Das europäische Grenz- und Asylregime wird zunehmend restriktiv und gewalttätig. Digitale Technologien spielen hierbei eine zentrale Rolle. Technologien, die Migration verhindern sollen, führen dazu, dass der Grenzübertritt noch riskanter und auch tödlicher wird, da die Menschen gezwungen werden, gefährlichere Routen zu wählen.
Erst das Verständnis der Historie heutiger digitaler Grenzregime, erlaubt uns eine andere, nämlich gerechte Migration für die Zukunft zu denken
Das europäische Grenz- und Asylregime verschärft sich und wird zunehmend restriktiv und gewalttätig. Digitale Technologien spielen bei dieser gewaltsamen Versicherheitlichung von Grenzen und Asyl eine zentrale Rolle. Unter dem Begriff „Smart Borders“ werden eine Reihe von Projekten zusammengefasst, die der Kontrolle und Sicherung von Grenzen dienen sollen, darunter die Vorhersage von Grenzübertritten, Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen sowie die Auslagerung von Entscheidungsprozessen in der Asylpolitik an sogenannte sichere Drittstaaten. In Wirklichkeit sehen wir, dass Technologien, die Migration verhindern sollen, dazu führen, dass der Grenzübertritt noch riskanter und auch tödlicher wird, da die Menschen gezwungen werden, gefährlichere Routen zu wählen.
Seit 2015, dem Beginn dessen, was Medien und Politik als europäische „Flüchtlingskrise“[1] bezeichnen und besser als “langer Sommer der Migration”[2] beschrieben ist, hat insbesondere der deutsche Staat eine ganze Reihe von medientechnischen Instrumenten in Asylverfahren eingesetzt. Dazu gehören verschiedene biometrische Technologien, die zur Überprüfung der Identität von Asylbewerber*innen eingesetzt werden, sowie die Ausweitung von Migrationsdatenbanken und die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polizei und Geheimdiensten. Eine weitere Praxis, die von einer Reihe europäischer Länder angewandt wird, ist das Auslesen von Telefondaten an Grenzübergängen oder während Asylverfahren. Die Behörden behaupten, dass sie in der Lage sind, Flugrouten und Schleusernetzwerke zu rekonstruieren, indem sie die auf den Telefonen gefundenen Daten auswerten. Angeblich ginge daraus hervor, wohin sowohl das Telefon als auch die Person gereist sind.
Diese datengesteuerten Instrumente werden oft als neu und innovativ dargestellt. Die deutschen Behörden präsentieren sie als effiziente und sichere Lösungen zur Bewältigung des höheren Aufkommens an Asylanträgen und zur Schaffung schlankerer Verwaltungsabläufe. Auf EU-Ebene wird das so genannte „Smart Border Package“ als Steigerung der Sicherheit und Effizienz an den Grenzübergängen gepriesen. Diese Rhetorik der Neuheit stellt die digitalen Grenzen als etwas noch nie Dagewesenes, ohne Geschichte und ohne Kontinuität dar.
In meiner Forschung untersuche ich, wie sogenannte intelligente, digitale Technologien politische Vorstellungen von Zugehörigkeit, Staatsbürgerschaft, Persönlichkeit, Rechten, Anerkennung und Menschlichkeit beeinflussen und verändern. Ich analysiere, was sich durch den Einsatz digitaler Medientechnologien in der Migrations- und Grenzüberwachung im Laufe der Zeit verändert und was gleich bleibt. So lässt sich besser verstehen, wie solche Technologien rassistische Diskriminierung und die von Grenzen ausgehende Gefahr (wieder) herstellen.
Die Dialekterkennung ist ein Problem
Ein konkreter Fall einer digitalen und datengesteuerten Technologie, die das deutsche Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingeführt hat, lässt sich durch die Geschichte des Kolonialismus und die Kolonialität unserer Gegenwart verfolgen. Seit 2016 setzt das BAMF im Rahmen von Asylverfahren eine Technologie zur Dialekterkennung ein, um das Herkunftsland von Asylsuchenden zu bestimmen. Die Software kann angeblich anhand von Sprachproben der Asylbewerber*innen erkennen, welchen Dialekt jemand spricht.
Diese Software ist weithin kritisiert worden, da sie die Verletzlichkeit der Betroffenen reproduziert und erhöht. Sie hat eine Fehlerquote von 20 Prozent und ist in vielerlei Hinsicht „black-boxed“. Wir wissen nicht genau, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommt, und die Informationen über die Trainingsdaten sowie die technischen und algorithmischen Abläufe der Software sind streng geheim. Die Software wurde Berichten zufolge auch bei Personen eingesetzt, die keinen der Dialekte sprechen, die sie erkennen kann.
