Visiers der Theorien, Barrikaden der Praktiken – Politisierung des Privaten im postsowjetischen Raum

Tamara Zlobina
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Tamara Zlobina
 

Von Tamara Zlobina

Das Gespräch über die Körperlichkeit in der postsowjetischen Ukraine wäre unmöglich ohne Diskussion über die Körperpolitik in der Sowjetunion. Der russische Forscher Igor Kon unterscheidet vier ideologische Etappen der Regelung des Privaten in der Sowjetunion: 1919-1930 – Emanzipation der Frauen und der Sexualität, Verfall der traditionellen Eheformen; 1930-1956 – totalitäre Kontrolle des Individuums, auch im Bereich der Sexualität durch ihre Verneinung und Unterdrückung; 1956-1986 – Medikalisierung und Moralisierung der Sexualität; seit 1987 – Vulgarisierung und Kommerzialisierung des Privaten, die von den moralen Paniken begleitet werden.

Da der private Bereich den Frauen „zugeschrieben“ ist, bestimmt die Konstruierung der weiblichen Körperlichkeit, Sexualität und des sozialen Verhaltens den politischen Rahmen des Privaten im postsowjetischen Raum. Die 1990er Jahre sind in der Ukraine das Jahrzehnt der zwei wichtigsten Rhetoriken des Privaten geworden, die einander zugleich verneinen und ergänzen. Zum einen ist es der konservative Diskurs der Rückkehr zu den Ursprüngen, nationalen Traditionen, zur Spiritualität und Moral. Er ist im Gendermodell der „Behüterin“ repräsentiert und in die staatlich-nationalistische Ideologie eingeschrieben. Zum anderen geht es um steigende Kommerzialisierung und Exploatation des weiblichen Körpers und der Sexualität vor dem Hintergrund der Marktreformen (das Gendermodell „Barby“). Die Scheinpolarität von „Behüterin“ und „Barby“ (die Sexualität der „Behüterin“ ist auf die reproduktive Funktion reduziert, während sie für „Barby“ identitätsstiftend ist) verschwindet, wenn man diese Gendermodelle nach den Kriterien von Macht und Dominanz analysiert. Die beiden haben den gleichen Grund – Bedienung der Männer durch Erbringung reproduktiver Dienstleistungen, Pflege und Erziehung oder des erotisierten Genusses, aber kein Modell positioniert die Frau als ein selbstwertes und selbstständiges Wesen.

Beide Rhetoriken (treffend beschrieben von Oksana Kis in 2002) sind im öffentlichen Diskurs aktiv vertreten und bilden die Doppelstandards im Prozess der Gendersozialisierung junger Frauen. Sie müssen diese widersprüchigen Modelle vereinigen, indem sie ihre Identität als „Superweib“ entwickeln, das zugleich Mutter, Behüterin des Familienherdes, hübsche Frau und Quelle der materiellen Ressourcen für die eigene Familie ist. Die letzte Rolle bleibt bis jetzt in der Gesellschaft unreflektiert. Tetjana Zhurzhenko beschreibt, wie in den 90ern vor dem Hintergrund der Abschaffung des sowjetischen Gendervertrags der arbeitstätigen Mutter und des Staates, der wirtschaftlichen Verarmung und Massenarbeitslosigkeit die Rhetorik von der „Frauenrückkehr in die Familie“ als Wiederherstellung der „normalen Ordnung der Dinge“ vermittelt wurde, die vom dämonischen sowjetischen Regime verletzt worden war. In facto diente diese Rhetorik der Verdrängung der Frauen vom hochkonkurrenten Arbeitsmarkt. In Wirklichkeit konnten/können sich nur wenige ukrainische Bürgerinnen das sorglose Hausfrauendasein erlauben und von ihren Männern versorgt sein. Auf der diskursiven Ebene aber wird die weibliche wirtschaftliche Unabhängigkeit als unerwünscht und sogar erniedrigend positioniert, was die Motivation der Frauen stark beeinflusst.

Konsequente Entfernung der Ideale der professionellen Realisation und finanziellen Selbstständigkeit aus den weiblichen Gendermodellen steht im unmittelbaren Zusammenhang zum Zugang zu/Besitz von ökonomischen Ressourcen (nach unterschiedlichen Schätzungen besitzen die Frauen 5-10% des Eigentums in der Welt). Das ist der Grund für die Autonomie der Lebensszenarien, bessere Sicherung vor Gewalt und Abhängigkeiten und das einzig mögliche Fundament für die Änderung des symbolischen Diskurses, der in der psychoanalytischen Tradition als fehlende Frau bezeichnet wird (Lacan: „die Frau existiert nicht“ – d.h. sie existiert als Abweichung, Anomalie der Norm des Mann-Menschen). Der Besitz von ökonomischen Ressourcen sichert den Zugang zur Macht im System der simulierten Demokratie.

In der heutigen Ukraine ist wirtschaftliche Diskriminierung mit dem reproduktiven Bereich eng verbunden. Die Betonung der Mutterschaft, als der wichtigsten Frauenrolle/-mission, führt zu einer ganzen logischen Kette: Frauen (als soziale Gruppe) werden niedriger entlohnt, nicht „weil es zufällig so geschehen ist“, sondern weil sie während der Erziehung auf den privaten, familiären Bereich und nicht auf öffentliche professionelle Tätigkeit vorbereitet werden, sie entwickeln weniger Fertigkeiten des Konkurrenzkampfes und des aggressiven Schutzes der eigenen Rechte. In der Gesellschaft herrscht die Überzeugung, dass die Frau kein hohes Gehalt und keinen Job braucht im Unterschied zum Mann, der gut verdienen muss („er muss doch die Familie unterhalten“). Frauen werden nicht so gerne angestellt, ihre Karrierechancen sind nicht so hoch wegen der Überzeugung, dass die Frau mehr Zeit den Kindern widmen müsse, während der Mann problemlos Mehrarbeit leisten kann („jetzt müssen die Minister 15 Stunden am Tag arbeiten, deswegen würde ich keiner Frau solche Belastung wünschen, insbesondere wenn sie Kinder hat“, Premierminister der Ukraine Mykola Azarov). Solange die Kinder nur den Frauen zugeschrieben sind, wird über ihnen (unabhängig davon, ob eine Frau konkret Kinder hat oder nicht) eine Glasglocke in allen Bereichen befestigt bleiben, in denen man Zugang zur Macht und materiellen Ressourcen finden kann. Man kann einen direkten und gegenseitig vorteilhaften Zusammenhang zwischen der Moralisierung und den neoliberalen Reformen feststellen: das Positionieren der Mutterschaft als der natürlichen Hauptmission der Frau, die allein sie richtig existentiell befriedigen kann, ist eine ideale Deckung für die Demontage des Sozialstaates und für die Zuschreibung der Verantwortung für Reproduktion nur auf die Bürger, noch mehr – auf die Bürgerinnen. Die Betonung der Mutterschaft verursacht zudem viel strengere soziale Kontrolle der Körperlichkeit und Moralität der Frauen.

Das Manipulieren mit Informationen und die Berufung auf eine erfundene idyllische Vergangenheit ist das Fundament für moralische Panikangriffe aller Arten, die die öffentliche Diskussion über das Private blockieren. Ein typisches Beispiel dafür ist die Antiabtreibungshysterie, die von Aufrufen zur Klerikalisierung der Gesellschaft und Wiederbelebung der Spiritualität begleitet wird. Die letzte setzt heuchlerische Ethik der Behütung (der Jugend) vor Sex voraus. So wird vorgeschlagen, die Curricula für Sexualerziehung in den Bildungseinrichtungen durch die Förderung der vorehelichen Enthaltsamkeit zu ersetzen. Die Konservativen postulieren einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Sex und Reproduktion (vor allem wenn es um Frauen geht), vergessen dabei aber, dass nicht jeder Geschlechtsverkehr Schwangerschaft zum Ziel hat und dass das erotischer Genuss auch ein körperlicher Prozess ist (d.h. auch „natürlich“ ist), genauso wie die menschliche Fortpflanzung.

Alternative Sexualitäten und Genderidentitäten, die nicht  (direkt) auf Reproduktion ausgerichtet sind, werden marginalisiert und dämonisiert, weil sie als Verstöße gegen die Interessen der großen sozialen Akteure gesehen werden. Die Gesellschaft, die sich fortpflanzen möchte, und der Staat, der die gesellschaftlichen Interessen regelt und neue SteuerzahlerInnen braucht; die Arbeitgeber als die Klasse, die Arbeitskräfte benötigt, die den Mehrwert erzeugen, - alle sie erfordern reproduktive Arbeit, wollen aber keinen Teil der Verantwortung dafür übernehmen. Der Zusammenschluss von Reproduktion und Sexualität sowie begleitender konservativer Moralismus sind diejenigen rhetorischen Konstrukte, die die Aufmerksamkeit der BürgerInnen von den materiellen und sozialen Bedingungen ihres Privatlebens ablenken, das Solidaritätspotenzial im Kampf für ihre Rechte und Freiheiten blockieren und damit die größte Last der reproduktiven Arbeit auf die Individuen verlegen.

Die Ukrainer und Ukrainerinnen haben einen dramatischen Bedarf an neuen  Gendermodellen, die der modernen Lebenserfahrung entsprechen. Ebenso benötigt wird eine nicht-heuchlerische Politik des Privaten (romantische Szenarien, Sexualität und Reproduktion). „Das Private wird zum Politischen“ im postsowjetischen Raum trotz des herrschenden symbolischen Diskurses, aber dank der ökonomischen Basis – der Arbeitstätigkeit der ukrainischen Frauen und dem Generationenwechsel. Denn gerade jetzt  engagieren sich aktive BürgerInnen, geboren Ende der 1980er - Anfang der 1990er Jahre,  im öffentlichen Bereich und müssen sich entscheiden, ob sie repressive  Regeln der neoliberalen Wirtschaft und der simulierten Demokratie akzeptieren, oder selber durch permanente Experimente den Raum der „Politik von unten“ kreieren.

Den innovativen Praktiken des Privaten, die in den 2000er entstanden und entwickelt wurden, fehlen theoretische Reflexion und politischer Ausdruck. Während der öffentliche Raum in der Ukraine durch aktive Unterstützung der politischen Parteien klerikalisiert wird (bis hin zu einer Bannprozession, die „dem Schutz der Ukraine vor der Verbreitung von Gender, Homosexualität und Juvenaljustiz" gewidmet wurde, Lviv, 03.30.2011), so wird die Herausbildung der Emansipationspolitiken zum Ziel der neuen Generation der Bürgerbewegungen, die den Feminismus als einen wichtigen Teil ihrer eigenen Ideologie erkennen (obwohl FEMEN am sichtbarsten ist, ist sie nicht die einzige – es gibt auch neue linke Bewegungen, die Anarchofeministinnen, die Gruppen „Gender Lviv“ und „Feministische Offensive“, die Studentengewerkschaft „Direct Action“, das Kuratorenteam „Khudrada“, mehrere NGOs, die nicht nur eine Aufklärungsmission, sondern auch eine politische Position haben – NGO „Insight“, Gender Expertenplattform „Krona“ u.a.).  Zu ihren vorrangigen Aufgaben gehören:

  • Schaffung von Raum für Politik von unten,
  • Arbeit an der wirtschaftlichen Diskriminierung von Frauen im System des patriarchalen Kapitalismus,
  • Artikulation der innovativen Rhetoriken des Privaten durch symbolische Trennung des sexuellen und reproduktiven Verhaltens,
  • Postulierung der sexuellen Rechte und des Wertes der Vielfalt im Bereich des Sexuellen,
  • Bestehen auf der gemeinsamen reproduktiven Verantwortung (geteilt von den interessierten sozialen Akteuren) als ein neues Aktionsprogramm,
  • Unterstützung alternativer Szenarien von Mutterschaft und Vaterschaft.

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Tamara Zlobina, Doktorin der Philosophie, Ko-Redaktorin der Zeitschrift für soziale Kritik „Commons“, Expertin der Gender Expertenplattform „Krona“

 

 

 
 

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