausgenommen sind Abbrüche nach medizinischer und kriminologischer Indikation. Im Jahr 2020 wurden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 99.948 Schwangerschaften abgebrochen, 96 Prozent davon nach der sog. Beratungsregel.

Die öffentliche Debatte rund um den §218 bewegt sich seit seiner Einführung in einer Abwägung zwischen vermeintlichem Lebensrecht des Embryos und dem Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person. Beim genaueren Blick in seine Entstehungsgeschichte und Argumentationslinien seiner Fürsprecher*innen, drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass dieser moralisch und religiös aufgeladenen Frage häufig die Sorge um niedrige Geburtenraten voranging. So kommt der Jurist Dirk von Behren, der den Paragrafen und seine Folgen 2004 umfassend untersucht hat, zu dem Schluss, dass die Maximen des Schutzes und der Unantastbarkeit des „ungeborenen Lebens“ häufig „nur als Vorwände für bevölkerungspolitische Nützlichkeitskriterien“[1] gebraucht wurden. Dient die Kriminalisierung von Abbrüchen demnach als bevölkerungspolitisches Instrument? Fest steht, bei der Frage um Zulässigkeit oder Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen werden grundlegende Haltungen zu Geschlechterverhältnissen verhandelt und damit auch patriarchale Machtansprüche.

Von Eigentumsbeschädigung zum Tötungsdelikt

Dass das, zumindest in Europa, schon immer so war, zeigt ein Blick in die Antike und das Römische Reich. Dirk von Behren führt die Entstehung des §218 auf eine lange rechtshistorische Entwicklung zurück, die er im Römischen Rechtskreis beginnen lässt. Dort galt Abtreibung nicht als Tötungsdelikt. Aristoteles empfahl den „künstlichen Abort“ sogar als Instrument der Geburtenkontrolle. Der Fötus hatte keinen persönlichen Status, sondern wurde als „unselbstständiger Teil der mütterlichen Eingeweide“ betrachtet. Da (un)geborene Kinder als Eigentum des Vaters galten, war Abtreibung sozusagen Eigentumsbeschädigung und wurde mit Schadenersatzzahlung bestraft. Strafbar machten sich somit nur Dritte, die eine Abtreibung ohne Einwilligung des Vaters durchführten. Selbstabtreibung war nicht geregelt. Erst Kaiser Septinius Severus (139-211 n. Chr) erlies aus Sorge vor stark abnehmenden Geburtenzahlen ein Gesetz zur Unterbindung von Abbrüchen.[2]

Die Ausbreitung des Christentums hatte zur Folge, dass der leibliche Vater mit seinen Besitzrechten am Embryo nun mit dem „Vatergott“ ersetzt wurde. Von nun hatten also seine Vertreter auf Erden die Deutungshoheit. Abtreibung wurde zum Tötungsdelikt. Der Grundstein für die heutige Rechtsauffassung war gelegt.

Eine entscheidende Rolle spielte außerdem die christliche Rezeption der aristotelischen Sukzessivbeseelungstheorie [3], nach der der Fötus drei Entwicklungsstufen durchlaufe und erst in der letzten, menschliche Eigenschaften erlange. Bei männlichen Föten begann demnach die Beseelung am 40., bei weiblichen am 80. Tag nach der Befruchtung. Da das Geschlecht noch nicht feststellbar war, wurde Abtreibung erst bei einem 80 Tage alten Fötus bestraft. Das entspricht in etwa der heute geltenden 12-Wochen-Frist.

Bis ins Spätmittelalter hinein waren diese Beurteilungen umstritten und regional unterschiedlich ausgelegt. Die Unterscheidung der Beseelung wurde schließlich von Papst Sixtus V. aufgehoben. Nicht jedoch aus einem antisexistischen Awakening, sondern mit der Begründung, die „Tötung der Leibesfrucht“ sei zu jedem Zeitpunkt zu bestrafen, denn man nehme ihr die Möglichkeit Seligkeit zu erlangen. In derselben Logik wurde auch Verhütung bis ins 20. Jahrhundert in Deutschland verboten. Er fürchtete außerdem eine Abnahme des Bevölkerungszuwachses.[4] Sein Nachfolger Papst Georg XIV. führte die Fristen nach Beseelungszeitpunkt wieder ein.

