»Die Ehe für alle könnte vielen helfen« - Queere Ukrainer*­innen kämpfen gegen die Invasion und für Rechte

In der Ukraine wirkt eine Auswirkung des Krieges paradox: Die Akzeptanz von LGBTIQ-Personen steigt. Queers sind vom russischen Angriff besonders bedroht und kämpfen sichtbar gegen den Aggressor. Zugleich engagieren sie sich auch nach innen gegen ihre Diskriminierung.

Auf dem Bild sind bunt angezogene Personen, die ein Plakat auf der Pride halten mit der Aufschrift "Be pride like Ukraine". Das Bild wurde in Berlin aufgenommen.

Die Ukraine war 1991 die erste Sowjetrepublik, die Homosexualität entkriminalisierte. Dem jedoch stehen einige antiqueere Gesetzentwürfe nach russischem Vorbild in der Amtszeit von Präsident Wiktor Janukowytsch (2010 bis 2014) gegenüber. Die Gesetze sollten sogenannte homosexuelle Propaganda verbieten. Ein solcher Entwurf wurde im Oktober 2012 im ukrainischen Parlament, dem Rada, sogar in erster Lesung einstimmig angenommen. Die Stimmung im Land war oftmals konservativ.

Zehn Jahre später, im Juni 2022 startet auf der offiziellen Webseite des ukrainischen Präsidenten eine Online-Petition für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Innerhalb von wenigen Wochen sammelt sie über 28.000 Unterschriften. Im März 2023 startet erneut eine Petition, diesmal für die eingetragene Ehe für alle. Auch sie ist erfolgreich, denn es kommen wieder über die 25.000 Unterschriften zusammen, die es für eine Parlamentsvorlage braucht. Noch im Jahr 2015 bekam eine ähnliche Petition nur 456 Unterschriften. Im Sommer 2022 nimmt der ukrainische Botschafter in Schweden Andrij Plachotniuk offiziell am Stockholm Pride teil. Und im Juli 2023 läuft der neue Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, am Christopher Street Day mit dem ukrainischen LGBTIQ-Block durch Berlin. Wie können diese ungewöhnlich schnellen Fortschritte in einem Land stattfinden, das sich eigentlich seit fast zehn Jahren im Krieg mit dem viel stärkeren Russland befindet?

Queer in der postsowjetischen Ukraine

Seit den Maidan-Protesten ab November 2013, die man in der Ukraine »Revolution der Würde« nennt, erstarkt die ukrainische Zivilgesellschaft. Ein Teil davon sind auch LGBTIQ-Organisationen, von denen es bereits 2014 über vierzig gibt. Sie veranstalten in Kyiv und in anderen Städten erste Pride-Events. Die Zahl der Teilnehmer*innen der Umzüge steigt trotz Übergriffe von rechtsradikalen und religiösen Extremist*innen kontinuierlich an. Außerdem führen die Organisationen ein regelmäßiges Monitoring der Situation von LGBTIQ-Personen durch und betreiben Advocacy-Arbeit zur Aufklärung der Bevölkerung. Infolgedessen wird 2015 ein Antidiskriminierungsgesetz erlassen, das Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von Alter, Nationalität, Rasse, Behinderung, HIV-Status sowie sexueller und geschlechtlicher Identität verbietet.

Am Ende der Maidan-Proteste nutzt die Russische Föderation die instabile politische Lage im Nachbarsland und besetzt die Halbinsel Krim. Zudem stiftet Russland noch 2014 einen Krieg in der Ostukraine und installiert zwei prorussische sogenannte Volksrepubliken in Donezk und Luhansk.

Die Lage von LGBTIQ-Personen in den annektierten Gebieten verschlechtert sich dramatisch. Der sogenannte Russkij Mir (die Russische Welt) duldet keine Diversität. Auf der Krim tritt das russische Gesetz zum Verbot der Propaganda von Homosexualität in Kraft. Alle LGBTIQ-Clubs und Treffpunkte werden geschlossen. Homophobie ist auch eine gezielte Politik in den ‚Volksrepubliken‘ Donezk und Luhansk, die Strafen für Homosexualität in ihre ‚Verfassungen‘ aufnehmen. Im Juni 2014 überfallen und zerstören bewaffnete Paramilitärs einen Schwulenclub in Donezk. Das LGBTIQ-Menschenrechtszentrum Nasch Svit (Unsere Welt), das 1998 in Luhansk gegründet wurde, und andere ukrainische LGBTIQ-Organisationen registrieren seit dem Frühjahr 2014 Entführungen, Verhaftungen, Folter und sogar Erschießungen queerer Menschen im besetzen Donbass. Queere Menschen, vor allem Aktivist*innen, müssen fliehen, um ihr Leben zu retten. Die ukrainische NGO Insight, die seit 2008 LGBTIQ-Personen unterstützt, muss 2014 in Kyiv eine Notunterkunft für LGBTIQ-Flüchtlinge aus dem Donbass und der Krim eröffnen.

