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Das Übersehenwerden hat Geschichte

Aus der Reihe
Vorwort – Das Übersehenwerden1 hat Geschichte

 

“ Vereinzelung bedeutet, unsichtbar zu sein, leicht übersehen zu werden, alleine kämpfen zu müssen. Es hat lange gebraucht, das zu erkennen, aber wir haben uns entschlossen, FARBE ZU BEKENNEN.“ (May Ayim)

Seit dem Mauerfall und der sogenannten deutschen Wiedervereinigung ist inzwischen schon ein Vierteljahrhundert vergangen. Bereits vor zehn Jahren fand in Magdeburg eine rückblickende Tagung zum Thema „Lesben und Schwule in der DDR“ statt, die von der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt gemeinsam mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) ausgerichtet wurde. Warum also 2015 erneut eine Tagung?

Vortragende waren im Jahr 2005 überwiegend Männer*. Ein Großteil der damaligen Beiträge widmete sich juristischen und gesellschaftspolitischen Fragen von Homosexuellen in der DDR und hatte thematisch dabei eher die Schwulenbewegung der DDR im Blick, auch wenn in vereinzelten Beiträgen zur Rolle von Lesben(gruppen) gesprochen wurde und einige prominente Vertreter_innen der damaligen Gruppen präsent waren. Die Tagung bildete damit sehr gut ab, was sich geschichtlich ständig in viel stärkerer Zuspitzung zu wiederholen scheint: Frauen* bleiben in der historischen Betrachtung meist unsichtbar – beziehungsweise wenig sichtbar – oder werden am Rande miterwähnt.

Ostdeutschen Lesben ging es mit Blick auf die Geschichtsschreibung zur Homosexualität in der DDR genauso. Die Existenz der zahlreichen Lesbengruppen und ihr Engagement zur Zeit der friedlichen Revolution bleiben in vielen – wenn auch nicht in allen – zeitgeschichtlichen Betrachtungen meist unerwähnt oder werden in der Regel erst durch eigene Aktivist_innen sichtbar gemacht. Schwarzen Aktivist_innen ergeht es im Kontext einer weiß-dominierten Geschichtsschreibung ebenso. Wir als Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt wollten daher einen erneuten Blick auf Geschichte werfen, Leerstellen finden und an Menschen und Themen erinnern, die häufig in Vergessenheit geraten sind.

Als Tagungsmotto haben wir den Titel „Das Übersehenwerden hat Geschichte“ ausgewählt. Diese Zeile ist ein Zitat aus einem der letzten Vortragsbeiträge der damaligen Tagung. In seinem Beitrag kritisierte Prof. Lautmann2 dass die Geschichte der Homosexuellenbewegung USA-zentriert sei und dass die Geschichtsschreibung zur Schwulen- (und Lesben-)bewegung wichtige Impulse aus Deutschland übersehen habe3 Er kritisierte weiter, dass es beim historischen Betrachten der deutschen Bewegung wiederum ein Übersehen der DDR-Aktivitäten seitens der alten BRD gegeben habe, dass ausschließlich von der zweiten deutschen Schwulenbewegung4 gesprochen werde, und die ausgeprägte DDR-Schwulenbewegung übergangen werde.  Kurzum: „Das Übersehenwerden hat Geschichte“.

Beim Lesen dieser Worte stellte sich uns sogleich die Frage, wer wiederum in dieser Äußerung übergangen (bzw. nur „mitgemeint“) wurde, und das Thema der Fachtagung war gefunden.5 Der Titel „Das Übersehenwerden hat Geschichte“ ist von heute aus formuliert, als Frage danach, welche Ein- und Ausschlüsse heute wirken und welche Geschichte sie haben. Die Tagung hatte also zwei Schwerpunkte.

Mitveranstaltende der Tagung waren neben der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt, das Frauenzentrum Courage c/o Volksbad Buckau Magdeburg sowie das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin. Als Kooperationspartner_innen war uns wichtig, mit dieser Zusammenarbeit zu zeigen: Das Tagungsthema ist kein regionales. Und es ist nach wie vor aktuell.

