Im September 2007 hat die Heinrich-Böll-Stiftung Türkei eine Tagung zur "Kurdenfrage" in Diyarbakır mitorganisiert. Auch Nebahat Akkoç war dabei und versuchte, sie mit eigenen Worten und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte neu zu definieren.
Sehr geehrte Gäste, herzlich willkommen!
Heute möchte ich zwei Mal meinen Dank aussprechen. Zum einen danke ich allen, die sich für das Zustandekommen dieser wichtigen Veranstaltung eingesetzt haben. Den zweiten Dank möchte ich nach meinem Vortrag äußern.
Wie Sie wissen, hat KAMER im September 2007 sein 10. Gründungsjahr gefeiert. Auf dem Plakat für die Feierlichkeiten stand: "Die Methoden, die Frauen entwickelt haben, um sich von Gewalt zu befreien, schaffen die Möglichkeit, sich eine andere Welt vorzustellen - darauf vertrauen wir".
Bevor wir diesen Satz sagen konnten, mussten wir zehn lange Jahre mit mehr als dreißigtausend Frauen zum Thema Gewalt arbeiten. Diese wichtige, durch harte Arbeit gewonnene Erkenntnis zeigt ein weiteres Mal, dass Gewalt gegen Frauen keine Gewalt ist, die von einem streitsüchtigen, kranken, ungebildeten, armen, arbeitslosen oder alkoholabhängigen Mann ausgeübt wird.
Gewalt gegen Frauen ist im Grunde ein Anfangspunkt von Hierarchien, Rassismus, Diskriminierung und Nationalismus, die eine Kriegs-, Kampf- und Gewaltkultur bilden. Gewalt gegen Frauen ist systematisch und geplant. Sie zielt auf die Etablierung eines militaristischen Systems, in dem die Frauen zuerst isoliert werden, um dann ihren Gehorsam und ihre Folgsamkeit zu sichern.
Wenn die Frauen beginnen, sich der Gewalt entgegenzusetzen (und das machen sie erst, wenn die Gewalt unerträglich wird), fangen sie an, Hierarchien, Rassismus, Diskriminierung, Nationalismus und Kriege - alles einzelne Bestandteile von Militarismus - zu hinterfragen.
Je mehr sie diese hinterfragen, desto mehr verändern sie sich. Je mehr sie sich verändern, desto besser können wir uns eine Welt ohne Diskriminierung vorstellen, in der alle Menschen mit ihren Unterschieden wertvoll sind.
Sich der Gewalt bewusst zu sein und sie zu hinterfragen, zerstört unser gesamtes Beziehungsgefüge und alles, was wir bisher gelernt haben. Diese Phase ist schmerzhaft, sie zerreibt uns, wir fühlen uns heimatlos und entwurzelt.
In dieser Phase ist es daher außerordentlich wichtig, dass sich die Frauen gegenseitig unterstützen. Eine solche Solidarisierung setzt neue Entdeckungen in Gang. Wir beginnen, jede Situation, jede Beziehung und jeden Satz mit anderen Augen von neuem zu erkunden und sehen Dinge, über die wir zuvor hinweggegangen sind, beschreiben diese neu und geben ihnen einen anderen Sinn.
Wir fühlen uns wie neu geboren. Denn wir sind nun nicht mehr die Tochter von ..., die Frau von ..., die Schwester von ..., die Mutter von ..., wir sind keine Mitglieder einer Organisation oder Partei mehr, die wir nicht hinterfragen und wo es unsere einzige Pflicht ist, zu gehorchen und Befehle auszuführen. Wir bleiben nicht Objekt sondern werden zum Subjekt unseres Lebens.
Das zu vollbringen heißt, alles mit dem eigenen Verstand zu begreifen. Als eine Frau, die all dies selbst durchlebte, habe ich versucht, auch die "Kurdenfrage“ mit meiner eigenen Sprache und vor dem Hintergrund meiner eigenen Geschichte neu zu definieren.
Was ist meine „Kurdenfrage"?
Meine "Kurdenfrage" ist...
