“Menschen aus der Mitte der Gesellschaft” - Frauen of Color, Intersektionalität und der deutsche Film

Veranstaltungsbericht

In einem Panel beim achtung berlin Filmfestival sprechen die Schauspielerin Thelma Buabeng und die Filmemacher*innen Pary El-Qalqili, Zara Zandieh und Biene Pilavcı mit Canan Turan über ihre Arbeiten, Erfahrungen in der deutschen Filmindustrie und ihre Forderungen für mehr Gleichberechtigung, Respekt und Zugänge.

 

Paneldiskussion achtung berlin 2019
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Paneldiskussion achtung berlin 2019

Auf der diesjährigen Berlinale wurde wie noch nie zuvor in der Geschichte des internationalen A-Filmfestivals auf verschiedenen Veranstaltungen über das Thema Diversität diskutiert. Auch bei der Organisation ProQuote Film, die sich für Parität auf allen Ebenen der Film- und Fernsehproduktion und die Einführung der Quote für Frauen in Deutschland einsetzt, fällt der Begriff in letzter Zeit immer öfter.

Die #metoo-Bewegung hatte bereits zuvor weltweit für Aufregung gesorgt und Sexismus beim Film, insbesondere die Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen, auf die Tagesordnung gebracht. Das sind alles erfreuliche und wichtige Entwicklungen. Worüber jedoch nicht gesprochen wird, sind weiße Privilegien und die Unterdrückung und Marginalisierung von Frauen in Bezug auf race, Gender, Klasse, Alter und/oder andere Faktoren.

Wenn die Realität der Mehrfachdiskriminierung in feministischen Diskursen und Kämpfen nicht mitberücksichtigt wird, kann auch nicht gegen sie vorgegangen werden. Oder, um es mit den Worten von Kimberlé Crewnshaw auszudrücken, die eine wichtige Schlüsselfigur für das Konzept der Intersektionalität ist:

“When there’s no name for a problem, you can’t see a problem. When you can’t see a problem, you can’t solve it.” (Kimberlé Crenshaw bei TEDWomen, 27.10.2016).

Deshalb kann eine Diskussion um Feminismus und Diversität beim Film und Fernsehen nur dann für alle Frauen emanzipatorisch sein, wenn sie die Hindernisse dafür in den Fokus rückt. Genau hier setzte “Frauen* of Color und das deutsche Kino — Eine Paneldiskussion mit Filmemacher*innen aus Berlin über Diversität, Inklusion und Repräsentation” an. Es fand am 11. April 2019 im Rahmen der Branchentage des Filmfestivals achtung berlin statt.

YouTube, andere Narrative und fragmentarisches Erzählen als Strategien des Empowerments und der Selbstrepräsentation

Die Gäste des Panels (Kurzbiographien in Foto-Galerie) stehen für eine Praxis des Filmemachens von Künstler*innen of Color, die ich gerne als ‘anderes deutsches Kino’ bezeichne. Das sind für mich solche Filme, die Geschichten und Perspektiven ins Zentrum rücken, die in der deutschen Gesellschaft oft wenig Raum und Beachtung finden. Eine subversive Art des filmischen Erzählens also, die Mainstream-Diskursen zu Themen wie Migration/Migrant*innen, People of Color, “Integration”, Flucht und Exil kritisch gegenübersteht und einen anderen Blick auf diese wirft.

Thelma Buabeng durfte in den ersten Jahren ihrer Karriere nur “Refugees“, Putzfrauen, Dienstmädchen, Sklaven oder Prostituierte” spielen, wie sie sagt. Bereits an der Schauspielschule sei sie nicht gerade motiviert worden, denn es sei “für Frauen schwierig am Theater, für Schwarze Frauen schon mal ganz.”

Ihren YouTube-Kanal “Tell Me Nothing From The Horse” habe Thelma ursprünglich aus Wut und Verzweiflung gestartet. Sie wollte denen, die ihr das Talent oder die Eignung für andere Rollen aufgrund ihrer Herkunft abgesprochen hatten, zeigen, dass sie sehr wohl unterschiedliche Figuren darstellen könne. In ihren Videos schlüpft sie in selbst kreierte Charaktere und stellt mit ihnen provozierend Klischees und Vorurteile auf den Kopf, indem sie mit (weißen) Erwartungshaltungen spielt.

