Diese Revolution braucht keine Führungsfigur

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Die Aufmerksamkeit für die Proteste in Iran hat abgenommen. Auch die großen Demonstrationen vor Ort lassen nach. Die feministische Revolution geht jedoch weiter.

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Auf em Foto ist eine Demonstration zu sehen, mehrere iranische Flaggen werden hochgehalten. In der Mitte ist ein rotes Banner, auf dem Steht - Not a protest, a revolution. Im linken oberen Bildrand ist ein Straßenschild abgebildet, auf dem steht: Do not block intersection.

Längst sprechen die Menschen auf Irans Straßen nicht mehr von Protest oder Aufstand. Sie sprechen von Revolution. Eine Revolution, die sich in den unterschiedlichsten Formen ausdrückt: in Straßenprotesten und Demonstrationen, in Streiks und künstlerischen Aktionen und nicht zuletzt in zivilem Ungehorsam.

Rosa Luxemburg beschreibt in ihrem Buch "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" die Revolution als keine einmalige Aktion, sondern eine permanente soziale Bewegung, die auf eine „tiefgehende innere Umwälzung in den sozialen Klassenverhältnissen“ gerichtet ist[1]. Nicht nur lässt sich die Revolution in Iran nicht auf eine einmalige Aktion reduzieren. Sie lässt sich ebenfalls nicht auf eine spezifische Führungsfigur reduzieren.  Vielmehr sind es die vielen kleinen und großen Aktionen Einzelner, die die Revolution tragen, jetzt, wo die großen Demonstrationen nachgelassen haben, die im September 2022 als Reaktion auf den Mord an Jina Amini durch die sogenannte Sittenpolizei, begannen.

Die großen Demonstrationen lassen nach – der Widerstand geht weiter

Rund eine Woche vor dem 1. Mai 2023 hat eine neue Welle von Generalstreiks begonnen. Am Montag, den 24. April, kam es laut Berichten von Medien und Aktivist*innen vor Ort in mindestens 82 Fabriken und Produktionseinrichtungen zu Streiks.  

Auch der zivile Ungehorsam nimmt weiter zu: Jeden Tag kämpfen mehr Menschen gegen das Regime, indem sie Städte blockieren, auf den Straßen singen oder das Kopftuch ablegen. Die grausamen Gasangriffe auf Schüler*innen in verschiedenen Mädchenschulen in den letzten Monaten zeigen, dass die Protestformen einen enormen Einfluss auf das Regime haben.[2]

 Vom Protest zur Revolution?

Obwohl Proteste und Streiks ein wichtiger Teil der aktuellen Revolution sind, sind sie nicht die einzigen revolutionären Mittel. Ziviler Ungehorsam war schon immer ein wichtiges Instrument der iranischen Bevölkerung, insbesondere von Frauen und queeren Menschen, um sich gegen die gewalttätigen Unterdrückungsstrukturen aufzulehnen, die systemische Geschlechtertrennung im Land herauszufordern und zu unterwandern, kurz: sich der systematischen Unterwerfung zu widersetzen.  Ziviler Ungehorsam ist eine zentrale Form des politischen Protests von Unterdrückten, die gegen soziale Ungerechtigkeit oder staatliche Unterdrückung kämpfen.

Vom Gehen auf der Straße ohne Kopftuch, über Sitzstreiks an Universitäten, das Schreiben von Parolen auf Schultafeln bis hin zum Werfen von Turbanen wird ziviler Ungehorsam in verschiedenen Formen und von Menschen aller Altersgruppen praktiziert.

Allein ohne Kopftuch durch die Straßen zu gehen, beschreibt das, was Judith Butler die “subversive Kraft des Ungehorsams”[3] nennt: Ein alltäglicher Akt, wie die Missachtung des Gebots des obligatorischen Hijab zur Kontrolle des entfremdeten Körpers stellt die herrschende Ordnung in Frage und fordert gesellschaftliche Normen und Regeln heraus. Diese Form des Ungehorsams hat das Potenzial, neue politische Möglichkeiten zu eröffnen und alternative Formen des Engagements und Widerstands zu fördern. Eine Möglichkeit, das vom Staat besetzte Territorium zurückzugewinnen: das Territorium des eigenen Körpers und der öffentlichen Räume.

Die Präsenz eines ungehorsamen Körpers auf der Straße bedeutet: Ich bin hier, und trotz der massiven Unterdrückungsmaschinerie bin ich ein politisch handlungsfähiges Subjekt.

Diese Demonstration des Übergangs vom "betroffenen Unterdrückten" zum politischen Subjekt ist es, was diese Proteste so revolutionär aber auch feministisch macht.

Was macht diese Revolution feministisch?

Die Frage, ob diese Revolution feministisch ist oder nicht, wurde in den letzten Monaten viel diskutiert. Meist wird betont, dass die Proteste mit dem Mord an Jina Amini begonnen haben und dass es Frauen sind, die an vorderster Front demonstrieren.

Entscheidend für die feministische Qualität der Proteste ist jedoch nicht die Beteiligung oder Betroffenheit von Frauen, sondern die Mechanismen der Proteste. Diese Mechanismen zu verstehen hilft uns, unser Verständnis von Feminismus zu erweitern und uns von essentialistischem Denken zu befreien. Es hilft uns, diese Mechanismen in Zukunft in anderen sozialen Bewegungen anzuwenden. Aber was genau ist das Feministische an diesen Mechanismen?

