Denkerin, Schreiberin, Musikerin und Freundin

Christina-Thürmer-Rohrs Texte in Vagabuninnen war ryhtmisch, faszinierend, die Tonlage war die der Empörung. Sie widersprach – und tut es bis heute – der Vorstellung, dass die Musik, welcher Couleur auch immer, inmitten einer ungerechten, sexistischen und gewalttätigen Welt ein Anrecht auf ein gesellschaftsfreies Sonderreich reiner Schönheit und Freiheit hätte.

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"Die Tonlage war die der Empö­rung"

Das erste, was ich von Christina Thürmer-Rohr kennenlernte, waren ihre antipatriarchalen Texte aus den 1980er Jahren. Die Sprache in Vagabundinnen war – so nahm ich es wahr – durchkomponiert, atemlos, hatte einen schnellen Puls, die Tonlage war die der Empö­rung. Aber Empörung war nicht der einzige Treibstoff, er war ver­woben mit einer klaren Gesellschafts- und Geschlechteranalyse, durchdrungen von Nachdenken und durchpulst von Rhythmus. Schuf diese Mixtur den eigentümlich hymnischen Sound der frühen Texte Thürmer-Rohrs? Auf der Buchrückseite stand: Die Sozialwis­senschaftlerin Ch. Th-R. spielt Orgel und machte als Bandmitglied Rock. Sie wusste also – davon sprachen ihre Texte, ohne davon zu sprechen –, was Rhythmus, was Crescendo, was Thema, Motiv und Wiederholung sind.

Christina Thürmer-Rohr widersprach – und tut es bis heute – der Vorstellung, dass die Musik, welcher Couleur auch immer, inmitten einer ungerechten, sexistischen und gewalttätigen Welt ein Anrecht auf ein gesellschaftsfreies Sonderreich reiner Schönheit und Freiheit hätte. Der Blick auf politische Katastrophen und menschli­che Unzulänglichkeiten ist geblieben, nur ist der Pessimismus von damals bis heute noch tiefer, die immer noch komponierte Sprache gebändigter geworden – Denken und Schreiben geschehen in einsa­mer und grüblerischer Sisyphusarbeit.

Und was ist mit dem Hören?

Im Jahr 1994 erarbeiteten wir unser erstes philosophisch-mu­sikalisches Projekt « Am Thema bleiben. Fugen fürs Denken, fürs Hören und fürs Sehen » anhand von Johann Sebastian Bachs « Kunst der Fuge » und Hannah Arendts « Übungen im politischen Den­ken ». Der Anfang war bewusst ambitioniert und weit ausgreifend, wollte sich nicht zufrieden geben im soliden Bestellen des eigenen Gilden-Gärtchens. « Hier Musik und da Philosophie » war nicht das, was wir anstrebten. Vielmehr verfolgte uns ein Gedanke, den wir erst instinktiv, dann aber bewusst als einen Prozess des Findens und Erfin­dens von Zusammenhängen zwischen Musik und politischer Philoso­phie betrieben. Musikalisch begannen wir mit dem Erarbeiten von Bachs für kein Instrument aufgezeichneten, abstrakt-spekulativen Spätwerk « Kunst der Fuge ». Dazu benutzten wir eine Fassung für zwei Klaviere. Mit der politischen Theorie von Hannah Arendt, mit der sich Christina Thürmer-Rohr anfangs der 1990er Jahre intensiv auseinandersetzte, fand sich die unvergleichliche Chance, auf einen Widerpart sowie eine Gefährtin für Bachs Musik gestoßen zu sein. Mit unseren acht Thesenpunkten erklären sich Hannah Arendt und Johann Sebastian Bach wechselseitig ihre Prinzipien. Die Klarheit und Größe von Hannah Arendts Denken und die unerschöpfliche Erfindungskraft Johann Sebastian Bachs erhellten sich gegenseitig jenseits der unterschiedlichen Mittel (Musik und Sprache) und jen­seits der historischen Kontextabhängigkeit (18. und 20. Jahrhundert). Der so entstandene Dialog war überwältigend; ihn gefunden und ihm ein Gefäß gegeben zu haben war ein großes Glück.

Ein Wort zum Vorgehen: Christina hat nicht einfach Passagen aus Arendts Werk übernommen, sondern den Kern der Arendt-ei­genen politischen Philosophie untersucht und damit weitergedacht, ihre eigenen Thesen daran gemessen und geschärft. Die Interpreta­tion der Bach-Partitur war wie bei jeder Interpretation nicht nur das notengetreue Abspielen, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit dem Kosmos der « Kunst der Fuge ». (Bach und Arendt gerecht werden zu wollen mit einem nicht üblichen Konzept erfordert neben langem Atem auch Mut zu einem nie endenden Studium.)

Wenn komponieren im Wortsinn zusammenstellen heißt, ist das Projekt « Am Thema bleiben. Fugen fürs Denken, fürs Hören und fürs Sehen » eine Komposition mit Worten, Tönen und Bildern.

Die an beide Werke gestellten Fragen « Am Thema bleiben », « Umkehrung », « Anfangen », « Freiheit », « Dialog », « Beziehungsgeflecht », « Fragment » und « Erinnerung » sind unerschöpflich heraus­fordernd und treiben alle unsere späteren Projekte an bis zum heu­tigen Tag.

