„Fußball ist nie nur ein Ballsport”

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Robert Claus forscht zu Fankulturen, Hooligans und Männlichkeitsbildern. Ein Gespräch zur Fußball-Europameisterschaft. Ein Interview von Thomas Gesterkamp.

Eingerahmt an einer Wand hängen verschiedene Trikots für die anstehende Fußball-EM 2024.

Herr Claus, im Vorfeld der EM sorgte ein neues Trikot des Deutschen Fußballbunds für harsche Kritik. In Netzkommentaren hieß es, mit seinen Pinktönen sehe es zu weiblich aus. Was war da los?

Claus: Offenbar fühlte sich ein Teil der Anhängerschaft in seinem sehr traditionellen Verständnis von Männlichkeit gestört. Solche Einwürfe haben im Fußball mittlerweile eine längere Geschichte. Es gab sie schon, als Profis in den 1990er Jahren begannen, vermehrt bunte Schuhe zu tragen und auch, als mancher Kapitän in der Bundesliga eine Regenbogenbinde anlegte. Beides hat sich letztlich aber durchgesetzt. Und der Sportartikelhersteller Adidas meldete kurz nach Verkaufsstart, dass das pinke Trikot das bestverkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte des DFB sei. Dennoch wird an dem Beispiel deutlich, dass Fußball nie nur ein Ballsport ist. Sondern er symbolisiert für Teile der Gesellschaft nationale Stärke und Männlichkeit. Nicht zuletzt ist er ein gesellschaftspolitisches Feld, in dem um Deutungshoheit gerungen wird. Dabei steht das gesamte Thema Vielfalt im Fokus.

In die Stadien kommen erheblich mehr Frauen als früher, im Fernsehen wird dem Frauenfußball mehr Platz eingeräumt, bei steigenden Einschaltquoten. Manche sprechen schon von einer Feminisierung der Sportart Fußball. Sehen Sie dafür Anzeichen?

Claus: Ich sehe Tendenzen, dass sich der Fußball seit Jahren sukzessive für mehr geschlechtliche und sexuelle Vielfalt öffnet. Das betrifft nicht allein das wichtige Wachstum des Frauenfußballs, sondern auch das jahrelange Engagement der “Fußballfans gegen Homophobie” in den Stadien oder die Wanderausstellung “fan.tastic females“ sowie die Einrichtung einer Kompetenz- und Anlaufstelle für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt beim DFB. Nicht zuletzt hat der Verband 2022 als einer der ersten Sportverbände weltweit eine Regelung zum Spielrecht für trans*, inter* und nicht-binäre Personen entwickelt. Gleichzeitig zeigen sich einige Bereiche des Fußballs enorm beharrungsfähig: Bis heute sind die Leitungsebenen und Präsidien wenig divers. Die machtvollen weißen Männerbünde gibt es nach wie vor.

Karnavelske Sonderwelt

In den Fankurven hängen immer wieder homofeindliche Banner, begleitet von den entsprechenden Gesängen. Was tun die Verantwortlichen dagegen?

Claus: Ohne Frage finden homofeindliche Beschimpfungen immer noch als etablierter Teil einer fußballspezifischen Beschimpfungskultur statt. Die Kulturwissenschaftlerin Almut Sülzle hat das Stadionerlebnis einmal als karnevaleske Sonderwelt beschrieben. Die emotional aufgeladene Konfliktsituation des Fußballspiels forciert solches Verhalten auch bei Menschen, die sich sonst nicht so benehmen. Aber wir müssen auch sehen, wie viele Ultragruppen den vorgegebenen Konsens vertreten, sich nicht diskriminierend im Stadion zu äußern. Insofern haben sich die Fanszenen stark ausdifferenziert. Letztlich werden entsprechende Vorfälle auch vom DFB bestraft: So verhängte das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes im Februar 2024 gegen Bayer Leverkusen eine Geldstrafe, weil Fans auf einem Spruchband behauptet hatten, es gebe nur zwei Geschlechter.

Gibt es Unterschiede zwischen den Vereinen im Umgang mit dem Thema Diskriminierung? Haben Sie ein Beispiel für vorbildliche Präventionsarbeit?

Claus: Borussia Dortmund etwa hat in den 2010er Jahren einen weiten Weg hinter sich gebracht. Um gegen die Dominanz extrem rechter Hooligans und Diskriminierung vorzugehen, hat der BVB Workshops mit Fans und Tagungen zum Thema Zivilcourage durchgeführt - und begonnen, Vielfalt in seiner Anhängerschaft zu fördern. Proficlubs wie der FC St. Pauli oder Werder Bremen taten dies bereits seit Längerem. Darüber hinaus muss aber das gesamte Spektrum gesehen werden, das sich im Fußball den Themen Antidiskriminierung und Vielfalt widmet. Einige Fan-Initiativen habe ich bereits genannt, hinzu kommen die etablierte professionelle Arbeit der über 70 sozialpädagogischen Fanprojekte, zu diesem Thema arbeitende Fanbetreuungen sowie die Stiftungen der Clubs. Nicht zuletzt gibt es Diversity-Beratungsagenturen, engagierte Amateurvereine und Bildungseinrichtungen. Viele von ihnen wurden mit dem Julius-Hirsch-Preis des DFB ausgezeichnet, ebenso viele wirken am jährlichen Aktionsspieltag des Netzwerkes „Nie Wieder!“ mit. Bei allen Problemen, die der Fußball hat, existiert zugleich auch eine breite Landschaft an Organisationen, die diese bearbeitet. Letztlich geht es hier um das Verhältnis vom Fußball zur Demokratie, um Fragen von Teilhabe, Sichtbarkeit und Mitbestimmung vieler gesellschaftlicher Gruppen. Im Programm einiger Host-Cities, der Austragungsorte der Europameisterschaft, wird dies auch sichtbar.