“Wenn die Leute lachen können und sich trotzdem mit der Wahrheit konfrontiert sehen”, hat Thelma ihr Ziel erreicht. Heute kann sie stolz sagen, dass sie mittlerweile in sehr verschiedenen Berufen und als diverse Persönlichkeiten jenseits von Stereotypen vor der Kamera stand — allerdings erst, nachdem sie sich in vielen Interviews rassismuskritisch geäußert hatte.

Über ein Jahr hat Biene Pilavcı für ihre neue Sex-and-Crime Serie “Macht der Lakaien” in dem Sexarbeiter*innenmilieu in Deutschland recherchiert. Daraus hat sie eine packende Geschichte mit einer deutsch-türkischen Hauptfigur entwickelt. Eine Geschichte, in der eine junge Frau mit migrantischer Biographie ein ganzes Wirtschaftsimperium zu Fall bringt und dabei die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Mann und Frau offenlegt, wurde zweifelsohne so noch nicht erzählt.

Und dennoch wollen Bienes Erfahrung nach Produzenten und Redakteure den Aspekt der Sexarbeit nicht nur reduzieren, sondern ganz ausblenden, weil es ein stark stigmatisiertes Thema ist. Biene muss auch ihren Regiewunsch für dieses Projekt ständig rechtfertigen, und das trotz ihrer beachtlichen Festivalliste und der zahlreichen Filmpreise, die sie bereits erhalten hat.

Schon während ihrer Zeit auf der Filmschule habe Ex-DFFB-Direktor Jan Schütte aufgrund ihres großen Erfolgs mit dem Dokumentarfilm “Alleine Tanzen” (2012) Biene nahegelegt, sie solle sich auf “Türken und TV-Dokus” konzentrieren. Dabei studierte sie fiktionale Regie und wollte Spielfilme machen. Eine andere Person habe sie einmal in abfälligem Ton auf ihren Arbeiterhintergrund angesprochen: Sie wisse ja nicht, wie man ein Champagnerglas hält, also könne sie das auch nicht filmisch inszenieren. Eine klassizistische Zuschreibung, mit der Biene scheinbar in ihre Schranken gewiesen werden sollte. Als “eselstreibende Bauchtänzerin” wurde sie auch inmitten eines Drehbuchseminars bezeichnet — ausgerechnet vom Dozenten Sascha Arrango selbst. Sind das Bemerkungen, die sich ein weißer deutscher Regisseur gefallen lassen müsste? Wohl kaum.

Die Filmregisseurin Pary El-Qalqili machte oft mit Fernsehredaktionen die Erfahrung, dass sie auf dem klassischen Heldennarrativ und der im europäischen und Hollywood-Kino dominanten 3-Akt-Struktur beharrten. Das Potential dieser Erzählform empfindet Pary jedoch als sehr begrenzt. Das Schreiben “anderer Geschichten” sei viel komplexer und erfordere eher eine fragmentarische Erzählstruktur.

Das hat für Pary auch mit ihrer Identität sowie ihrer persönlichen Wahrnehmung von der Welt und von Beziehungen zu tun. In ihrem Dokumentarfilm “Schildkrötenwut” (2012) gibt es durchaus eine Reise, und zwar die, die sie gemeinsam mit ihrem Vater nach Palästina unternimmt, jedoch entfaltet sich die Story nicht wie in den meisten Dokumentarfilmen in linearer Form, sondern fragmentarisch und kreisförmig. In ihrer Erzählweise ist die Regisseurin dabei radikal subjektiv.

Dies bei den Fernsehredakteur*innen, die den Film koproduzierten, durchzusetzen, sei ein Kampf gewesen. Bei ihrem Film “Flying High” (in Entwicklung) musste sie feststellen, dass der Sender am meisten an der sexuell selbstbestimmten deutsch-palästinensischen Protagonistin interessiert war. “Das ist natürlich ein heißes Thema. Für mich ist dann die Herausforderung, die Geschichte so zu schreiben, dass sie nicht irgendwelche Klischees erfüllt”.