Ob Christina Thürmer-Rohr Texte zu Zeitfragen schreibt, bei­spielsweise für unser Forum Akazie 3 oder beim Musizieren mit Tasteninstrumenten sich Klarheit und Inspiration holt, ist beinahe zweitrangig. Was sie hier wie dort hasst, ist Halbherzigkeit. Was heißt in dieser Hinsicht « ankämpfen » gegen abnehmende Kräfte? Darüber belügt sich Christina nicht. Forderungen jedoch knüpft sie an inhaltliche Notwendigkeiten und nicht an « kürzer treten ». Gegen Fingermüdigkeit gibt es noch immer die täglichen Exerzitien mit Orgel- und Klaviertastaturen; gegen die Formulierungsmüdigkeit die Sitzungen – meist nicht schreibend, sondern nachdenkend – vor der Laptoptastatur, die ebenfalls Tastatur heißt, weil mit ihr tastend neue Einsichten in Weltläufte und die alten und neuen Partituren des Lebens und der Musik gewonnen werden können.

Diskussionen durchziehen unseren Alltag: über Politik im allge­meinen und im aktuellen Sinn. Stehen Konzept-, Organisations- und Programmfragen für unsere Veranstaltungen im Vordergrund, wird es ohne zu klagen pragmatisch. Fragen allerdings, wie weit Inter­pretation notierter Musik gehen darf und wie weit sie gehen muss, um eine Aussage (und welche!) klar zu machen, wie weit, bei freiem Erfinden eigener musikalischer Entwicklungen, an einmal getrof­fenen Verläufen festgehalten und Abmachungen eingehalten wer­den sollten, verlaufen ausufernd und werden meist ohne konkrete Lösungsansätze bis zur nächsten Diskussionswelle (vielleicht am Abend?) vertagt.

« Am Thema bleiben » – eine Herausforderung, mit der es sich zu leben lohnt, die sich in Köpfen weiterdreht, bis bei der nächsten, die Laune und Morgenkaffee vermiesenden Zeitungslektüre plötzlich als strahlendes Glücksmoment der Gedanke an Musik, an Üben, an das Denkerin, Schreiberin, Musikerin und Freundin

Christina Thürmer-Rohr

Die Freundschaft zur Welt nicht verlernen. Am 17. November 2016 feierte die feministische Autorin, Theoretikerin, Vordenkerin und Musikerin Christina Thürmer-Rohr ihren 80. Geburtstag. Zu diesem Anlass erschien am 26.11.2016 der Sammelband "Die Freundschaft zur Welt nicht verlernen - Texte für Christina Thürmer-Rohr zum 80. Geburtstag der Sozialwissenschaftlerin, Feministin und Musikerin".

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Immer-wieder-anfangen-können mit dem Am-Thema-Bleiben die Atmosphäre erhellt und den Tag rettet.

Gehört der eine Teil in Christina Thürmer-Rohrs musikalischem Leben der aufnotierten Klassik und episodenhaft mal der Rockmu­sik, nimmt der andere Teil in den letzten Jahren einen stetig größer werdenden Platz ein: die frei-brodelnde Improvisation, das Spiel ohne doppelten Sicherheitsboden, das « instant composing » mit dem Momentanen, wird immer häufiger durchsetzt mit eingepflanzten, an die Oberfläche drängenden Erinnerungsfetzen. Die abstrakten Titel der frühen motorischen « Strukturen » (1996) für zwei Klaviere oder « in A » (1997) oder, weniger technokratisch, in « Fern und Nah » (2002) verändern sich, werden inhaltlich, wenden sich Überlegungen, Verlagerungen, Montagen, Verformungen und Verfremdungen zu: « Dialoge für zwei Klaviere » (2003), « Actus tragicus » (2014), « Gren­zen und Entgrenzungen » (2015). Die Frage bleibt, wie weit können intellektuell klar formulierte Denkwege musikalisch übersetzt oder gar parallelisiert werden? Skepsis ist immer mit dabei: Wenn Musik eine Sprache ist, spricht diese Sprache über und von sich, von Tönen, von musikalischen Spannungsverhältnissen. Wortsprache jedoch benennt, was Sache ist: das Tier, der Mensch, das Glück, der Ton, das Denken, die Musik. Sich beider Medien bedienen zu können, ist Gnade und Risiko zugleich.

Christina Thürmer-Rohrs größtes musikalisches Glück ist der täglich aufgesuchte Rückzugsort Orgel. Mit Bachs und Buxtehudes Hilfe trotzt sie der Logik angemahnter Termine. Das Bewusstsein, dass Widerstand gegen die unaufhaltsam fortschreitende Zeit nicht fröhlicher macht, hat ihre grundsätzliche Liebe zur Welt nicht ange­tastet. Ist der ehemalige Furor auch gemindert, ist sie immer wieder bereit für ein nächstes Projekt, für andere Konfrontationen, andere Töne und neue Formen mit neuen Inhalten. Die Suche führt in Trüm­merfelder, Scherbenhaufen, aber auch in Paradiesgärten. Dabei hat sie das Wichtigste und Menschlichste nie verlernt, das Staunen: über die Ordnung der Welt, der tönenden wie der lärmenden, der chaoti­schen oder partiell beruhigten; oder auch das Staunen über vielleicht nur den einen Ton, der von der Welt spricht und nicht nur von sich selbst.