... als eine, bei der Zuhause nicht Kurdisch gesprochen wurde, neidisch auf meine Kurdisch sprechenden Freunde und Freundinnen zu schauen und sich abzumühen, eine von ihnen zu sein, weil sie in Gruppen zusammen lustiger und fröhlicher schienen.
... mein kindlicher Eifer, Kurdisch zu lernen, obwohl meine Mutter und mein Vater mich anherrschten "Zuerst lern mal ordentlich Türkisch, dann kannst du noch immer Kurdisch lernen".
... meine Neugierde, warum bei uns zu Hause nicht Kurdisch gesprochen wurde.
... meine Literaturlehrerin Türkan, die mich 1970 in der Mädchengrundschule in Manisa mit „Dreckige Kurdin“ anschrie, als ich zu spät zur Theaterprobe gekommen bin.
... Dutzende von Männern jeglichen Alters, die auf einem Platz in Silvan im Jahre 1970 oder 1971 zusammengetrommelt wurden und denen man befahl, in einer Reihe zu stehen, einen Handstand zu machen und auf dem Boden zu kriechen, weil sie "Kurdischen Separatismus" betrieben hätten und die ihnen zuschauenden Frauen.
... wie ich mich 1971 in dem Zeydan Dorf bei Dicle, wo ich meine erste Stelle als Lehrerin antrat, mit meinen Schülern, die kein Türkisch konnten, auch nicht auf Kurdisch verständigen konnte und deshalb in kürzester Zeit eine dritte Sprache, Zaza, lernte.
... die Gefängnisbesuche bei meinem Mann und meinem Bruder, die zur Zeit des Militärputsches 1980 inhaftiert waren. Die Freundschaft mit den Frauen, die vor dem Gefängnis warteten - all die Frauen, die zum Abwarten gezwungen waren, weil sie nur Kurdisch oder Zaza, nicht aber Türkisch sprachen und nicht lesen und schreiben konnten. Jede dieser Frauen erzählte dutzende Geschichten von Gewalterfahrungen der Gefangen. Jede dieser Frauen wurde vor den Gefängnistoren erniedrigt, geschlagen und inhaftiert.
... der verhärtete Schmerz im Gesicht meiner Schwiegermutter, die mit ihrem Sohn nicht reden konnte, weil sie kein Türkisch sprach, und meine Rebellion dagegen.
... meine Zeit als Vorsitzende der lokalen Lehrergewerkschaft 1991, die täglichen Todesnachrichten, meine geliebten Lehrerkollegen und -kolleginnen, die ermordet wurden oder knapp der Ermordung entgingen.
... Ermittlungen, Verhöre und Strafen gegen mich, weil ich mich gegen das Sterben und Morden auflehnte.
… die Demokratieplattform, die wir aus dem Traum heraus gegründet hatten, eine Gegenkraft gegen Gewalt zu errichten.
... die verschiedenen Aktivitäten der Demokratieplattform und am wichtigsten die Konferenz über das Individualbeschwerderecht vor dem EGMR; danach die ersten Individualbeschwerden beim EGMR.
... mein juristischer Kampf, den ich 1992 begann und der sich bis zum Jahr 2000 hinzog.
... mein Ehemann, der 1993 ermordet wurde.
... Folter und Inhaftierungen, die ich zwischen 1994 und 1997 erfahren musste; erste Anfänge, Gewalt und das Frau-Sein zu hinterfragen.
… mein Interesse an der Hinterfragung des Frau-Seins, das von Tag zu Tag wuchs.
... meine Entdeckungen, warum bei uns zu Hause nicht Kurdisch gesprochen wurde: Ich erfuhr, dass der Vater meiner Mutter in dem Dorf Garip Uşağı im Kreis Ovacık im Regierungsbezirk Tunceli ermordet worden war und dass meine Mutter eigentlich Alevitin war, aber in einer türkisch-sunnitischen Familie aufgewachsen ist. Ich entdeckte, dass mein Vater das Kind einer Auswandererfamilie war, die von Van nach Urfa umgesiedelt worden war.
... meine Erkenntnis, warum bei uns zu Hause Türkisch gesprochen wurde, warum man sich so sehr vor der Straße fürchtete und warum ich in kürzester Zeit und mit Freude Zaza gelernt hatte.