Die Fanszenen sind weiter als vermutet.

Vor Jahren hat sich der frühere Nationalspieler Thomas Hitzelsberger als homosexuell geoutet - allerdings erst nach dem Ende seiner Karriere. Warum traut sich das immer noch kein aktiver Profi?

Claus: Das müsste man die Spieler fragen. Ich glaube, dass große Teile der Fanszenen und Gesellschaft deutlich weiter sind, als es manche Stereotypen über Fußball und Fankultur vermuten lassen. In Gesprächen mit Spielern wird allerdings oft deutlich, welche traditionellen Geschlechterrollen in vielen Führungsetagen des Fußballs vorherrschen. Spieler bräuchten also die aktive Unterstützung von Sportdirektoren, Trainern, Managern und Beratern.

Sie haben ein Buch über Hooligans geschrieben. Handelt es sich um ein homogenes Milieu, das nach wie vor althergebrachte Männlichkeiten und patriarchale Werte ungebrochen hochhält?

Claus: Die kurze Antwort lautet ja. Es gibt zwar verschiedene berufliche Hintergründe, aber ein sehr homogenes Verständnis von Männlichkeit. In dessen Zentrum steht der gewaltvolle Wettbewerb mit anderen Hooligans. Es geht stets darum, sich zu messen. In der Szene gilt nicht derjenige als schwach, der einen Kampf verliert, sondern derjenige, der nicht antritt. In den sozialen Medien wird dieses Verständnis von Männlichkeit konstant inszeniert.

Wie hoch ist die Gewaltbereitschaft in dieser Szene?

Claus: Sehr hoch. Hooligans definieren sich über die Gewalt, trainieren ihre Gewaltkompetenzen im Kampfsport und haben diverse Formate für ihre Kämpfe entwickelt. Denn es gibt ja nicht nur Stadionrandale, sondern auch zum Beispiel sogenannte “Ackermatches” - wo zwei meist gleich große Teams unter rudimentären Regeln an einem entlegenen Ort gegeneinander antreten. Es handelt sich tendenziell um Gruppenkampfsport.

Gibt es Verbindungen zur extremen Rechten?

Claus: Hooliganismus und militanter Neonazismus sind zwar nicht deckungsgleich, weisen aber große Schnittmengen auf. Beide Szenen teilen ein sehr ähnliches Männlichkeitsideal und das Interesse an Gewalt. So ist der Hooliganismus seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Rekrutierungsfelder des militanten Neonazismus. Und generell steht die Hooliganszene zu großen Teilen sehr weit rechts.

Gewalt lässt sich nicht ausschließen

 

In der Vergangenheit kam es im Umfeld großer Fußballturniere immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen. Rechnen Sie damit auch bei der Europameisterschaft in Deutschland?

Claus: Da mehrere Länder teilnehmen, in denen größere Hooligan-Szenen agieren, zum Beispiel Polen, Kroatien und Ungarn, lässt sich das zumindest nicht ausschließen. Doch ist das nicht die einzige Gefahr für das Turnier. Denn extrem rechte Akteure - vom subkulturellen Neonazismus bis hin zur AfD - agitieren seit Jahren gegen die Vielfaltsmaßnahmen im Fußball und die Tatsache, dass “Player of colour” mittlerweile Normalität in den deutschen Auswahlteams sind. Rassistische Shitstorms und Kampagnen aus diesem Spektrum, insbesondere im Fall eines sportlichen Misserfolgs, sind also ernst zu nehmen.

Noch eine letzte Frage am Rande: Was halten Sie als Geschlechterforscher eigentlich von der Forderung nach “Equal Pay” im Profifußball? Ist das nicht einfach eine ökonomische und keine gleichstellungspolitische Frage? Zugespitzt formuliert: Der Männerfußball ist ein Milliardengeschäft mit den entsprechenden Gehältern, der Frauenfußball trotz aller Fortschritte immer noch eher eine Randsportart...

Claus: Der Männer- und der Frauenfußball agieren heute auf der Basis sehr ungleicher Voraussetzungen. Wir sollten nicht vergessen: Immerhin war der Spielbetrieb der Frauen vom DFB von 1955 bis 1970 verboten. Der Fußball hat also 15 Jahre lang aus geschlechterideologischen Gründen auf Spielerinnen und das Wachstum dieser weiblichen Sportart verzichtet. Letztlich unterstütze ich die Forderung nach Equal Pay, jedoch macht sie nur verbunden mit der Forderung nach Equal Investment Sinn. Dabei geht es um die nachholende und weiterführende Professionalisierung des Frauenfußballs, seines Personals und der Infrastruktur. Und darf ich noch einen Hinweis anbringen?

Gerne.

Claus: In der genderpolitischen Debatte um Equal Pay geht es ja nicht nur um die Gleichbezahlung von Frauen, sondern auch um die Fürsorgearbeit - auf englisch Carework - von Männern. Und sagen wir mal so: Ich würde mich freuen, irgendwann einmal vom ersten Fußballprofi zu lesen, der in Elternzeit geht.

 

Robert Claus

Robert Claus, Jahrgang 1983, studierte Europäische Ethnologie und Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität. Er forscht, hält Vorträge und publiziert zu den Themen Fankulturen, Hooligans, Rechtsextremismus, Männlichkeiten, Soziale Bewegungen und Gewalt.

Buchveröffentlichungen:

Zurück am Tatort Stadion: Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fußball-Fankulturen (als Mitherausgeber), Göttingen 2015; “Hooligans: Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik”, Göttingen 2018.