Über das Vorwegschreiten

Feministischer Zwischenruf

Beim Wandern in den Bergen gibt es oft eine Person, die vorwegschreitet und eine, die hinterherläuft. Nicht selten sind es Frauen, die mit rotem angestrengten Gesicht Männern den Berg hinauf folgen. Heide Oestreich fragt sich, ob das wirklich so sein muss.

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Beim Wandern in den Bergen gibt es meist eine Person die vorwegschreitet und eine, die hinterherläuft

Macht man in den Bergen Urlaub, dann ist dort eine Geschlechtereigenart zu sehen, die nur auf den ersten Blick nicht erklärungsbedürftig ist. Auf dem Weg zum Gipfel treffen wir in der Regel voranschreitende Männer und hinterhergehende Frauen, nicht wenige Frauen mit rotem angestrengten Gesicht. Wen trifft man noch? Motorradfahrer*innen, die sich auf den kurvigen Strecken vergnügen, vorweg der Mann auf einer "dicken" Maschine, die Frau hinten drauf. Hat sie ein eigenes Motorrad, dann ist es kleiner als seins, und sie fährt hinter ihm. Rennradfahrer und Mountainbiker sind vorwiegend männlich. Ist eine Frau dabei, fährt auch sie in den meisten Fällen hinter den Männern. Wo sind Lesben und Schwule? Wer geht da vor? Zerfallen auch sie in einen "männlichen" und einen "weiblichen" Part?

Heide Oestreich ist Redakteurin der taz, die tageszeitung und betreut dort vor allem die Geschlechter- und Gesellschaftspolitik. 2004 erschien von ihr das Buch "Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam". 2009 wurde sie vom Journalistenverband Berlin Brandenburg für ihre langjährige Berichterstattung über unbewußte Geschlechterklischees mit dem Preis "Der lange Atem" ausgezeichnet.

Die vordergründige Erklärung in den geschlechtergemischten Duos ist klar: Männer haben um etwa 30 Prozent mehr Muskelmasse und sind oft größer als Frauen. Sie sind körperlich oft stärker. Bei näherer Betrachtung allerdings stellen sich Fragen. Warum muss derjenige mit mehr Muskeln vorangehen? Haben wir nicht alle mal gelernt, dass sich eine Gruppe nach dem schwächsten Glied zu richten hat? Und das könnte in einer solchen Zweiergruppe körperlich dann die Frau sein. Warum geht sie nicht voran?

Die technische, scheinbar objektive Antwort könnte lauten: Weil der Mann schlicht schneller ist und  jeder so sein Tempo und seinen Schritt drauf hat, der Mann nun mal den schnelleren. Allerdings ergibt sich daraus eine etwas paradoxe Situation: Ein Paar geht zusammen wandern und zerfällt, kaum dass es losgelaufen ist, in zwei Einzelpersonen, die sich mühsam aufeinander abstimmen. "Der rennt immer so!", japste und eine Frau zu, die uns in den Dolomiten im Schlepptau ihres Gatten überholte. Wir, zwei Frauen, boten im Scherz an: "Gehen Sie doch mit uns!", aber da war sie schon entschwunden.

Dem endgültigen Zerfall in zwei nicht mehr zusammengehörige Personen muss aktiv entgegengewirkt werden, wenn man ein wanderndes Paar sein will. Meist hält der Voranschreitende an einer Wegmarke oder einfach so an - und wartet, bis die Schwächere oder auch nur Langsamere aufgeholt hat. Das kann dazu führen, dass er viel Pause hat und etwas ungeduldig wird. Sie dagegen hat keine Pausen und wird etwas überstrapaziert. In seltenen Fällen ist der Herr völlig aus dem Blickfeld verschwunden, das Zusammenwandern findet faktisch nicht mehr statt. Man kann sich also auch nicht über schöne Ausblicke, Ansichten, Kühe austauschen oder über Pausen verständigen, man kann sich nämlich gar nicht mehr verständigen. Will die Frau Pause machen, ist sie darauf angewiesen, dass der Mann irgendwann merkt, dass ihm keine mehr folgt und umkehrt. Will sie gar einen anderen Weg einschlagen, ist das überhaupt nicht mehr zu kommunizieren.

Das Problem: Aus dem vermeintlich technischen Unterschied folgt, dass ein Teil des Paares sich angestrengt und fremdbestimmt  fühlt und im Extremfall keine eigenen Entscheidungen mehr trifft, weil die Kommunikation abgerissen ist. Wenn es ganz doof kommt, ist der Urlaub so für sie Stress und das könnte im Meckern enden, das dann auch ihm Stress macht. Oder sie entscheidet sich, den Stress nicht mit zu machen und eigene Wege zu gehen Und er könnte sauer sein. Blöd. Aber offenbar ein Problem ohne Lösung, sonst sähen die Paarkonstellationen in den Alpen nicht so aus, wie sie aussehen. Oder?

Oder man hinterfragt mal das Leistungsprinzip, das anscheinend  naturwüchsig viele Männer überfällt, sobald sie in ihren Sport/Urlaubsmodus wechseln. Ja, sich auszupowern ist ein schönes Gefühl. Aber es mssß selbstbestimmt stattfinden können. Und: wer will das schon jeden Tag und jede Stunde? Sportliche Hochleistung kennen viele Männer, als Mittel gegen Stress oder Probleme oder was auch immer eine*r auf der Seele drückt. Im Urlaub könnten die im Alltag verdrängten Dinge hochkommen und die schöne Urlaubsstimmung beeinträchtigen. Das wollen gerade Männer eher  nicht. Deshalb tut mann, was mann gelernt hat: Leistung, auspowern, wegdrücken, sich seine Endorphine über den Sport holen und nicht darüber, Probleme  mal näher zu betrachten.

Eine noch einfachere Erklärung wäre, dass Männer konkurrenzorientiert sind und ein Problem kriegen, wenn sie nicht vorne sind oder sogar von einer Frau überholt werden. Aber so ein schlichtes Verhalten will ich ihnen natürlich nicht unterstellen.

 Jedenfalls, das Gegenmodell wäre: Mal schlendern und quatschen - und dem Sport einen eigenen Raum geben, anstatt den Urlaub damit zu überziehen. Und noch ein Geheimtipp für Männer: Die Frau wird nicht viel schneller, wenn mann vorwegrennt oder -fährt. Mann kann auch einfach bei ihr bleiben oder sogar mal zurückfallen - es wird nicht im Stillstand enden.. Das ist ähnlich wie im sonstigen Leben. Mit ihrer Chefin kommen Sie doch auch klar, oder?