Der Embryo als künftige*r Staatsbürger*in

Nicht nur die Kirche war sich uneins in dieser Frage. Neue medizinische Erkenntnisse und sich wandelnde demografische Entwicklungen schufen eine sich ständig im Wandel befindende und regional sehr unterschiedlich gehandhabte Rechtspraxis. Abtreibungen wurden je nach geltender Auffassung der Belebung der „Leibesfrucht“ und je nach Zeitpunkt der Abtreibung milder oder höher bestraft, nicht selten mit der Todesstrafe. Fast alle der in dieser Zeit entstandenen Partikulargesetze zählten Abtreibung jedoch zu den „Verbrechen wider das Leben“. Vorreiter für das 1871 folgende Reichsgesetz war hier das bayrische StGB. Sein Hauptverfasser Paul Johann Feuerbach machte keinen Hehl aus dem wachsenden Interesse des Nationalstaats an seinen zukünftigen Bürger*innen:

„Auch der Embryo ist ein Mensch, und wenngleich der Staat nicht verpflichtet ist, ihn zu schützen, so ist er doch berechtigt, sich in ihm einen künftigen Bürger zu erhalten.“[5]

Der Schutzauftrag des Staates war geboren, doch nicht wie heute im Gesetz formuliert zum „Schutze des ungeborenen Lebens“, sondern zum eigenen Erhalt. Verblüffend ähnlich argumentiert Nathanael Liminski (CDU), Chef der Staatskanzlei NRW und engster Berater von Armin Laschet auf dem Forum Deutscher Katholiken 2012. Er beklagt die seit den 1970er Jahren sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland und die Folgen für die Sozialsysteme:

„Ich möchte nun auf den Umgang mit der zweiten natürlichen Ressource eingehen, nämlich mit dem Geschenk des Lebens. […] Jedes Jahr werden in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamts zwischen 125 und 130.000 Kinder abgetrieben. […] Das sind Mitbürger die unwiederbringlich verloren sind. Für die Eltern, für die Familien, aber eben auch für unsere Gesellschaft.“[6]

Damals wie heute werden religiöse Vorstellungen über den Beginn des menschlichen Lebens in einem Atemzug mit Ansprüchen des Staates auf seine zukünftigen Bürger*innen genannt. Genau hier liegt, laut von Behren, der Ursprung des Paradoxes zwischen Strafbarkeit bzw. Rechtswidrigkeit auf der einen und Straffreiheit oder Minderbestrafung des Schwangerschaftsabbruchs auf der anderen Seite. Der Abbruch bleibt geächtet und ist doch je nach aktueller Lage geduldet. Eine Vorstufe dieses Paradoxes findet sich auch in der ersten Fassung der §218, die 1871 ins Reichstrafgesetzbuch übernommen wurde:

„§218: Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.“[7]

Die ausführende Person wurde nach §219 noch höher und zwar mit bis zu 10 Jahren Zuchthaus bestraft. Im Hinblick auf die tatsächliche Abtreibungssituation in Deutschland kann davon ausgegangen werden, dass der §218 sein Ziel verfehlte. Statt Abtreibungen durch den Effekt der Strafandrohung zu verhindern, stieg die Zahl der verurteilten Abtreibungen von 1882 bis 1908 um das Vierfache, nämlich von 191 auf 773. Diese Zahl liegt natürlich weit unter den tatsächlichen Abtreibungen, die schätzungsweise zwischen 200.000 und 400.000 jährlich lagen.[8] Unzählige illegale und unsichere Abbrüche waren die Folge und führten nicht selten zum Tod. Gesundheitliche und rechtliche Risiken trafen fast ausschließlich Schwangere aus der Arbeiter*innenklasse, was den §218 zum „Klassenparagrafen“ machte. Bis heute.

