Der Fall „Bedoya gegen Kolumbien“ vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte hält derzeit Kolumbien in Atem. Es ist der erste Fall von sexueller Gewalt in Kolumbien, der vor dem höchsten Gericht der Region verhandelt wird – ein Hoffnungsschimmer für Millionen Frauen. Doch Kolumbiens offizieller Vertreter zieht alle Register, um einen Schuldspruch zu vermeiden.
Jineth Bedoya musste sich erst durch sämtliche Instanzen in Kolumbien klagen, bevor ihr Fall von dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica zugelassen wurde. Bedoya, 46 Jahre alt und eine der bekanntesten investigativen Journalist/innen des Landes, hat ihren Fall publik gemacht. Sie hat keine Ruhe gegeben, nachfragt, wer die intellektuell Verantwortlichen für ihr Martyrium waren.
Am 26. Mai 2000 wartete die damals 26-jährige Redakteurin der Tageszeitung El Espectador vor der Justizvollzugsanstalt La Modelo auf ihren Ressortleiter und einen Fotografen, um mit den beiden ein Interview mit dem ranghohem Paramilitär „El Panadero“ in der Haftanstalt zu führen. Bedoya recherchierte zu dieser Zeit zu Gewalt, Waffenhandel und dem Geschäft mit Entführungen zwischen Paramilitärs, Guerilla und Drogenkartellen – „unter Komplizenschaft von Vertretern des Staates“, erklärte sie in ihrer Aussage.
Also wartete Bedoya direkt vor der Haftanstalt auf Einlass. Quasi unter den Augen der Vollzugsbeamten wurde sie von zwei Paramilitärs entführt, sechzehn Stunden wurde sie außerhalb von Bogotá festgehalten, vergewaltigt und gefoltert. Hatte man der unbequemen Reporterin eine Falle gestellt, wollte man sie demütigen, mundtot machen? Das Interview mit dem Paramilitär sei Bedoya von Mitarbeiter/innen der kolumbianischen Sicherheitsbehörden angeboten worden, sagte ihr Ressortleiter bei der öffentlichen Anhörung Mitte März.
Der Exparamilitär selbst gestand bereits 2016 seine Beteiligung und wurde zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch zwei weitere Paramilitärs wurden zu 30 bzw. 40 Jahren verurteilt, aber keiner der Auftraggeber. Bedoya geht von mindestens 20 Beteiligten aus. Die Klage gegen den kolumbianischen Staat lautet darauf, dass dieser von der akuten Gefahr für Bedoya gewusst und keine Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen hat. Von dem Gerichtshof in San José fordert Bedoya außerdem, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen anzuerkennen.
Wer hatte ein Interesse an ihrer Entführung, welche Rolle spielten dabei diejenigen aus Polizei- und Justizapparat, die ihr das Interview offerierten? Zentrale Fragen, die auch knapp 21 Jahre nach der Tat noch aktuell sind und die vor der höchsten juristischen Instanz der Region nun beantwortet werden sollen, hofft Jonathan Bock, Direktor der Stiftung für Pressefreiheit (FLIP).
21 Jahre Straflosigkeit mit Vorsatz?
Die Stiftung für Pressefreiheit unterstützt Bedoya seit Jahren bei ihrem Marsch durch alle Instanzen der kolumbianischen Justiz. Bock sitzt bei den Anhörungen direkt neben Bedoya und ihrer Anwältin Viviana Krsticevic vom Zentrum für Gerechtigkeit und Völkerrecht (CEJIL). „Dieser Prozess ist aus Perspektive der Frauenrechte, aber auch aus Sicht der Pressefreiheit extrem wichtig. Hier wurde einer Frau sexuelle Gewalt im direkten Kontext ihrer journalistischen Arbeit angetan und der kolumbianische Staat hat sie schlicht im Stich gelassen“, klagt Bock.
Fast 21 Jahre sind zwischen der Gewalttat und dem Prozessauftakt vergangen. 21 Jahre der Straflosigkeit, in denen nicht oder nur halbherzig ermittelt wurde, in denen abgewartet und verschleppt wurde. Beweise verschwanden aus der staatlichen Asservatenkammer, insgesamt zwölfmal musste Jineth Bedoya ihre Aussage vor der Staatsanwaltschaft wiederholen und mehrfach wurde sie trotz massiver Morddrohungen von den staatlichen Sicherheitskräften als „nicht gefährdet“ eingestuft.
Widersprüche und gravierende Versäumnisse, die in der öffentlichen Online-Anhörung Mitte März zur Sprache kamen und für die sich Camilo Gómez, Repräsentant des kolumbianischen Staates vor Gericht, ganz offiziell bei Bedoya entschuldigte.
Doch damit war es mit Übernahme von Verantwortung von Seiten des kolumbianischen Staates auch schon vorbei, analysiert Gustavo Gallón von der kolumbianischen Jurist/innenkommission CCJ. Für die Menschenrechtsorganisation mit Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen ist der Prozess gleich aus mehrfacher Perspektive aufschlussreich. „Die Strategie der kolumbianischen Verteidigung ist zweigeteilt: einerseits ist die Devise, so wenig Verantwortung wie möglich zu übernehmen, andererseits will man gegenüber dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte offensiv auftreten“, so Gallón.
Dem kam Camilo Gómez nach und sorgte am 16. März für einen noch nie dagewesenen Eklat vor dem Gericht. Erst lehnte der Jurist im Auftrag des kolumbianischen Staates fünf der sechs Richter/innen wegen Befangenheit nach der Befragung Bedoyas ab, dann beantragte er die Unterbrechung der Anhörung und als dem nicht stattgegeben wurde, verließ Gómez in seiner Funktion als Repräsentant des kolumbianischen Staates die Anhörung. Für den Amerika-Direktor von Human Rights Watch, José Miguel Vivanco, beschämend und unverantwortlich. Noch nie habe ein angeklagtes Land eine Anhörung verlassen. Nicht einmal Venezuela.