... KA-MER, das wir 1997 mit dem Wunsch gründeten, einen eigenen, unabhängigen Raum von Frauen für Frauen zu schaffen. Die täglich steigende Beteiligung an KA-MER.
... die nicht enden wollenden Hindernisse, Demütigungen, Drohungen und der Preis, den wir ständig für Meinungsfreiheit, das Recht auf Organisierung und dafür bezahlen müssen, unabhängig zu denken - in einer in Lager aufgeteilten Region und dann noch als Frau.
... die Gewalt, bewaffneten Auseinandersetzungen, Trauer ... und mitten drin die zunehmende Bewusstwerdung der Frauen, ihre In-Frage-Stellungen und ihre Art und Weise, wie sie sich diesen Tatsachen stellen.
... die wohlmeinenden „Brüder und Schwestern“, die für Gewalt eintreten und meinen, Opposition zu betreiben. Die hierdurch diejenigen stärken, welche die unabhängige Frauenbewegung niederzwingen möchten, und die hierdurch auch dem Widerstand der Frauen schaden.
... die Freude, inmitten von Gewalt und Hoffnungslosigkeit zusammen mit den Frauen neue Hoffnung entwickeln zu können.
... dass jeden Tag neue Nachrichten von Gewalt und Kämpfen das Herz bluten lassen.
Nun - das ist meine "Kurdenfrage".
Was würde ich an dieser Stelle tun?
Ich und wir, alle meine Freundinnen bei KAMER, bemühen uns trotz aller Schwierigkeiten, gegen Gewalt Position zu beziehen. Wir meinen, dass wir mit dieser Positionierung auf der Seite der Gewaltlosigkeit einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Kurdenfrage geleistet haben. Dennoch ging mir die Frage durch den Kopf: Was würde ich an dieser Stelle tun?
Ich würde ...
… Niemals denken noch äußern: "Wir haben zusammen gekämpft, wir sind zusammen gestorben. Wir sind ein Gründungselement dieses Staates". Dies bedeutet, für die Teilhabe an der Macht zu kämpfen. Wenn ich jemals Wörter formuliert hätte, die eine solche Bedeutung haben könnten, dann hätte ich bei allen Unterdrückten und Ausgegrenzten um Entschuldigung gebeten.
… der Kampf um Teilhabe an der Macht könnte niemals meiner sein.
… Ich würde alles mir Mögliche tun, um Kriegen, Gewalt und bewaffneten Konflikten Einhalt zu gebieten.
…. Es hätte keinen Grund gegeben, dass ich Gewalt gerechtfertigt hätte. Ich würde alle möglichen Arten des gewaltlosen Widerstandes entwickeln und mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, gegen Gewalt und für eine Zivilisierung kämpfen.
…Auf diese Weise würde ich den Menschen, die ihr Leben in den Bergen aufbrauchen, einen Weg in die Gesellschaft eröffnen.
…Anstatt den Weg der unabhängigen Fraueneinrichtungen zu verstellen, die sich organisieren, um eine gewaltlose Kultur zu schaffen, die die Verbindung zwischen der Normalisierung von Gewalt und Sexismus erkennen und die sich für die Befreiung der Frauen einsetzen, würde ich mich um ihre Unterstützung bemühen.
…Ich würde erkennen, dass Sexismus seit Jahrhunderten besteht und wir alle ihn verinnerlicht haben. Deshalb würde ich auch verstehen, dass Initiativen zur Hinterfragung von Sexismus unabhängig sein müssen. Ich würde diese unterstützen und ermutigen.
…Ich würde diejenigen, die anders sind als ich oder nicht auf meiner Seite sind, nicht als Feinde betrachten. Mit der Einsicht, dass Verschiedenheit eine Bereicherung ist, und mit dem Glauben an Meinungsfreiheit und das Recht auf Organisierung würde ich versuchen, diesen Menschen zuzuhören, sie zu verstehen, von ihnen zu lernen und sie zu überzeugen - und wäre offen dafür, auch mich überzeugen zu lassen.
…Ich würde nie vergessen, dass es im Kern um den Menschen geht. Auf der Suche nach meiner Identität würde ich daran denken, wer vor hundert Jahren hier gelebt hat und was aus diesen Menschen geworden ist.