“Wo sind denn die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft?”

Auch Kamerafrau und Regisseurin Zara Zandieh haben die „nicht-klassischen“ Filmformate, wie zum Beispiel bei den Experimentarfilmemacherinnen Maya Deren, Forough Farokhzad oder Trinh-T. Minh-Ha, schon seit Beginn für ihre eigene Arbeit inspiriert.  “Ein Film ist umso stärker, umso mehr Menschen etwas in ihn hinein interpretieren können und auch ihre eigenen Erfahrungen darin widergespiegelt sehen.”

Bei der Besprechung ihres Abschlussfilms „The Sea Runs Thru My Veins“ (2019) wurde ihr von einem der Beisitzenden der Prüfungskommission die Frage gestellt, „wo denn die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft seien“, worauf sie antwortete, dass die Protagonist*innen ihres Filmes genau auch Teil der Mitte der Gesellschaft seien. PoC scheinen in der Vorstellung vieler weißer Deutscher immer noch nicht mitten unter ihnen zu leben und in diesem Sinne auch nicht richtig dazuzugehören. Die dichotome Unterscheidung von einem homogenen “Wir” und “Ihr” wird in solchen Kommentaren nur allzu deutlich.

Thelma Buabeng erzählt in diesem Kontext von einem Interview, das sie der Süddeutschen Zeitung gab und das kürzlich erschien. Die erste Frage, die ihr die Journalistin stellte: “Und, wie fühlst du dich in Deutschland?” Dass man sie als eine Person mitten in der Gesellschaft, die in Meckenheim bei Bonn aufgewachsen sei, so etwas fragen könne, findet Thelma sehr frustrierend. In dem Untertitel des Artikels hieß es dann auch noch: “Etwa eine Million Deutsche sind schwarz. Wie leben sie hier?”.

Genau gegen diese Art von Fragen, die bereits bei dem Facebook-Aufruf nach Interviewpartner*innen der Zeitung für Aufregung in der afrodeutschen Community sorgte, habe sie in dem einstündigen Gespräch mit der Süddeutschen versucht zu argumentieren — leider ohne Erfolg. Die Medien müssten anfangen, Schwarze Deutsche ihren Lebensrealitäten entsprechend darzustellen, statt sie zu othern. Auch beim Film und Fernsehen sieht Thelma noch viel Handlungsbedarf: “Warum sehe ich mich so, wie ich in dieser Gesellschaft bin, nicht im deutschen Fernsehen?”, fragt sie. Und: “Schwarze tauchen meistens auf, wenn es ein Problem gibt.”

Forderungen und Lösungsansätze: Zwischen Optimismus und Wut über strukturelle Diskriminierung von PoC

Trotz ihrer negativen Erfahrungen blickt Thelma der Zukunft vor allem positiv entgegen. Für die neue Generation von Schauspieler*innen of Color hat sie Hoffnung, dass die Dinge sich zum Guten wenden würden, in ihrer eigenen Karriere sei das bereits der Fall. Wie bei allen gesellschaftlichen Veränderungen brauchten auch Film, Fernsehen und Theater in Deutschland Zeit, um sich für eine diversere Besetzung zu öffnen, was zum Teil auch schon geschähe. Deshalb hält Thelma es “trotz des ganzen Kampfes, trotz der ganzen Wut” für wichtig, sich in Geduld zu üben.

Auch aus dem Publikum kommen ähnliche Stimmen. Die Schauspielerin Jale Arıkan rät dazu, sich mit den Personen aus der Filmindustrie zusammenzutun, die “miteinander teilen und leben” wollen. Den Film “Der Fall Collini” mit Elyas M’Barek in der Hauptrolle nennt sie als ein positives Beispiel. Filmemacherin Sarah Blaßkiewitz (Jury Mittellanger und Kurzfilm, achtung berlin 2019) erzählt von ihren guten Erfahrungen mit Produzent*innen, die ihr als “Brückenbauer” durch die verstaubten Institutionen von Sendern und Förderanstalten hindurch helfen. Die ersten zehn Jahre habe sie selber vor allem Absagen für ihre Filmprojekte erhalten. “Es dauert einfach”, so Thelma Buabeng.