Jineth Bedoya verlangt, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen zu ächten
Der Affront des kolumbianischen Vertreters hat allerdings seinen Hintergrund, so Gallón. Kolumbien zählt zu den Ländern, die die höchste juristische Instanz der Region reformieren wollen. Sie soll schneller werden, die Zeitspanne zwischen Klage und Urteil soll sinken, fordert eine Gruppe von Ländern, darunter Kolumbien. Ohne allerdings zusätzliche Gelder und zusätzliches Personal einsetzen zu wollen, um die steigende Zahl von Klagen bewältigen zu können, moniert Gustavo Gallón. „De facto läuft das auf die Schwächung des Interamerikanischen Systems für Menschenrechte hinaus“.
Dieser Konflikt schwebt über dem Fall Bedoya, der für Millionen Vergewaltigungsopfer in Kolumbien ein Hoffnungsschimmer ist. Gerade weil Jineth Bedoya vom Gerichtshof verlangt, sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegsverbrechen in Kolumbien zu ächten, und an die Opfer appelliert, nicht zu Schweigen. Dafür tritt die 2018 mit dem Anne-Klein-Frauenpreis prämierte Bedoya mit ihrer Kampagne „No es hora de callar“ („Es ist nicht Zeit zu schweigen“), seit zehn Jahren ein. Ein Schuldspruch gegen den kolumbianischen Staat könnte weitreichende Folge haben. Das will die Regierung von Präsident Iván Duque unbedingt verhindern und deshalb zieht sie alle Register, so Jaime Barrientos, Journalist mit Arbeitsschwerpunkt Menschenrechte aus Bogotá.
Mehr Kontrolle der Justiz lautet die Devise der Regierung Duque
Dazu gehört auch ein Angebot zur gütlichen Einigung, das Camilo Gómez der Journalistin gleich zweimal machte – einmal persönlich und noch einmal – um Druck auf Bedoya auszuüben – über die Redaktion der Tageszeitung El Tiempo. Dort ist Bedoya als stellvertretende Chefredakteurin angestellt. Die Redaktion berichtet über die bis zum 23. April laufende öffentliche Anhörung mit ihren Stellungnahmen, Gutachten und Abschlussplädoyers en detail. Das sorgt für mehr mediale Aufmerksamkeit, als der Regierung in Bogotá genehm ist und Bedoya nutzte die große Bühne sofort, um ihre Absage an das Gesprächsangebot von Camilo Góemz publik zu machen.
Zu Recht, meint Gustavo Gallón. „Zum einen sind Verhandlungsangebote während eines laufenden Prozesses laut kolumbianischen Recht illegal, zum anderen ist der Umgang der offiziellen Vertreter mit dem Opfer Jineth Bedoya alles anders als angemessen“.
Dagegen wehrt sich Bedoya. Zwei Ohrfeigen habe sie vom kolumbianischen Staat erhalten, erklärte sie gegenüber einem Fernsehsender. Dann fragte sie direkt in die Linse: „Wenn man mit mir so umgeht, wie gehen die offiziellen Vertreter Kolumbiens dann mit Opfern um, die keinen Zugang zu den Medien des Landes haben, sich kaum wehren können?“
Für Jonathan Bock von der Stiftung für die Pressefreiheit ist dieses Verhalten kein Wunder. „De facto versucht Kolumbien den Opfern den Zugang zur Justiz zu verweigern – mit allen Mitteln. Dazu gehören auch diese Angriffe auf den Menschenrechts-Gerichtshof, die Versuche ihn zu diskreditieren und womöglich zu schwächen“, so der Journalist.
Strategien, die auch in Kolumbien zum Einsatz kommen. Ein Beispiel ist das Ermittlungsverfahren gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez im August 2020, dem eine wütende Kampagne gegen unabhängige Richter/innen folgte, angezettelt von Uribes direktem Umfeld – er selbst bezeichnete sie als Mafiosi. Mehr Kontrolle im Justizsektor lautet nicht erst seitdem die Devise der Regierung Iván Duque und dazu scheint auch das konfrontative Auftreten vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehören, so Gustavo Gallón.
Ob dadurch der drohende Schuldspruch für den kolumbianischen Staat abzuwenden ist, wird erst die für November erwartete Urteilsverkündung zeigen. Allzu wahrscheinlich ist das jedoch nicht, denn Jineth Bedoya hat in den letzten zwanzig Jahren so viele Details zu ihrem eigenen Fall recherchiert, dass Anklage und Gutachter gut vorbereitet sind. Dabei kursiert längst auch der Name von Polizeigeneral Leonardo Gallego als mutmaßlicher Auftraggeber für die Entführung, Folter und Vergewaltigung der Reporterin. In Kolumbien wurde gegen den Offizier im Ruhestand bisher noch nicht ermittelt. Doch das könnte sich mit einem Urteil des Gerichtshofs in San José ändern, so Gustavo Gallón.
Für die Opfer wäre das ein Hoffnungsschimmer, für Jineth Bedoya eine weitere Etappe auf dem langen Weg zu etwas Gerechtigkeit. Einen ersten Sieg konnte Bedoya bereits erzielen: Am 24. März verpflichtete der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den kolumbianischen Staat zu sofortigen und umfassenden Maßnahmen zum Schutz ihres Lebens.
Dieser Artikel wurde zuerst auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht.