»Viele Lücken müssen noch geschlossen werden« - Zur LGBTIQ-Perspektive in Kolumbien

Interview

Kolumbiens LGBTIQ-Gemeinschaft setzt große Hoffnungen in die 2022 neu gewählte linke Regierung. Das geltende Diskriminierungsverbot ist dabei nicht genug, meint Mauri Balanta Jaramillo im Interview. Als trans Person engagiert sich Jaramillo im Kulturzentrum El Chontaduro im Stadtteil Aguablanca der Großstadt Cali: Hier leben vor allem binnenvertriebene Afrokolumbianer*innen.

Protrait von Mauri Balanta Jaramillo im Stadtteil Aguablanca, Cali, Kolumbien

Klaus Jetz: Was zeichnet die seit August 2022 amtierende Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez aus?

Mauri Balanta Jaramillo: Die neue linke Regierung verfolgt eine liberalere, inklusivere und partizipativere Politik. Es geht ihr darum, den traditionell marginalisierten Teilen der Gesellschaft, Afrokolumbianer*innen, Indigenen, Frauen oder LGBTIQ-Personen, mehr Sichtbarkeit und Teilhabe zu verleihen. Starke Vorsätze also. Allein die Tatsache, dass mit Francia Márquez, die im ländlich geprägten Cauca aufgewachsen ist, eine Schwarze, Vertriebene und Umweltaktivistin nun Vizepräsidentin wurde, spricht für sich. Das sorgte jedoch auch für Spannungen und rassistische Reaktionen. Die Regierung beschleunigt Reformen im sozialen, politischen und kulturellen Bereich und fordert so demokratiefeindliche politische Kräfte heraus, die ihre Macht nicht verlieren wollen.

 

Welche Hoffnungen und Versprechen hatte es im Wahlkampf für die LGBTIQ-Gemeinschaft gegeben?

Voraussetzung für die Regierungsbildung von Gustavo Petro war das progressive Bündnis Pacto histórico (historischer Pakt). Der Pakt positionierte sich von Beginn an gegen die Schaffung einer traditionellen Parteienplattform und favorisierte die Teilnahme einer vielstimmigen Zivilgesellschaft in Dialogformaten und Veranstaltungen, um gemeinsam ein Regierungsprogramm zu definieren. Die LGBTIQ-Gemeinschaft hat sich in diesem Prozess sehr engagiert, ebenso Francia Márquez. So entstanden Aktionspläne, Gesetzesvorhaben und Regierungspläne wurden formuliert. Die LGBTIQ-Gemeinschaft setzte große Hoffnungen in das Ministerium für Gleichstellung (Ministerio de Igualdad), dem die Vizepräsidentin vorsteht. Im Kern geht es um die politische Teilhabe und Vertretung von Frauen und Jugend, von marginalisierten Gruppen, und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sollen gefördert werden. Grundlegend dafür ist eine intersektionale Perspektive. Innerhalb des Ministeriums für Gleichstellung kommt ihr in den Vizeministerien für Frauen, Jugend und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt eine große Bedeutung zu. Gesetzesprojekte etwa, die von Transorganisationen entwickelt wurden, konnten so auf die politische Ebene gehievt werden. Das war vorher undenkbar.

 

Die Ehe für Alle gibt es in Kolumbien bereits seit 2016. Was bleibt auf der rechtlichen Ebene zu tun?

Ein großes Problem sind die fehlenden Statistiken: Wie viele trans Personen leben im Land, wie sind die Lebensbedingungen von LGBTIQ, welche Zahlen gibt es zu Diskriminierungserfahrungen in der Arbeitswelt, wie sieht der Zugang zu Dienstleistungen, zu Wohnungen und zur Gesundheitsversorgung aus? Die wenigen vorliegenden Daten sind besorgniserregend und zeigen den hohen Grad an Verwundbarkeit von LGBTIQ in unserer Gesellschaft auf. Das zeigt, dass gesetzliche Regelungen dringend nötig sind. Das Gleiche gilt übrigens für die afrokolumbianische oder die indigene Community. Bislang gibt es zwar viele Urteile, aber kein umfassendes Gesetz zum Schutz von trans Personen, viele Lücken im Recht müssen noch geschlossen werden. Hier setzt das als Ley Integral Trans bekannte Gesetzesvorhaben für trans und nichtbinäre Personen an. Es geht darin um mehr Schutz und Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen.

 

Wie begegnet die Regierung der weitverbreiteten Transfeindlichkeit und Homophobie im Land?

Das sind in der Tat große gesellschaftliche Probleme. Dank zivilgesellschaftlicher Initiativen haben wir in Kolumbien ein Antidiskriminierungsgesetz, also auch ein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Doch die Anwendung des Gesetzes ist sehr herausfordernd, denn unsere Gesellschaft ist sehr machistisch, sexistisch und rassistisch. Dazu kommt, dass die Staatsbediensteten die gleichen wie vor dem Regierungswechsel sind. Deswegen ist es wichtig, dass der Schutz funktioniert. Es braucht kulturellen Wandel, mehr Sensibilisierung und einen größeren politischen Willen in den öffentlichen Verwaltungen. Wir machen weiterhin Sensibilisierungsarbeit zum Beispiel in der Rechtsprechung und in den Parlamenten sowie durch kulturelle Angebote in den Schulen und Aufklärung in den Stadtteilen. Die Arbeit ist uferlos.

 

Welche Rolle spielt Religion dabei?

