Von der Menschenrechtsverteidigerin zur Frauenrechtlerin

Porträt

Die syrische Juristin Joumana Seif ist Anne-Klein-Frauenpreisträgerin 2023. Ihr geht es um die politische Partizipation von Frauen und um die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie deren Ahndung. Ihren Weg von Damaskus nach Berlin schildert Kristin Helberg.

20 Jahre ist es her, da nahm Joumana Seif schon einmal einen Preis in Deutschland entgegen – den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar. Verliehen wurde dieser im Jahr 2003 ihrem Vater Riad Seif, einem der prominentesten Oppositionellen Syriens, der damals im Gefängnis saß. Jahrelang war Joumana sein Fenster zur Welt, seine Sprecherin, seine Kontaktperson zu den im Verborgenen operierenden Regimekritikern in Damaskus. Diese Zeit hat sie geprägt, politisiert und abgehärtet. Aber den Weg zur Frauenrechtlerin ist Joumana Seif alleine gegangen – und wie früh er begann, hat sie selbst erst spät gemerkt.

Joumana Seif ist eine kleine Person, freundlich und entschlossen, rastlos in ihrem Engagement, ruhig im Auftreten. Ob eine politische Mitstreiterin ihre Hilfe benötigt oder ihre Tochter ihren Hund bei ihr unterbringt – auf Joumana ist Verlass. Ein Gefühl von Zufriedenheit stelle sich bei ihr erst dann ein, wenn sie etwas bewirkt habe, erzählt die syrische Juristin in ihrer Berliner Wohnung. Das erklärt, warum sie stets neue Herausforderungen sucht.

Sie gründet Frauenorganisationen, unterstützt Zeuginnen in Deutschland

2012 – ein Jahr nach Beginn der syrischen Revolution – verlässt Joumana Seif ihre Heimatstadt Damaskus. 2013 gründet sie mit einigen anderen das Syrian Women´s Network, 2014 folgt die Syrian Feminist Lobby, 2017 das Syrian Women´s Political Movement. Sie wirkt als Vorsitzende der Initiative The Day After: Supporting Democratic Transition in Syria und ist Mitglied der Civil Society Support Rooms, die bei den Verhandlungen in Genf die Mitsprache der Zivilgesellschaft sicherstellen sollen. Außerdem unterstützt sie die Policy Coordination Group, die sich mit dem Schicksal Zehntausender syrischer Verschwundener und Verhafteter befasst. Joumana Seif scheint auf allen Hochzeiten zu tanzen, aber der Fokus ihrer Arbeit ist klar: Es geht ihr um die politische Partizipation von Frauen, ihre Ausbildung und Befähigung zu aktiven Bürgerinnen, die Anerkennung von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Seit 2017 arbeitet die Anwältin für das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in Berlin, wo sie sich für die juristische Verfolgung der in Syrien begangenen Völkerrechtsverbrechen einsetzt. In Deutschland kennt man sie spätestens seit dem Al-Khatib-Verfahren, dem weltweit ersten Prozess wegen Staatsfolter in Syrien, der zwischen 2020 und 2022 vor dem Oberlandesgericht Koblenz stattfindet. Über Jahre begleitet Joumana die syrischen Überlebenden, die vor Gericht zu Folter und sexueller Gewalt in der Damaszener Geheimdienstabteilung Al Khatib aussagen und damit zur Verurteilung des Hauptangeklagten Anwar Raslan zu lebenslanger Haft beitragen. Ein Meilenstein für Syrien und das internationale Völkerstrafrecht.

Die 52jährige hat bitteren Kaffee gekocht und fragt, ob sie E-Zigarette rauchen dürfe – ich muss an ihren Vater denken, der bei Interviews früher so stark rauchte, dass sein Gesicht irgendwann hinter einer weißen Rauchwolke verblasste. Joumana Seif schiebt ihre Brille in die schwungvollen dunkelblonden Haare, ihre Stimme ist dunkel und rau. Die vielen stumm eingehenden Nachrichten auf ihrem Handy ignoriert sie.