…Ich würde mich nicht über den Opferstatus definieren, sondern ich würde mich bemühen, die Benachteiligung eines jeden Menschen zu erkennen und ein Teil der Lösung zu sein.
…Ich würde darauf vertrauen, dass die Lösung des Problems bei mir beginnt, und auf Grundlage dieses Vertrauens würde ich mich bemühen, mir eine neue Sprache zu schaffen und mir neue Verhaltensweisen anzueignen.
…Ich würde an der Meinung festhalten, dass die partizipative Demokratie die einzige Lösung ist, und meine Ohren für alle offen halten, die dazu etwas zu sagen haben.
…Ich würde die Rufe der Frauen zum Thema Partizipation vernehmen.
Die Frauen sagen:
Wir wollen das Recht, selbständig zu denken und zu handeln!
Wir wollen eine Welt, in der die Menschen nicht polarisiert sind, auf der jede und jeder von verschiedenen Zugehörigkeiten profitiert, aber gemäß ihren/seinen eigenen Entscheidungen leben kann. Wir haben gesehen, dass nicht nur Frauen zum Objekt gemacht werden. Solange keine Partizipation gesichert ist, wird diese Praxis andauern - auch das wissen wir.
Wir wollen eine Welt ohne Hierarchien!
Um das zu erreichen, schlagen wir vor, mit dem Teilen dessen zu beginnen, über das nicht andere, sondern über das wir selbst verfügen. Wir haben inzwischen gelernt, dass sich die Hierarchien aus Verhaltensweisen speisen, die im Alltag äußerst banal erscheinen, die aber immer wieder von neuem diese Hierarchien konstituieren. Wir wissen, dass es möglich ist, Beziehungen zu entwickeln, ohne jemanden herabzusetzen und ohne das Wissen und die Erfahrungen der Anderen zu entwerten. Wir wissen ebenfalls, dass die Lösung dieses Problems bei jeder/jedem selbst beginnt und dass man die Lösung nicht in der Ferne zu suchen braucht. Wir wollen keine Welt, die von denen regiert wird, die die Macht in ihren Händen halten.
Wir wollen eine Welt ohne Diskriminierung!
Wir wollen, dass alle die Freiheit haben, ihre Unterschiedlichkeiten zu leben. Niemand soll aufgrund von Anders-Sein herabgesetzt oder ausgegrenzt werden. Sich kennen lernen, miteinander reden und Empathie sind das Rüstzeug gegen Diskriminierung. Zu erkennen, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und dass jede_r die Verantwortung dafür trägt, wie diese Verschiedenartigkeit zu beschreiben ist - dies ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne Diskriminierung.
Wir wollen eine Welt ohne Gewalt!
Wir sehnen uns nach einer Welt, auf der man sich der verschiedenen Arten von Gewalt bewusst ist und auf der Gewalt in keiner Weise gerechtfertigt wird.
Wir wollen eine Welt, die auf Teilen und Solidarität basiert!
Wir wollen ein Leben, das uns Kraft gibt, indem wir unser Wissen und unsere Erfahrung, unsere Erfolge, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten miteinander teilen.
Wir wollen ein Leben in Einklang mit den universalen Menschenrechten, ohne unsere lokalen Besonderheiten zu verlieren!
Wo auch immer wir leben, welche Sprache auch immer wir sprechen, wie unsere wirtschaftliche Situation und unsere Ausbildung auch sein mag - wir hoffen auf eine Welt, in der alle Menschen ihr Leben in all seinen Unterschieden den universellen Menschenrechten entsprechend führen können.
Am Ende meines Vortrags möchte ich nun meinen zweiten Dank aussprechen. Weil ich eine unabhängige Studie durchgeführt habe, weil ich den Anstoß für eine Arbeit gegen Sexismus gegeben habe, stehe ich seit zehn Jahren unter Strafe. Ich hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, in dieser Region und auf einer solchen Konferenz einen Vortrag zu halten. Deshalb möchte ich dem Verein Heinrich-Böll-Stiftung und der Anwaltskammer von Diyarbakır, die mir diese Gelegenheit unterbreitet haben, danken.