Widerstand gegen den „Gebärzwang“

Bald nach seiner Einführung regte sich erster Widerstand gegen §218. Um die Jahrtausendwende formierte sich die erste Frauenbewegung in Deutschland, die sich bis 1908 allerdings nicht in Vereinen organisieren durfte. Der Bund Deutscher Frauenvereine brachte schließlich 1909 die erste Petition für eine Reform des §218 in den Reichstag ein und schlug Straffreiheit in Zusammenhang mit einer Fristenlösung vor. Der Reichstag lehnte die Petition klar ab. Die seit 1900 rückläufigen Geburtenzahlen, in der öffentlichen Debatte u.a. zur „Entvölkerungsgeißel“ dramatisiert, hatte eine pronatalistische Bevölkerungspolitik in Gang gebracht, deren Ziel es war, durch Abtreibungs- und Verhütungskontrolle den Nachwuchs an Soldaten und Arbeitskräften zu sichern.[9] Die proletarische Frauenbewegung wehrte sich schon 1913 kurz vor dem ersten Weltkrieg gegen die staatliche und militärische Instrumentalisierung gebärfähiger Körper und rief zum Gebärstreik auf.

Die Liberalisierungstendenzen der Weimarer Republik schafften eine kurze Zeit lang Raum für eine gesellschaftliche Debatte zwischen Abtreibungsgegner*innen und Gegner*innen des sog. „Gebärzwangs“. Aus der Not heraus bildete sich ein klandestines Netzwerk von Beratungsstellen, die ungewollt Schwangeren sichere Abbrüche bei willigen Ärzt*innen vermittelten. Allen voran der Bund für Mutterschutz und Sexualreform, dessen Forderungen noch heute aktuell und nicht eingelöst sind: freier Zugang zu Verhütungsmitteln, progressive Sexualaufklärung und die Abschaffung des §218.[10] Zu letzterem kam es nicht, wohl aber zu einer kleinen Reform. Das Parlament einigte sich 1926 auf einen Minimalkonsens und verabschiedete Herabstufung von Schwangerschaftsabbrüchen von „Verbrechen“ auf “Vergehen“, die milder bestraft wurden. Zudem wurde durch das Reichsgerichtsurteil 1927 die Zulässigkeit einer medizinisch begründeten Abtreibung erwirkt. Sie galt noch bis in die 70er Jahre der BRD als legislativer Ersatz für die medizinische Indikation.

Die rassistische Ideologie des NS Regimes machten diese zaghaften Reformversuche zunichte. Als Schutzgut des Abtreibungsstrafrechts wurde das „ungeborene Leben“ von der „Lebenskraft des Volkes“ abgelöst. Die Nazis zeigten offen ihre  bevölkerungspolitischen Motivation. Der Schwangerschaftsabbruch wurde aus den Tötungsdelikten in einen neuen Abschnitt „Angriffe auf Rasse und Erbgut“ überführt. Neben der medizinischen wurde die eugenische Indikation eingeführt, die nach dem Prinzip „Auslese“ und „Ausmerze“ Schwangerschaftsabbrüche von Jüd*innen, Romnja* und Sintezzi*, Behinderten und sog. „Asozialen“ komplett legalisierte bzw. erwirkte und die restlichen unter Todesstrafe stellte.[11] Die Alliierten schafften die NS-Strafrechtsnovelle nach der Befreiung zwar ab, Abtreibung und Verhütungsmittel blieben jedoch weiterhin verboten.