Demokratischer Wandel bedeutet für sie, Frauen zu beteiligen

Früher habe sie wenig Sinn darin gesehen, in einem Land wie Syrien für Frauenrechte zu kämpfen, gesteht die Aktivistin, schließlich seien unter der Herrschaft der Assads alle unterdrückt – Männer wie Frauen. „Warum sollte ich mich nur für die Rechte von Frauen einsetzen, wenn die grundlegendsten Menschenrechte aller Syrerinnen und Syrer missachtet werden?“, fragt sie.

Ihre Haltung ändert sich ab 2011. Die arabischen Revolutionen und die Erfahrungen mit der syrischen Opposition hätten sie zur Feministin gemacht, sagt Seif und erinnert sich an ein Schlüsselerlebnis im Fahrstuhl. Ende 2012 treffen sich Syriens führende Exil-Oppositionelle in Katar, um den Syrischen Nationalrat zu erweitern. Unter den 30 gewählten Vertretern ist keine einzige Frau. Als Joumana Seif einige der Herren im Fahrstuhl trifft, spricht sie diese darauf an. „Sie antworteten mir, unsere Zeit werde noch kommen“, erzählt Seif und muss noch immer den Kopf über so viel Ignoranz schütteln. Seitdem ist ihr klar, wie dringend syrische Frauen an sämtlichen politischen Prozessen beteiligt sein müssen. Erst recht im Exil, wo die Angst vor dem Assad-Regime nicht jeden Wunsch nach Veränderung verhindert. Wer die Freiheit und Sicherheit der Diaspora dazu nutzt, demokratischen Wandel zu fordern, kann Frauen nicht auf später vertrösten.

Das Gefühl von Angst kennt Joumana Seif gut. Es zieht sich durch ihre Kindheit und Jugend – ihr jüngster Onkel wird von Soldaten abgeholt und verschwindet für immer, ihr ältester Cousin wird verhaftet und kehrt nach 13 Jahren in den Foltergefängnissen Tadmur und Saydnaya als gebrochener Mann zurück. Im Haus ihrer Großmutter öffnet sie als Kind die Haustür und erwischt einen Spitzel beim Lauschen. „Dieses Regime hat totale Kontrolle über die Gesellschaft“, sagt Seif.

Im Familienunternehmen lernt sie soziale Verantwortung

Ihr Vater arbeitet sich in Damaskus' konservativem Stadtteil Midan vom Sohn eines Zimmermanns zum erfolgreichen Textilfabrikanten hoch. Joumana wächst deshalb einerseits behütet und privilegiert auf, andererseits bekommt sie in der Firma des Vaters früh Einblicke in das schwierige Leben einfacher Leute. Sie freundet sich mit den Kindern der Arbeiter an, besucht am Wochenende mit ihrem Vater und den beiden Brüdern Familien, für die Riad Seif sich einsetzt. „Wir sollten uns nie als etwas Besseres fühlen“, erzählt die Syrerin. Ihr Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit und das Unrecht gegenüber Frauen entwickelt sich in jener Zeit.

Nach dem Abitur beginnt Joumana, französische Literatur zu studieren, merkt jedoch bald, dass ihr Platz im Familienunternehmen ist. Ihr Vater besteht darauf, dass sie zunächst alle Abteilungen selbst durchläuft. „Er meinte, wenn ich die Sorgen der Arbeiterinnen verstehen wolle, müsse ich arbeiten wie sie“, erinnert sich Joumana. Und so näht und säumt sie, fährt morgens nicht mit ihrem Vater im Auto zur Fabrik, sondern mit den Kolleginnen im Bus.

Ihr Hauptaugenmerk gilt dem Wohl der Angestellten. Sie etabliert eine eigene Abteilung für die soziale Betreuung und Weiterentwicklung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Frauen werden zu mehr Verantwortung und Fortbildung ermutigt, ein Betriebskindergarten entsteht, Joumana organisiert Ausflüge, Theatervorführungen und sportliche Aktivitäten. 1993 übernimmt Riad Seif die Lizenz von adidas, das Unternehmen wächst, die 1.200 Angestellten schätzen den Unternehmer für seine neuen Ideen und das soziale Engagement.