Während die Welt seit März 2014 der Annexion der Krim und dem Donbass-Krieg eher passiv zusieht und sogar der ukrainische Staat sich zunächst weigert, diesen Krieg als Krieg zu benennen, führt die Mehrheit des Landes ihr gewohntes Leben fort. Erst der große russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der permanente Beschuss und weitere Landnahmen verändern schlagartig das gesamte ukrainische Leben – bis heute. Für queere Menschen verändert sich die Situation in den ukrainisch und den russisch dominierten Territorien spiegelverkehrt: hier mehr Akzeptanz, dort Verfolgung.

Ukrainische Aktivist*innen berichten …

Olena Shevchenko ist Leiterin der NGO Insight, Europa-Repräsentantin der NGO ILGA World und Co-Vorsitzende der Europäischen Lesben*-Konferenz. Auch nach Beginn des russischen Angriffskrieges arbeitet sie weiter in Kyiv. 2023 wird Olena Shevchenko vom US-amerikanischen Time Magazin für ihre Menschenrechtsarbeit als eine der zwölf Frauen des Jahres ausgezeichnet. Im September 2023 antwortet sie der iz3w auf die Frage, wie sich das Leben seit dem 24. Februar 2022 verändert hat: »Die Lage der LGBTIQ-Menschen ändert sich so, wie die Lage jeder anderen gesellschaftlichen Gruppe, die keinen gesetzlichen Schutz hat. Stellen Sie sich vor, der Staat erkennt Ihre Familie, Ihre gemeinsamen Kinder, Ihr gemeinsames Eigentum nicht an. Und dann wird dieser Staat zusätzlich von einem Aggressor angegriffen, aber Sie können auf nichts zählen. Auch auf keine Unterstützung, die manchen anderen Vertriebenen angeboten wird, etwa staatliche Hilfen für Familien mit Kindern.«

Die Mitarbeiterin der feministischen, LGBTIQ-inklusiven Stiftung Inscha (Die Andere), Maryna Usmanova, musste mit ihrer queeren Familie 2022 aus Cherson vor der russischen Besatzung fliehen. Heute engagiert sie sich in Deutschland in der Ukraine-Hilfe sowie in der dortigen ukrainischen LGBTIQ-Community. Sie sagt zur Lage nach dem Überfall: »Als die russische Armee meine Heimatstadt Cherson besetzte, wurde dort buchstäblich eine Jagd auf LGBTIQ-Menschen eröffnet. Ich kenne junge Männer, die von Russen gefoltert wurden. Unsere NGO registriert Fälle der Gewalt. Einer davon ist der eines jungen Mannes, dem die Russen beide Beine durchgeschossen haben, weil sie in seinem Smartphone eine Dating-App für Schwule gefunden hatten.«

Für die Ukraine selbst stellt Maryna Usmanova regionale Unterschiede fest, die sich abschleifen: »In Kyiv sind die Menschen mehr an die Vielfalt gewöhnt, während sie in Lviv konservativer sind. Aber der Zustrom der Menschen aus dem Süden, Osten und Norden gleicht die Unterschiede aus. In einigen Orten der Westukraine hat sich die Bevölkerung verdoppelt. Überall werden Advocacy-Prozesse durchgeführt. Die Istanbuler Konvention gegen geschlechtsspezifische Gewalt wurde von der Regierung in Kraft gesetzt und die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften rückt heran. Dies ist ein paradoxer Fall, weil die abscheuliche Homophobie des Angreifers zur Verbesserung der Einstellung gegenüber LGBTIQ-Menschen in der ukrainischen Gesellschaft beiträgt. Im Moment sehe ich Unterstützung für die LGBTIQ-Gemeinschaft selbst von Leuten, von denen ich es nie erwartet hätte.«

… über LGBTIQs im Krieg …

Tatsächlich zeigt eine gemeinsame Statistik des Zentrums Nasch Svit und des Kyiv International Institut of Sociology eine langfristig steigende Akzeptanz von LGBTIQ-Personen. Während 2016 nur 33 Prozent der Befragten für die Gleichberechtigung von Queers waren, so sind es inzwischen doppelt so viele. Die Beteiligung queerer Menschen am aktiven Widerstand im Krieg gegen Russland, vor allem als Armeeangehörige, beschleunigt diese Veränderung. Obwohl weiterhin einzelne queerfeindliche Gewaltdelikte bekannt werden, rechnen 68 Prozent der Ukrainer*innen den vielen kämpfenden LGBTIQ-Personen ihr Engagement gegen die russische Invasion hoch an.