Der große Durchbruch bleibt aus

In den konservativ geprägten 50er und 60 Jahren der BRD wurden bevölkerungspolitische Ziele laut, die im Lichte des Kalten Krieges die Mehrkinderfamilie als „Kraftquelle des Staates“ zeichneten. Entsprechend wurde an der generellen Strafbarkeit des Abbruchs festgehalten. Gegen diesen Stillstand wehrte sich mit bisher ungekannt lauten Mitteln die neue Frauenbewegung der 70er Jahre. Erstmals ging es explizit um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, die unter dem Motto „Mein Bauch gehört mir“ auf die Straße gingen, oder Abtreibungsfahrten ins liberale Holland organisierten. Neben der erfolgreichen Stern-Kampagne „Wir haben abgetrieben“ und erhöhten die Proteste der Aktion 218 den Druck auf den Gesetzgeber derart, dass 1974 im Bundestag eine Fristenlösung mit Straffreiheit bis zur 12. Woche verabschiedet wurde.[12] Das Bundesverfassungsgericht, angerufen von CDU/CSU kassierte die Reform umgehend und etablierte sich somit langfristig als Schützerin des „sich entwickelnden Lebens“, welches „Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau“ habe.[13] Der Bundestag steuerte nach und verabschiedete das Indikationsmodell, dass die soziale Lage der Schwangeren als sog. „Notlagenindikation“ anerkannte. Je nach Bundesland bleibt der Zugang jedoch stark beschränkt. Dieses Zusammenspiel zwischen konservativen Kräften im Bundestag und nicht minder konservativem Bundesverfassungsgericht sollte sich 1993 noch einmal sehr ähnlich wiederholen. Statt die 1972 eingeführte liberale Fristenlösung ohne Beratungspflicht der DDR für das vereinte Deutschland zu übernehmen, bleibt der §218 leicht verändert auch nach der Wiedervereinigung bestehen und das obwohl sich die ostdeutsche Frauenbewegung – vor allem der Unabhängige Frauenverband – vehement dagegen gewehrt hatte [14]. Die gemeinsame Hoffnung von ost- und westdeutschen Feministinnen, den kostenfreien Zugang zu legalen Abbrüchen, noch dazu ohne Angabe von Gründen, für die gesamte BRD zu übernehmen wurde enttäuscht und endete in einem „Kompromiss“, der keiner war. Der Schwangerschaftsabbruch ist „rechtswidrig“ und unter bestimmten Bedingungen, wie Pflichtberatung und drei Tage Bedenkfrist, straffrei. Die Pflichtberatung soll zwar „ergebnisoffen“ geführt werden, dient aber explizit dem „Schutz des ungeborenen Lebens“. So steht es unverändert seit 1995 im StGB. Unverändert schützt auch der Staat seit mehr 150 Jahren die göttliche Schöpfung und die werdenden Staatsbürger*innen vor dem Bedürfnis gebärfähiger Menschen, über ihren Körper und ihre Lebensplanung selbst zu entscheiden. Er ist und bleibt gewaltvolles Instrument des Machterhalts. Höchste Zeit, das zu ändern.

 

Fußnoten

1. Behren, Dirk von (2020): Die Geschichte des §218 StGB, Rothenburger Gespräch zur Strafrechtsgeschichte Band 4, Psychosozial-Verlag., S. 13f.

2. ebda., S. 23ff.

3. „Nun lächelt Maria nicht mehr“ von Uta Ranke-Hanemann, in Der Freitag, 2004. Letzter Zugriff: 7.5.2021 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/nun-lachelt-maria-nicht-mehr

4. Behren (2004), S. 26

5. Feuerbach, Paul Johann Anselm von (1820): Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, Gießen. S. 350

6. Nathanael Liminski in seiner Rede auf dem Forum Deutscher Katholiken 2012. Letzter Zugriff am 7.5.2021: https://www.youtube.com/watch?v=cbxVLQQaX5U

7. RGBI. I 1871, S. 127ff.

8. Behren (2004), S. 49-55

9. Notz, Gisela (2015): Die unendliche Geschichte des §218., S. 2 Letzter Zugriff am 6.5.2021: Notz, Gisela: Die unendliche Geschichte des §218, https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2015/10…, letzter Zugriff 6.5.2021

10. Ebda., S. 1

11. Ebda., S.3

12. Digitales Deutsches Frauenarchiv: Die Abtreibungsdebatte der neuen Frauenbewegung. Letzter Zugriff am 5.5.2021: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-abtreibungsd…

13. BVerfGE 39, 1 - Schwangerschaftsabbruch I, Zugriff am 07.5.2021 unter https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv039001.html)

14. Bock, Dr. Jessica (2021): Schwangerschafts¬abbruch in der SBZ/DDR, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-u… Zuletzt besucht am: 06.07.2021