Um die Gegenwart einordnen und Prognosen und Wünsche für die Zukunft formulieren zu können, braucht es die Auseinandersetzung mit Vergangenem. Fragen, die wir uns dafür gestellt haben, waren unter anderem: Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von „den“ Lesben der DDR sprechen? Welche Gruppen waren präsenter als andere? Welche fanden in historischen Zeitdokumenten Erwähnung? Welche Mitstreiter_innen bleiben unerwähnt? Woran liegt das? Außerdem besprechen wir die Rolle von Lesben(gruppen) während der Zeit des politischen Umbruchs, denn – wie bereits erwähnt – kommen sie in den meisten historischen Abhandlungen nicht vor. Wir untersuchen daher auch, warum Lesbenkreise eher als reine Interessengruppen abgetan wurden, und nicht als aktiver Teil der Bürger_innenbewegung überliefert sind.



Ziel der Tagung war eine (erneute) historische Analyse und gleichzeitig die Reflexion dieser Analyse in ihrer Relevanz für heute. Nur im Abgleich mit Vergangenem wird deutlich, welche Mechanismen beständig bis heute fortwirken. Die eine Frage ist: Was müssen wir erinnern? Die andere: Wie funktioniert erinnern und vergessen - heute noch - nicht nur in Aufarbeitung von Geschichte, sondern gleichermaßen in unserer Arbeit.

In einem Zeitfenster von fünf Stunden konnte mit dem Fachtag natürlich kein tiefgreifender Exkurs in die Vielfalt der Lesbenbewegung und ihre Arbeit geleistet, geschweige denn ein vollständiger Überblick gegeben werden. Die Tagungsbeiträge konnten vielmehr Impulse setzen, Schlaglichter in bestimmte Richtungen werfen, Leerstellen offen legen, Diskussionsbedarf aufzeigen und zum Weiterforschen und Weiterdenken anregen. So wurden viele kleine Ausschnitte beleuchtet, die alle Teil eines komplexen Bildes lesbischer Geschichte in der DDR sind. Außerdem wurde anhand mehrerer Beiträge verdeutlicht, warum Sichtbarkeit so bedeutend für Bewegungen und auch Einzelpersonen ist.

Neben dem „Gesehen-Werden“ (im gesellschaftlichen wie auch im politischen Bereich) spielt mit Blick auf die Aktivitäten der Stasi auch das „Beobachtet-Werden“ eine Rolle. Auch das war Gegenstand eines Beitrags, der hier nun in verschriftlichter Form nachzulesen ist. Andere beleucht(et)en den Werdegang der lesbischen Bewegung_en nach der Wiedervereinigung sowie die oftmals sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Akteur_innen zur und nach der Wendezeit.

In den Beiträgen von Maisha Eggers und Nadine Lantzsch ging es schließlich explizit darum, den Blick nicht nur zurück sondern auch ins Heute und in die Zukunft zu wenden. Im Fokus stand die Frage, wie mit Ausschlüssen und Einschlüssen in Gruppen umgegangen wurde und künftig umgegangen werden kann, wie Bündnisse dennoch geknüpft werden können und wie künftige Gegenwarts- und Geschichtsbetrachtung so gestaltet werden könnte, dass keine_r mehr übersehen oder ausgeschlossen wird.

Wir können aus eigener Erfahrung sagen, dass es eine sehr große Herausforderung ist, eine inhaltlich inklusive Geschichtsbetrachtung und Tagung anzudenken und durchzuführen. Wir haben sehr viel dazugelernt und sind auch mehrfach damit gescheitert – nicht zuletzt an der Technikfrage zur Einbindung eines Hörgerätes, da selbst in repräsentativen Universitätssälen offenbar keine ausreichende Technik und Wissen vorhanden war, so dass wir  auf alternative, improvisierte Problemlösungen angewiesen waren.

Wir sind froh, dass die Tagung so viele unterschiedliche Vertreter_innen der damaligen (und heutigen) Bewegungen zusammenführen konnte. Weil eine Tagung als Ort des Austausches ein lokal und zeitlich sehr begrenztes Ereignis ist, freuen wir Herausgeber_innen uns sehr, diesen Tagungsband vorlegen zu können. Diese Publikation ermöglicht es, über die Tagung hinaus Sichtbarkeit zu schaffen, den Austausch fortzusetzen, im Gespräch zu bleiben und immer wieder neu ins Gespräch zu kommen.

Die Tagungsbeiträge sind hier in leicht abgewandelter Form publiziert. Neben dem Input der Referent_innen finden sich in diesem Tagungsband auch zusätzliche Beiträge von Bärbel Klässner, die leider zum Veranstaltungstag nicht persönlich vor Ort sein konnte und daher einen Textbeitrag nachgereicht hat. Außerdem konnten wir mit Jessica Bock und Maria Bühner zwei junge Wissenschaftler_innen gewinnen, die Ausschnitte aus ihren derzeitigen Forschungsprojekten in diese Publikation einbringen.