Es gibt aber auch Gegenstimmen aus dem Publikum: Die Schauspielerin Şiir Eloğlu sagt, dass sie schon sehr lange auf eine Veränderung warte. Beispielsweise seien die Rollen, die man als türkische Frau über 40 in Deutschland bekomme, immer noch auf die Mutterfigur begrenzt, und diese müsse auch noch traditionell sein, Kopftuch tragen und schlechtes Deutsch sprechen. Das Argument von Regisseur*innen und Produzent*innen dafür sei, dass sie darstellen wollten, “dass die Eltern noch nicht so angekommen sind”. In diesem Fall wird deutlich, wie eng rassistische Zuschreibungen und Altersdiskriminierung miteinander verflochten sein können.

Wie deutsche Sender organisiert sind, wie Entscheidungen in Fernsehredaktionen getroffen werden, sowie die Tatsache, dass viele Redakteure ihre Position zum Teil 20 Jahre lang inne haben, halten die Panelgäste einstimmig für eine überholte und kontraproduktive Praxis. Insbesondere, dass die deutschen Redakteure mehrheitlich weiß, männlich und mittleren Alters seien, finden sie sehr problematisch. PoC seien in diesen Strukturen sehr schwach repräsentiert, so dass von einer Mehrperspektivität in den Filmen, die produziert werden, nur sehr selten die Rede sein kann.

Dass Redaktionen und Förderinstitutionen dem deutschen Kino- und Fernsehpublikum im Hinblick auf Filmfiguren und -narrative zu wenig zutrauten, stellt für Zara Zandieh einen weiteren Kritikpunkt dar. In anderen Ländern würden People of Color durchaus öfter Charaktere darstellen, die nicht derartigen Klischees entsprechen, welche künstlich konstruiert und realitätsfern sind. “Wir sind alle vielschichtiger als diese Kategorien”. Dass das hierzulande nicht ausreichend gesehen und forciert werde, habe die Reproduktion von Stereotypen zur Folge und verstärke die bestehenden Dynamiken, die PoC benachteiligten. Doch nirgendwo könne Veränderung stattfinden, so Zara, wenn man nicht Macht abgeben möchte.

“Wenn wir an eine diversere, vielschichtigere und auch reichere, also auch weisere Gesellschaft glauben, dann können wir die nur erreichen, wenn bestimmte Personen bereit sind, aus ihren Machtpositionen rauszugehen, diese zu teilen, und so anderen Platz zu machen.” (Zara Zandieh)

Zara ist Teil eines sich gerade formierenden queerfeministischen Filmnetzwerks, das sich für die Durchsetzung solcher Forderungen in der Filmindustrie einsetzen möchte.

Die prekären Zustände, die das Dasein als Künstlerin oder Filmemacherin oft mit sich brächten, glaubt Pary El-Qalqili, seien für viele People of Color aus ökonomisch schwachen Verhältnissen ein Grund, erst gar nicht Film zu studieren. Filmhochschulen müssten deshalb offener und zugänglicher für diese werden und ihren Student*innen bessere Perspektiven bieten. Mehr PoC wünscht sie sich nicht nur in den Redaktionen, sondern auch in den Lehrstühlen der Filmhochschulen und in den Chefsesseln der großen Filmproduktionsfirmen.

Biene Pilavcı appelliert wiederum an die Verantwortung und Handlungsmacht von deutschen Zuschauer*innen: Auch sie entschieden über die Art der Filme, die produziert werden, mit. Durch den Kauf von Eintrittskarten an der Kinokasse beispielsweise fließe ein Teilbetrag zurück zu Filmförderanstalten. Und es seien schließlich unsere GEZ-Gebühren und Steuergelder, mit denen sich öffentlich-rechtliche Sender finanzieren und das Bundeskultusministerium für die Förderung von Filmen nutzt. “Wir sollten uns nicht nur wünschen, sondern auch fordern, dass sie ihre Finanz- und Förderrichtlinien an die Realität anpassen. Uns gibt es! Und wir sind bunt, kunterbunt!”