Grundsätzlich beruht die Software auf der prinzipiell fehlerhaften Annahme, dass Sprache und Dialekt zuverlässig auf die Herkunft, den sozialen Hintergrund oder sogar die Nationalität einer Person schließen lassen. Voraussetzung dafür ist die Auffassung, dass Sprache unveränderlich ist und Menschen einsprachig seien. Diese Annahmen führen zu dem, was ich als linguistischen Pass bezeichne, bei dem die Sprache als eine Art offizieller staatlicher Ausweis dienen soll. Im Gegensatz zu Pässen, die verlegt oder gefälscht werden könnten, wird ein Akzent als ein stabiles Merkmal wahrgenommen, das mit der Identität einer Person verbunden ist. Der Reiz des Akzents liegt darin, dass er schwieriger zu fälschen ist als Dokumente. Infolgedessen werden Asylsuchende zunehmend anhand ihrer Daten identifiziert, und ihre Aussagen werden zunehmend durch biometrische Informationen und Messungen ersetzt.
Koloniale Klangarchive früher, digitale Spracherkennung heute
Trotz des Lobes der deutschen Behörden für die datengesteuerte Asylverwaltung, das BAMF erhielt für die Sprachbiometrie einen Preis als bestes Digitalisierungsprojekt, scheitert die Technologie zur Dialektidentifizierung nicht in einem historischen Vakuum. Vielmehr zeigt sie in mehrfacher Hinsicht, was ich die Kolonialität von Migrationsinfrastrukturen nenne. Damit meine ich, dass die Geschichte von Kolonialismus und Rassismus tief in die Entstehung vermeintlich neuer und innovativer Technologien eingebettet ist.
Das Konzept des linguistischen Passes bindet die Sprache an einen Herkunftsort gemäß dem, was Linguist*innen als Sprachideologie bezeichnen. Durch diese Sprachideologie werden sprachliche Grenzen fälschlicherweise mit territorialen Grenzen gleichgesetzt. Bei dieser Identifizierung von sprachlichen und territorialen Grenzen wird außer Acht gelassen, dass Dialekte unabhängig von geopolitischen Grenzen verbreitet sind, vor allem weil sie häufig Produkte kolonialer Formen der Grenzziehung sind. Die Kolonialmächte teilten Gebiete auf, die sich nicht an Sprachgemeinschaften hielten. Die Idee der Sprachen und ihrer Unterscheidung ist also selbst ein Artefakt der Kolonialisierung und des Nationalismus.
Die Technologie der Dialekterkennung lässt sich auch auf die Geschichte der vergleichenden Sprachwissenschaft zurückführen, wie sie im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Während meiner Recherchen zur Spracherkennungssoftware des BAMF wurde ich mehrfach auf das Berliner Lautarchiv hingewiesen. Das Archiv verfügt über eine Sammlung von Sprachaufnahmen, die in deutschen Kriegsgefangenenlagern gemacht wurden, in denen während des Ersten Weltkriegs vor allem Soldaten aus den britischen und französischen Kolonien inhaftiert waren. Als ich begann, mich mit diesem Archiv vertraut zu machen und mir die Sprachaufnahmen anzuhören, beschäftigte ich mich auch zunehmend mit den kolonialen Klassifizierungen von Sprache und Dialekt, die die Linguist*innen zu jener Zeit aufgestellt hatten. Eines dieser Kriegsgefangenenlager befand sich in der kleinen Stadt Wünsdorf in Brandenburg. Die damaligen Sprachwissenschaftler*innen sahen in diesem Lager und seinen Inhaftierten eine Möglichkeit, die „Stimmen der Welt“, wie sie es nannten, aufzuzeichnen und zu sammeln, ohne in die Kolonien reisen zu müssen, um Feldforschung zu betreiben. Sie versuchten, eine wissenschaftliche Methode zur Erfassung und Analyse der im Lager Wünsdorf gesprochenen Sprachen und Dialekte zu entwickeln. Die Sprachaufnahmen wurden neben den Kolonisationsprojekten auch für die Entwicklung von Fachgebieten wie Phonetik und Musikwissenschaft genutzt.