Mithilfe der Erkenntnisse aus der Tagung und den Beiträge versuchen wir mit dem Credo „Das Übersehenwerden hat Geschichte“ zu brechen. Ob wir über kurz oder lang zu dem Punkt gelangen, an dem wir sagen können: „Das Übersehen-Werden IST Geschichte“, ist fraglich.

Mit dieser Fragestellung sind wir erfreulicherweise nicht allein. Auch andere suchen nach Antworten – zum Beispiel mit der Ausstellung „Homosexualität_en“ von Schwulem Museum* [sic!] und dem Deutschen Historischen Museum 2015 in Berlin, oder mit einer Ausstellung zu Deutscher Kolonialgeschichte, die für 2016 dort angekündigt ist. Doch ob großes Museum in Berlin oder kleine Tagung in Halle: Es geht nicht darum, jetzt, endlich und abschließend die eine richtige und vollständige Geschichte zu erzählen, sondern zu intervenieren in Herrschaftsverhältnisse, die auch heute und weiter ihre Wirkung entfalten.

Daher bleibt es wichtig, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und Selbstverständlichkeiten immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dies gilt auch für die eigene Unsichtbarkeit in anderen Diskursen: May Ayim hat das in Peggy Piesches Buch „Euer Schweigen schützt euch nicht“ mit Blick auf die Ereignisse Anfang der 1990er Jahre verdeutlicht. Sie stellte fest, dass es nicht nur eine Unsichtbarkeit von Schwarzen Menschen im geschichtlichen Rückblick gibt – sondern dass manchmal auch Weiße nicht sichtbar waren. Allerdings nicht, weil man sie übersehen oder übergangen hatte, sondern eher, weil sie schlicht abwesend waren. So sagt sie: „Bei den Demonstrationen gegen die Verschärfung des AusländerInnen- und Asylrechts im Frühjahr [1990] waren weiße Deutsche kaum vertreten“.6

Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse an den Außengrenzen Europas und in zahlreichen Orten Deutschlands ist dieses Zitat aktueller denn je. Der Bedarf an Unterstützung, an solidarischen Bündnissen, ist unverkennbar, vor allem wegen des scharfen gesellschaftlichen wie politischen Gegenwinds. Wir wünschen uns allen daher viel Energie und Kraft für weiteren Aktivismus. Und wir wünschen uns, dass wir in der Lage sind, Bündnisse einzugehen, die nicht vereinnahmen.

Daniela Zocholl

Heinrich-Böll-Stiftung

Sachsen-Anhalt

 



Susanne Diehr

Gunda-Werner-Institut

für Feminismus und Geschlechterdemokratie

 

 

 
[1] Uns ist bekannt, dass die Schreibweise von „Übersehenwerden“ nicht den aktuell gültigen Rechtschreibregeln entspricht. Da es sich bei dem Begriff aber um ein Zitat (siehe Erklärung im Vorwort) handelt, haben wir uns entschlossen, die ursprüngliche Schreibweise für die Tagung und die Publikation beizubehalten.
[2] Lautmann, Rüdiger (2008): Warum vergisst die Geschichtsschreibung zur späten DDR den Beitrag der Lesben und Schwulen? In: Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) – Landesverband Sachsen-Anhalt e.V./ Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Lesben und Schwule in der DDR. Tagungsdokumentation. Halle, S. 117-135.
[3] vgl. Ebenda S. 126.
[4] Ebenda S. 126. Eigene Hervorhebung
[5] An dieser Stelle soll selbstkritisch angemerkt werden, dass auch diese Titelwahl – Das Übersehenwerden hat Geschichte – nicht wirklich optimal von uns gewählt ist, da all diese auf das Sehen fokussierten Begrifflichkeiten natürlich ebenfalls wieder Ausschlüsse bergen. (In der Literatur wird in der Tat sehr häufig mit visuellen Begrifflichkeiten wie „unsichtbare Frauen“ oder „Kampf um Sichtbarwerdung“ gearbeitet.)
[6]  Ayim, May (2012):  Das Jahr 1990: Heimat und Einheit aus afro-deutscher Perspektive. In: Piesche, Peggy (Hrsg.): Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Berlin: Orlanda Frauenverlag, S. 53-68. (hier S. 59) 

 


 
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Veröffentlichungsdatum
Februar 2016
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt und Gunda-Werner-Institut
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deutsch
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