In Lateinamerika sind es hauptsächlich religiöse Akteure, die gegen unsere Rechte vorgehen. Sie verfolgen eine Agenda der Gewalt und der Zerschlagung der LGBTIQ-Bewegung. In der kolumbianischen Politik nehmen sie eine zentrale Rolle ein. Wir erleben eine Zunahme von LGBTIQ-feindlichen Einstellungen. Deren Hauptakteur*innen sind in verschiedenen christlichen Bewegungen zu finden, die sogar politische Parteien gegründet haben. Es gibt Bewegungen, die mit viel Geld aggressive Lobbyarbeit betreiben. In vielen Ländern Lateinamerikas erfreuen sich rückwärtsgewandte Diskurse großer Beliebtheit: Die sogenannten traditionellen Werte sowie die heteropatriarchale Familie werden hochgehalten. Viele Regierungen, die diese Werte propagieren, wollen ihre Gesellschaften wieder ‚normalisieren‘. Ihre Begründung ist, dass die vielen sozialen Krisen darauf zurückzuführen sind, dass uns die Gottesachtung abhandengekommen sei. Deswegen müssten wir zu Gott zurückkehren, damit unsere Gesellschaften wieder zu Entwicklung und Wohlstand zurückfinden könnten. Das lässt sich aktuell in Guatemala, Peru, Mexiko und Argentinien erleben. Sie bezeichnen LGBTIQ-Personen als wilde, kranke, verwirrte Wesen und wollen sie sogenannten Konversionstherapien unterziehen.

 

In Argentinien wurde Javier Milei gerade zum Präsidenten gewählt. Argentinien war Vorreiter auf dem Kontinent in Bezug auf LGBTIQ-Rechte und das erste Land in Lateinamerika mit einem Gesetz über die Geschlechtsidentität für trans Personen, nach dem jede Person ihr Geschlecht selbst bestimmen und im Personenstandsregister eintragen lassen kann, und der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.

Ich verfolge Argentinien mit großer Sorge. Und ich fühle mich bestätigt: Wir dürfen uns nicht ausruhen, sondern müssen wachsam bleiben. Milei steht für eine Bewegung, die seit der Pandemie erstarkt ist. Vorher gab es Aufbruch, Fortschritt, progressive politische, soziale und kulturelle Agenden. Seit der Pandemie hat die Ultrarechte die Kontrolle übernommen, um Heteronormativität, Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus wieder ins Zentrum des Lebens zu rücken, wie ein Kreuzzug gegen gleiche Rechte und für die traditionelle Familie. Als ob durch eine massenhafte Menschenreproduktion ein Fortbestand des kapitalistischen Systems gesichert werden sollte.

Doch in Lateinamerika existiert eine Vielfalt an Familienformen: Familien, in denen die Großmütter oder Tanten, zwei Mütter oder mehrere Väter die Verantwortung für die Erziehung und das Wohlergehen der Kinder übernehmen, oder – wie in der kolumbianischen Pazifikregion – gar die Dorfgemeinschaft. Da sind unsere Gesellschaften weitaus vielfältiger aufgestellt, als das, was das heteronormative System predigt.

 

Venezuela hat eine lange Grenze mit Kolumbien und viele Geflüchtete von dort leben in deinem Land. Betrifft das auch LGBTIQ?

Ja, vor allem viele trans Personen. LGBTIQ haben Venezuela vielfach verlassen und leben nun in Kolumbien. Sie erfahren eine doppelte Unterdrückung, als Migrant*innen und als Menschen, die in einer ihnen feindlich gesinnten, machistischen und patriarchalen Gesellschaft zu ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung stehen. Hierzulande existiert dafür kein Bewusstsein, kein Gefühl der Solidarität, obwohl das Land selbst eine migrantische Gesellschaft ist. Bei uns in Cali leben viele geflüchtete Venezolaner*innen auf den Straßen, in den Parks und rund um den Busbahnhof. Hunderte von Familien haben dort ihre Zelte aufgeschlagen. Sie flüchten in ein Land, wo die Lebensverhältnisse ebenfalls prekär sind, weil sie sich hier etwas freier fühlen und mehr Chancen sehen als in Venezuela, wo es keine Politik der gleichen Rechte für Frauen, LGBTIQ oder andere Minderheiten gibt, wo Schwule Opfer willkürlicher Razzien werden, wenn sie eine Hochzeitsparty feiern.

 

Wie sollte Kolumbien auf internationaler oder multilateraler Ebene in Bezug auf LGBTIQ agieren?

Für unsere Gesetzesprojekte wie das Ley Integral Trans brauchen wir auch die Unterstützung aus dem Ausland. Kolumbien sollte daher Mitglied der Equal Rights Coalition werden, die sich auf UN-Ebene für die Menschenrechte von LGBTIQ stark macht. Der politische Wille ist da, das Ministerium für Gleichstellung und Francia Márquez könnten und sollten sich hier besonders engagieren. Internationale Unterstützung wäre zudem für die Fortsetzung des Friedensprozesses im Land wichtig. Das Sprechen über die Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes ist auch für die LGBTIQ-Community Thema. Es geht nicht nur um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, sondern auch darum, eine Wiederholung, ein Wiederaufflammen dieser Konflikte zu verhindern. Auch dafür brauchen wir die Unterstützung der multilateralen Plattformen.

 


 

Das Interview führte und übersetzte Klaus Jetz.

 


 

Dieser Artikel erschien zuerst auf iz3w und ist in Kooperation mit dem GWI entstanden.