Die in Wünsdorf produzierten Sprachaufnahmen waren Teil des imperialen Projekts des Deutschen Kaiserreichs. Sprachwissenschaftler*innen versuchten, eine Klassifizierung nicht-deutscher Sprachen und Dialoge als Teil einer Nomenklatur verschiedener Kulturen und Ethnien zu etablieren, die Teil der Etablierung des wissenschaftlichen Rassismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war. Sie entwickelten hierfür eine Methodik des Vergleichs und setzten die Stimme mit anderen Körperteilen und dem, was sie als kulturelle Elemente der Sprecher*innen betrachteten, in Beziehung. Zu diesem Zweck wurden ihre Forschungen von anthropologischen Untersuchungen begleitet, bei denen die Körper der Inhaftierten vermessen wurden, um rassistische Klassifizierungen zu erstellen, die eng mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus verbunden waren.
Gefangenenlager früher, Erstaufnahmeeinrichtung heute
Die Logik der Spracherkennung lässt sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen und beleuchtet einen Modus des Zuhörens auf eine objektivierte Stimme und den Wunsch des Staates, Menschen mithilfe von Sprache und Dialekt zu verorten, der sich im deutschen Imperialismus etablierte. Nicht zufällig befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers von Wünsdorf, auch „Halbmondlager“ genannt, heute eine Erstaufnahmeeinrichtung für Menschen, die in Deutschland Asyl suchen. In diesem Sinne fungiert die Geschichte des Halbmondlagers als eine Infrastruktur, die die weitere Entwicklung des rassifizierten Zuhörens der Dialekterkennung prägt und ermöglicht.
Der martinikanische Schriftsteller Aimé Césaire hat den europäischen Faschismus bekanntlich als Bumerangeffekt des Kolonialismus bezeichnet, um zu erklären, wie die Kontinuitäten der kolonialen Ausbeutung und die in den Kolonien angewandten Herrschaftstaktiken gegen die Bevölkerungen in den europäischen Metropolen eingesetzt wurden. Césaires Anklage gegen den europäischen Kolonialismus und Faschismus betonte die Kontinuitäten und die Reproduktion von Ausbeutung und Beherrschung. Die Klassifizierung von Sprache und Dialekt und die Abstraktion von Menschen in Datenpunkte kommen nicht aus dem Nichts, sondern sind auf Schienen gebaut, d.h. sie funktionieren als Infrastruktur, durch die die Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassifizierung die Grundlage für „Smart Border“-Technologien bilden.
Die Kolonialität von “Smart Borders” manifestiert sich auch darin, wie die Grenzüberwachung zur Innovation von Technologien und Formen der Migrationssteuerung eingesetzt wird. Insbesondere die polizeiliche Überwachung oder das, was Regierungen oft als „Management“ von Migration bezeichnen, wird zu einem Testgelände für neue Technologien und Formen der Steuerung. Wie die Juristin und Anthropologin Petra Molnar argumentiert, fungiert die Migration -– und insbesondere die Grenze – als Inkubator für technologische Innovationen im Allgemeinen. Solche Experimente werden möglich, weil Migration und Grenzen oft als Ausnahme funktionieren. In ähnlicher Weise funktionierte das Kriegsgefangenenlager als eine Ausnahme, in der die inhaftierten Soldaten und ihre Stimmen gezwungen waren, an den Forschungsaktivitäten von Linguisten und Anthropologen teilzunehmen. Die Art und Weise, in der Linguisten das Kriegsgefangenenlager als bequemen Feldstandort nutzten, um „die Stimmen der Welt“ einzufangen, die sie als kulturelles und rassistisches Anderes zu Europa unterschieden, hallt in der digitalen Dialekterkennung bis heute nach.
Dennoch ist die kontinuierliche Ausweitung von “Smart-Border”-Technologien, die durch die Produktion von Krisen, Dringlichkeit und Rassismus legitimiert wird, nur ein mögliches Ergebnis unserer Gegenwart, dem wir entgegentreten und uns widersetzen können. Das Verständnis dieser Geschichten und Kontinuitäten ist von zentraler Bedeutung, um zu verstehen, wie wir der rassistischen Ausbeutung von Grenzen in der Gegenwart entgegentreten und alternative, gerechte Zukünfte der Migration artikulieren können.
[1]Der Begriff „Flüchtlingskrise“ ist weithin kritisiert worden, da er die Bewegung von Menschen als Notlage und Ausnahme darstellt, anstatt auf die Krise der Grenzen als globales System der Apartheid hinzuweisen, wie die Aktivistin und Schriftstellerin Harsha Walia betont.
[2]Um den Sommer 2015 als Erfolg der selbstbestimmten Bewegung von Menschen über und trotz der kontinuierlichen Erweiterung der europäischen Grenzen hervorzuheben, schlagen Yurdakul et al. den Begriff „der lange Sommer der Migration“ vor.