Ein Jahr später nutzt Riad Seif seinen Erfolg und seine Popularität, um als unabhängiger Abgeordneter ins Parlament einzuziehen, Wirtschaftsreformen zu fordern und die Korruption der herrschenden Elite zu kritisieren. Damit schafft er sich Feinde – 1994 wird zum Wendepunkt im Leben der Familie Seif. Fortan bestimmt die Auseinandersetzung mit dem Assad-Regime ihren Alltag, und weil sich Vater Riad weder kaufen noch einschüchtern lässt, greift dieses zu härteren Methoden. Für Joumana beginnen schmerzhafte Zeiten.

Assads Machtapparat vernichtet das Lebenswerk der Familie Seif

1996 kehrt ihr jüngerer Bruder Eyad von einem Ausflug nach Latakia nicht zurück, der 21jährige verschwindet spurlos. Ein Schock für Joumana, die sich nach der frühen Trennung der Eltern für ihn verantwortlich fühlte, als Teenager seine Schulaufgaben betreut hatte und für ihn da gewesen war. Alle Ermittlungen und Nachforschungen laufen ins Leere, die Leiche Eyads wird nie gefunden. Für die Familie ist klar, dass der Geheimdienst hinter dem Verschwinden steckt – es sei eine Botschaft an ihren Vater gewesen, meint auch Joumana. „Wenn jemand stirbt, kannst du trauern. Aber jahrelang mit der Hoffnung zu leben, dass er wiederkommt, zerstört dich innerlich.“ Zahllose syrische Mütter und Väter, Brüder und Schwestern leiden bis heute unter dieser Ungewissheit, denn etwa 130.000 Menschen gelten in Syrien als verschwunden.

In den folgenden Jahren vernichtet Assads Machtapparat auch das Lebenswerk der Familie Seif. Haltlose Vorwürfe, horrende Steuernachzahlungen und damit verbundene Exportverbote zwingen Riad Seif zum schrittweisen Verkauf des Unternehmens, im Jahr 2000 ist er bankrott. Joumana erlebt die Schikanen und den wirtschaftlichen Niedergang ihres Vaters hautnah mit. Sie bleibt bis zum letzten Tag in der Firma, ihren Ausverkauf empfindet sie als Demütigung.

Als im Sommer 2000 Hafiz al-Assad stirbt und Sohn Bashar die Nachfolge antritt, keimt Hoffnung auf. Der junge Augenarzt mit der weltoffenen in England aufgewachsenen Frau an seiner Seite könnte das verkrustete sozialistische Ein-Parteien-System öffnen und politische Reformen einleiten. Überall im Land entstehen private Dialogforen, bei denen Intellektuelle und interessierte Bürgerinnen und Bürger über die Zukunft des Landes diskutieren. Der so genannte Damaszener Frühling bricht an. Auch Riad Seif lädt zu Vorträgen in sein Haus ein, Joumana verfolgt die Debatten in der Küche, so voll ist es, direkt neben ihr drängen sich Spitzel des Geheimdienstes. Die Treffen werden immer größer, die Kritik direkter, die Forderungen konkreter. Das Regime zieht die Reißleine und lässt die Foren verbieten.

Sie wird die Stimme ihres Vaters, eines politischen Gefangenen

Damals habe ihr Vater ein Angebot des Präsidenten bekommen, sagt Joumana. Wenn er mit seinen politischen Aktivitäten aufhöre, könne er bei der Modernisierung des Landes mithelfen und werde für seine Verluste entschädigt. Ihr Vater sei zu ihr gekommen und habe sie nach ihrer Meinung gefragt, erinnert sich die Aktivistin. „Ich sagte, entschädigt zu werden ist unser Recht, aber dafür ihre roten Linien anzuerkennen und Theater zu spielen ist nicht akzeptabel.“ Ihr Vater sei glücklich über ihre Reaktion gewesen, erzählt Joumana, sie habe ihn als einzige ermutigt weiterzumachen, auch wenn sie große Angst um ihn gehabt habe.

