Forum Männer: Männliche Prekarisierung in den Blick nehmen

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Nicht erst seit der weltweiten Finanzkrise nimmt die unsichere Beschäftigung zu. Auch Männer sind verstärkt mit “prekärer” Arbeit konfrontiert, die für Frauen schon länger als normal” gilt. Prekarisierung betrifft aber nicht nur die ökonomische Existenzsicherung, sondern umfasst vielfältige männliche Lebenslagen wie zum Beispiel Obdachlosigkeit, Sucht, Krankheit oder Trennung und Scheidung. Hier bedarf es geschlechtsspezifischer Angebote - individuelle Handlungskonzepte reichen jedoch nicht aus. Auch Wissenschaft und Politik müssen das Thema männlicher Prekarisierung stärker in den Blick nehmen. Das war eines der Ergebnisse einer Veranstaltung, die das “Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse” am 27./28. Februar 2009 in Berlin durchführte. Die Tagung, eine Kooperation des Forums mit dem Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung, trug den Titel “Prekäre Männliche Lebenswelten - Männer im Prekariat”.

Durch Prekarisierung geraten Männer in Situationen, die in Widerspruch zur vorherrschenden Vorstellung von Männlichkeit stehen. Sie können die ihnen qua Geschlecht zugeschriebenen Rollenerwartungen, zum Beispiel die des Ernährers oder des Beschützers, nicht angemessen ausfüllen. Das erzeugt eine doppelte Leiderfahrung: Zum äußerlichen Problem etwa von Arbeits- oder Wohnungslosigkeit kommt eine innerliche, fast zwanghafte Gefangenheit, die als Identitätskrise und Versagen von Männlichkeit erlebt wird. “Die soziale Konstruktion von Männlichkeit ist auch in postindustriellen Gesellschaften zentral an Erwerbsarbeit gebunden”, betonte Sylka Scholz, Soziologin an der Technischen Universität Dresden, auf der Tagung des Forums. In einer Studie über ostdeutsche Männer diagnostiziert die Wissenschaftlerin “habituelle Verunsicherung” und eine “Erschöpfung” traditioneller Männlichkeitsideale.

Vor allem junge, niedrigqualifizierte Männer sehen sich nicht mehr imstande, ihre durchaus vorhandene Familienorientierung umzusetzen. Sie finden keine Partnerin und “müssen Fürsorge für sich selbst leisten”. Wo dies unzureichend gelingt, entstehen mitunter schwierige männliche Lebenslagen auch jenseits von bezahlter Beschäftigung: Wohnungslosigkeit ist ein überwiegend männliches Phänomen, ebenso Alkoholkonsum und Drogensucht. Prekäre Verhältnisse erhöhen die gesundheitlichen Risiken und mindern die Lebenserwartung. Scholz, die für Osteuropa eine “noch radikalere Erschöpfung” des Männlichkeitsideals festgestellt hat, wies beispielhaft darauf hin, dass russische Männer 13 (!) Jahre früher sterben als russische Frauen.

Der andere Hauptvortrag des Jenaer Soziologen Klaus Dörre machte deutlich, wie wenig das Thema Männlichkeit bisher in der industrie- und arbeitssoziologischen Forschung verankert ist. Seine Kernthese, Prekarisierung führe zu einer Rekonstruktion traditioneller Geschlechterverhältnisse, stieß bei den ZuhörerInnen teilweise auf Widerspruch. Dörre zufolge droht Prekarisierung zur “Leidquelle” zu werden, “wenn sie Männlichkeitsvorstellungen destruiert”. Diskussionsbeiträge aus dem Publikum betonten dagegen das Phänomen einer gewählten “Selbstprekarisierung” - indem Männer zum Beispiel phasenweise auf Vollzeit-Erwerbsarbeit verzichten, um sich um Kinder oder ältere Angehörige zu kümmern. Eine Sichtweise, die den traditionellen “Arbeitsmann” zum Maß aller Dinge erklärt, wird den vielfältigen Lebensentwürfen von Männern immer weniger gerecht. Sylka Scholz forderte auf der Berliner Tagung, der Wissenschaftsbetrieb müsse “das Thema Männer endlich erkennen” - und rief ihren Kollegen Dörre auf, sich als Mitglied des Konzils der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für die Gründung einer “Sektion Männlichkeitssoziologie” einzusetzen.

Extrem unterbelichtet ist das Thema Männer auch in der Politik. Persönliche Krisen werden zu individuellem Fehlverhalten erklärt, ohne die dahinter stehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (etwa zu niedrige Hartz IV-Sätze) zu betrachten. Es sei lohnenswert, so das Fazit der Workshopleiter im Forum Männer, sich bei der Analyse politischer Fragen auch mit Männlichkeitskonstruktionen und Männeridentitäten auseinanderzusetzen. Bestes Beispiel dafür sei die derzeitige, durch eine “transnationale Unternehmermännlichkeit” von Spekulierern und Finanzjongleuren ausgelöste globale Wirtschaftskrise.

Weitere Informationen zum Forum Männer und zur Tagung unter www.forum-maenner.de

Das Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse ist ein Netzwerk von Männern, die bundesweit in den Feldern Männer- bzw. Geschlechterforschung, Männerbildung, Männerberatung und Männerpolitik arbeiten. Das Forum veranstaltet zweimal jährlich Fachtagungen, die themenzentriert unterschiedliche Blickrichtungen aus Theorie, Forschung, Praxis und Politik zusammenbringen und insbesondere dem Erfahrungsaustausch dienen. Die Tagungen werden von Mitgliedern des Forums in wechselnden Gruppen vorbereitet, durchgeführt und jeweils dokumentiert. Das Gunda Werner Institut in der Heinrich Böll Stiftung unterstützt das Forum als Koordinationsstelle organisatorisch, finanziell und ideell.

 
 

2009

 
 

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