Olena Shevchenko erklärt dazu: »In den ukrainischen Streitkräften dienen sehr viele LGBTIQ-Menschen. Über 400 haben sich schon öffentlich geoutet. Die Zahl kann man ruhig auf zehn multiplizieren. Die Mehrheit outet sich nicht, weil sie Angst hat, weil sie keine zusätzlichen Probleme haben möchte, weil sie in einer homophoben Umgebung aufgewachsen ist.« Maryna Usmanova ergänzt: »Unter denjenigen, die ich persönlich kenne, sind sechs schwule Männer aus Cherson, die in den Streitkräften dienen, und ein trans Mann, der im besetzten Cherson in einer Partisanengruppe Widerstand geleistet hat. Unter meinen Facebook-Freund*innen sind drei trans Frauen, die in der Armee an der Front kämpfen. Unter den Dutzenden von queeren Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, befinden sich Soldat*innen, Sanitäter*innen, Militärpsycholog*innen und Ausbilder*innen. Dazu kommen viele freiwillige Helfer*innen.«

Alle LGBTIQ-Personen tragen auf unterschiedliche Weise zum künftigen Sieg über Russland in der Ukraine bei, so Maryna Usmanova: »Als Beispiel kann ich die Geschichte eines Baristas aus unser Community im zeitweise annektierten Cherson erzählen. Er hat während der Besatzung Kaffee gekocht, widerwillig auch für russische Besatzer. Nach der Befreiung Chersons überraschte er uns, weil er eine Medaille des ukrainischen Sicherheitsdienstes für seine Informationen erhielt. Denn ein Barista kann eine Menge hören!« Die Auswirkungen seien ermutigend: »Die Ukraine wird im Gegensatz zu Russland immer toleranter. Dutzende von Armeeangehörigen outen sich. Natürlich gibt es Probleme und viele outen sich nicht, aber die Dynamik ist positiv.«

… und in der Öffentlichkeit

Während in der Russischen Föderation queere Menschen ausgegrenzt werden und seit Januar 2024 als ‚Extremisten‘ staatlich verfolgt sowie trans Personen alle Familienrechte entzogen werden, werden Queers in der Ukraine immer sichtbarer. Es existiert in der Ukraine ein Verein Ukrainian LGBTIQ Soldiers and our Allies (Ukrainische LGBTIQ Streitkräfteangehörige für gleiche Rechte). Der Verein wurde 2018 nach der »Wir waren hier«-Fotoausstellung von Anton Schebetko gegründet. Die Ausstellung erzählte von Schwulen, Lesben und trans Personen, die als Freiwillige oder Soldat*innen im Kriegsgebiet im Donbass kämpften. Ihre Gesichter wurden dabei nicht gezeigt. In einer TV-Sendung über die Ausstellung outete sich allerdings der erste Donbass-Kriegsveteran Viktor Pylypenko. Im Sommer 2018 nahmen bereits 30 LGBTIQ-Veteran*innen offen an der Kyiv-Pride teil. Ihr Block wurde von Viktor Pylypenko und der offen lesbischen Freiwilligen Nastja Konfederat angeführt.

Der Verein vereinigt heute queere Armeeangehörige und Freiwillige, egal ob geoutet oder nicht. Er betreibt außerdem die Website lgbtmilitary.org.ua sowie mehrere Chats und Gruppen mit Tausenden von Followern in sozialen Netzwerken. Dort finden sich immer neue Fotos und Storys sowie leider auch Todesanzeigen. Der Verein sieht seine Aufgabe in der »Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion an der Front«, aber auch in »der Verteidigung der Demokratie und Gleichberechtigung für alle«.