2001 wird Riad Seif mit anderen Führungsfiguren des Damaszener Frühlings verhaftet, bis 2011 verbringt er insgesamt acht Jahre hinter Gittern. Joumana ist jetzt nicht mehr die rechte Hand eines angesehenen Unternehmers und mutigen Abgeordneten, sondern steht als Tochter eines politischen Gefangenen am Rande der Gesellschaft. „Sie haben die ganze Familie bedroht“, sagt sie, „ihr Ziel war es, meinen Vater zu isolieren.“ Joumana beschließt, zu kämpfen, seine Stimme zu sein, die Verbindung zwischen ihm und der Welt außerhalb des Gefängnisses nicht abreißen zu lassen. Sie wird Teil der Opposition, die in Syrien nur im Untergrund agieren kann, arrangiert Treffen, vertritt ihn im Kontakt mit Menschenrechtsdelegationen – und bei der Preisverleihung in Weimar 2003.

Zur gleichen Zeit beginnt Joumana Seif ein Jurastudium. Ihre drei Kinder sind damals zwei, acht und 14 Jahre alt, aber sie will sich weiterentwickeln. „Um meinen Vater verteidigen und effektiv für Menschenrechte kämpfen zu können, musste ich besser Bescheid wissen“, sagt sie. Rückblickend ist es der Beginn ihrer eigenen politischen Laufbahn. Sie knüpft Kontakte, entwickelt neue Positionen, setzt andere inhaltliche Schwerpunkte – aus der Verteidigerin von Menschenrechten wird eine Vorkämpferin für Frauenrechte.

Joumana Seif ist eine Frau, die Brücken baut

Heute ist Joumana Seif überzeugt, dass es ohne Frauen am Verhandlungstisch keinen demokratischen Wandel in ihrer Heimat geben wird. Deshalb sollten Syrerinnen sich nicht nur zivilgesellschaftlich engagieren, sondern politische Mitsprache und Verantwortung einfordern. „Das Regime ist am Ende, die Leute in den von Assad kontrollierten Gebieten haben die Nase voll, aber die Angst lähmt sie“, erklärt Joumana. Syrien sei ein Land voller Mafias und Milizen und weder Russland noch der Iran könnten daran etwas ändern. Deshalb werde der Druck weiterwachsen.

Umso wichtiger ist es, die Menschen zu einen. Und darin seien Frauen besser als Männer, meint Joumana Seif. Die von ihr mitgegründeten Frauennetzwerke organisierten Treffen mit Aktivistinnen und Politikerinnen aus ganz Syrien, erklärt sie. „Sie haben verschiedene Hintergründe, kommen aus allen Regionen des Landes, vertreten unterschiedliche Positionen, aber wir diskutieren offen und ehrlich.“ Es gebe unter Frauen aktuell mehr Bereitschaft zum Dialog als unter Männern, beobachtet die Juristin. Syrerinnen könnten sich besser in die Lage der jeweils anderen hineinversetzen und deren Leid anerkennen, so Joumana. „Sie sehen das Menschliche und stellen die Interessen der Allgemeinheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, weniger den eigenen Vorteil.“ Dadurch kämen überraschende politische Erklärungen zustande, betont die Aktivistin. Dieser Austausch – auch zwischen den Menschen innerhalb Syriens und denen im Exil – sei angesichts der Zerrüttung der syrischen Gesellschaft grundlegend.

Dabei verlaufen die Gräben nicht nur zwischen politischen Lagern, Konfessionen und Ethnien, es gibt auch Konflikte zwischen den Generationen. Joumana kennt das aus der eigenen Familie. Regelmäßig diskutiert sie mit ihrem Vater, der nach Jahren der Krankheit 2012 endlich zur medizinischen Behandlung nach Deutschland ausreisen durfte und ebenfalls in Berlin lebt. Und sie debattiert mit ihren Töchtern, die beide im Nebenfach Gender-Studies studieren. „Den einen bin ich zu feministisch, den anderen zu wenig“, lacht die 52jährige. Genau richtig also, um Brücken zu bauen zwischen den oppositionellen Herren im Aufzug und einer neuen Generation von Aktivistinnen, die Syriens Zukunft mitgestalten werden.