Feministisch bedeutet in diesem Fall, über individuell zugeschriebene Identitäten wie „Frau sein“ hinauszugehen und sich grundsätzlich mit Unterdrückungs- und Herrschaftsstrukturen auseinanderzusetzen. Es bedeutet zum Beispiel, sich mehr damit zu beschäftigen, wie das System zur Unterdrückung marginalisierter Menschen beiträgt, statt sich eine weibliche Figur an der Spitze der Macht zu wünschen. Es bedeutet strukturelle Transformation statt bloßer Repräsentation. Natürlich bedeutet eine solche Praxis auch, mit der üblichen Dichotomie von Herrschenden und Unterdrückten zu brechen. Dieser Akt erfordert die Anerkennung der Handlungsfähigkeit jedes Individuums in einem kollektiven “Wir” und eine starke Positionierung gegen jede Autorität.

Führungslosigkeit als Chance

Es ist mittlerweile allen bekannt , dass es bisher kein*en Führer*in für diese Revolution gibt.. Der Aspekt der Führungslosigkeit wird oft als Kritik an der Bewegung geäußert. Vor allem in den westlichen Medien. So schreibt beispielsweise Rainer Hermann in der FAZ im November 2022 : "Es ist ein großes Versäumnis der iranischen Diaspora, dass es ihr in mehr als vierzig Jahren nicht gelungen ist, eine Alternative zum derzeitigen Regime zu schaffen.” [4]Rainer Hermann und andere Kritiker*innen verwechseln jedoch diese bewusste Führungslosigkeit mit Alternativlosigkeit. Alternativlosigkeit impliziert, dass es im Iran keine Vision einer besseren Zukunft ohne totalitäres Regime gibt. Führungslosigkeit wiederum heißt, dass diese Alternative dieses mal keine*n einzelne*n Führer*in braucht, weil jede*r in jedem Moment zur Führer*in werden kann.  In der Vision der Protestierenden “Jin, Jiyan, Azadi“ können alle Akteur*innen Führungsaufgaben wahrnehmen. Sie ist also eine demokratische Bewegung.

In dem anonym verfassten Text „Figuring women‘s Revolution: bodies interacting with their images“[5] schreibt die Autor*in über diese Möglichkeit der multiplen Führer*innen aus ihrer Erfahrung mit Straßenprotesten in Teheran: “Diese Proteste sind nicht personenzentriert, sondern situationszentriert, nicht sloganzentriert, sondern figurenzentriert. Jeder, und ich meine wirklich jeder, "kann" selbst eine unglaubliche, radikale Situation des Widerstands schaffen, die den Betrachter in Erstaunen versetzt. Der Glaube an dieses ‚Ich kann‘, an diese Fähigkeit, ist sehr verbreitet. Jeder weiß, dass er mit seinen Widerstandsfiguren eine unvergessliche Situation schaffen kann.“[6] Darin liegt ein feministisches Moment: die Bedeutung jeder Einzelnen bei der „Führung“ der Revolutionsbewegung bei gleichzeitigem kollektivem Widerstand.

Dezentral und partizipativ

Es wird viel diskutiert, wenn es um die Führung in einer Revolution geht. Während viele Theoretiker*innen die Bedeutung des kollektiven Kampfes und der Organisierung der Basis betonen mögen, sehen andere die Rolle einzelner Figuren in einer Bewegung als relevant oder notwendig an. Angela Davis zum Beispiel hat oft die Vorstellung von "großen Männern" oder einzelnen Führern als einzige treibende Kraft hinter sozialem Wandel oder Revolutionen kritisiert. Sie hat argumentiert, dass echter sozialer Wandel und Revolution das Ergebnis kollektiver Anstrengungen, der Organisation von unten und der Mobilisierung von Gemeinschaften sind.

Davis hat oft die Notwendigkeit betont, bestehende Machtstrukturen und Unterdrückungssysteme herauszufordern und zu transformieren, anstatt sich nur auf einzelne Persönlichkeiten oder Führer zu verlassen. Sie rief zu inklusiven und partizipativen Bewegungen auf, die die Stimmen und Erfahrungen marginalisierter Gemeinschaften einbeziehen, und betonte die Bedeutung des Aufbaus von Koalitionen und Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen, um einen sinnvollen sozialen Wandel zu erreichen.[7]

Ein spezifisches Moment der Jina-Revolution ist ihr dezentralisierter Charakter. Es gibt keine Führungspersönlichkeit an der Spitze, die den Weg vorgibt, keine Einheitspartei, hinter der sich die Menschen versammeln können, sie lebt von der Vielfalt der Stimmen, der Pluralität der Lebensrealitäten, dem Zulassen von Ambivalenzen. Attribute, die durchaus unbequem sein können. Wie viel einfacher scheint es doch, eine (oder drei) Führungspersönlichkeiten zu haben, einen einheitlichen nationalstaatlichen Entwurf, eine Stimme. Doch gerade diese unbequemen Attribute machen die Stärke der Jina-Revolution aus.

Die Pionier*innen der Revolution sind überall

Die Führungslosigkeit ist auch ein wirksamer Abwehrmechanismus der Proteste gegen ein mächtiges totalitäres System. Die Revolution kann nicht aufgehalten werden, weil die Idee nicht verhaftet oder getötet werden kann. Ob sich eine politische Führungspersönlichkeit im Iran oder in der Diaspora befindet, sie ist immer angreifbar, und das islamische Regime hat bewiesen, dass es nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feind*innen, die sich als lebendige Alternativen präsentieren, zu vernichten. Wenn man nach den Pionier*innen dieser feministischen Revolution im Iran suchen will, kann man sie überall finden: in den Schulklassen, an den Universitäten, in den Fabriken, in den Gefängnissen, im Exil oder auf der Straße.