Rechtliche Absicherung

In der Kriegszeit, wenn jeder Tag der letzte sein kann, wurde die legislative Ermöglichung der Ehe für alle zum wichtigsten Ziel der ukrainischen LGBTIQ-Bewegung. Es geht vor allem um Rechte im Krieg: dass LGBTIQ-Personen wie alle Verheirateten das Recht haben, ihre*n Partner*in im Krankenhaus zu besuchen, deren Leiche aus der Leichenhalle abzuholen, sie zu beerdigen und gegebenenfalls einen Anspruch auf Entschädigung zu haben. Bis jetzt ist dies gesetzlich jedoch noch nicht erlaubt.

Olena Shevchenko schildert die Problematik so: »Unsere Gesellschaft ist heute bereit, gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu unterstützen, Hassverbrechen gesetzlich zu verfolgen, und auch für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehe ist sie bereit. Das Problem ist die Gesetzgebung, die Parlamentsabgeordneten und der Präsident. Sie alle denken, diese Akzeptanz sei vielleicht nur temporär und sie könnten dadurch womöglich ihre konservativen Wähler*innen verlieren. Es ist schon traurig. Allein die Einführung eingetragener Lebenspartnerschaft könnte so vielen Menschen sehr helfen. Wie viele sind bereits gefallen? Wie viele haben ihre Angehörigen verloren?« Es gehe den Menschen, die einander lieben, darum als Familie anerkannt zu werden: »Es gibt lesbische Frauen, die wegen ihrer Kinder in andere Staaten flüchten. Sie haben jetzt standesamtlich geschlossene Ehen aus diesen Staaten. Ich kenne Dutzende solcher Eheschließungen im Ausland. Und sie wollen irgendwann zurück. Aber was können wir ihnen hier anbieten? Gar nichts!« Die Regierung denke hier überhaupt nicht daran: »Der Staat ignoriert die eigenen Staatsbürger*innen. Diese Menschen werden dieses Land wiederaufbauen. Schafft doch die Voraussetzungen! Es kostet den Staat kein Geld. Er soll nur allen gleiche Rechte geben, das ist alles! Man muss nichts erfinden. Man muss nichts ändern, nur die Diskriminierung abschaffen...«

Die Ehe für alle wäre so die bestmögliche Variante der rechtlich gefestigten Verbindung. Olena Shevchenko bezieht sich noch einmal auf die zwei oben erwähnten Petitionen: »Die erste war zur Homo-Ehe. Der Präsident antwortete: Im Prinzip nein, die Verfassung definiert die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau und man darf die Verfassung während des Krieges nicht ändern. Das Ministerkabinett solle jedoch schon einmal einen Gesetzentwurf für die eingetragene Lebenspartnerschaft vorbereiten. Doch es gibt bereits acht solcher Gesetzesentwürfe! Jetzt geht es um einen Gesetzesentwurf für zivile Partnerschaften, der gar nicht schlecht ist. Wir warten zwar auf die Ehe für alle, aber wir unterstützen auch diesen Gesetzesentwurf. Doch er liegt brach, weil es keinen politischen Willen dafür gibt.« Das sei unhaltbar: »In den letzten zehn Jahren hat sich die Ukraine sehr verändert. Die Zivilgesellschaft hat sich für uns positiv entwickelt. Doch die Jahre des Totalitarismus und der Sowjetzeit haben ihre Spuren hinterlassen. Diversität anzuerkennen fällt vielen Menschen noch schwer. Trotzdem sehe ich vor allem bei den jüngeren Generationen Veränderungen. Wir haben gute Perspektiven in einem Land, das selbst einen Kampf für seine Rechte und Freiheiten gegen einen äußeren Aggressor führt und jetzt versteht, was diese Freiheit und Rechte bedeuten.«

Maryna Usmanova sieht ebenfalls Veränderung: »Vor zehn Jahren gab es in meiner Heimatstadt noch Wahlplakate mit der Aufschrift ‚Die EU bedeutet Homo-Ehe! Wenn du dagegen bist, stimme für die Zollunion mit Russland!‘ Als man früher in Kyiv die ersten Pläne für eine Pride-Veranstaltung besprach, wurde so etwas in anderen Städten nicht einmal erwogen. Die meisten von uns dachten über eingetragene Lebenspartnerschaft: ‚Leider nicht zu meinen Lebzeiten‘. Aber 2022, vor dem Angriff, war ich bereits an der Planung des siebten jährlichen Prides in Cherson beteiligt. Außerdem liegt der Gesetzentwurf über zivile Partnerschaften jetzt dem Parlament vor und hat gute Chancen, angenommen zu werden.«


Dieser Artikel erschien zuerst auf iz3w und ist in Kooperation mit dem GWI entstanden.