
Eine Analyse mit dem Fokus auf die Abwesenheit des male gaze im Kinofilm In die Sonne schauen von Mascha Schilinski. Der Artikel geht der Frage nach: Was muss wirklich gezeigt werden, um Gewalt in ihrer Heftigkeit darzustellen und was hat die Abwesenheit der visuellen Heftigkeit mit dem male gaze zu tun?

Wenn Filme emotional beeindrucken und Menschen sprachlos oder angeregt im Austausch den Kinosaal verlassen, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Entweder sind sie entrüstet, begeistert, wütend, positiv oder negativ getroffen oder einfach (re)traumatisiert. (Re)traumatisierung oder Aktivierung von Triggern kann entstehen, wenn Menschen mit ihrem Erlebten auf eine Art konfrontiert werden, die ein Wiedererleben im Inneren auslöst. Ob das teilweise nötig ist, um auf filmischer Ebene gewisse Inhalte in ihrer Heftigkeit darzustellen, sei erst einmal dahingestellt.
Was müssen Filme zeigen, um in die Wunde zu treffen, die getroffen werden soll? Was reicht, um zu erzählen, was kaum greifbar ist? Braucht es wirklich noch deutliche und teils ästhetisierte Missbrauchsszenen auf Kinoleinwänden? Braucht es noch splatterige Gewalt- und Suizidszenen, um Zuschauende sprachlos zu machen? Oder haben wir das alle schon gesehen und kommt manches Genre auch genauso gut ohne diese auserzählten visuellen Reize aus? Was auffällig ist, und an In die Sonne schauen (2025, Deutschland) von Mascha Schilinski gut gezeigt werden kann, ist, dass gewisse Bilder und Situationen unausgesprochen oder nur angedeutet werden müssen, um emotionale Intensität zu transportieren. Gibt Film doch als sehr dichtes Medium einiges her, um Gefühle auszulösen: Schnitt, Kameraperspektive, Sprache, Ton, Figuren, Montage, Bühnenbild usw.
Mit viel Respekt gegenüber tatsächlich Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch wird filmisch sanft und intensiv das Intimste und Private von Frauen aus vier Generationen, von 1910 bis in die Gegenwart, erzählt und es wird deutlich: Das Private ist sehr wohl politisch.
Üblicherweise spricht man in der feministischen Filmtheorie von dem male gaze, wenn es um eine sexualisierte Perspektive des ‚männlichen Blicks‘ geht. Wie werden Figuren gefilmt, welche Handlungsfähigkeit und welche Rede- und Aktionsanteile werden ihnen je nach Geschlecht zugestanden? In Bezug auf Trauma, Krieg, Gewalt und Missbrauch und die Visualisierung von schlimmen, dramatischen Familienhistorien, leistet In die Sonne schauen hier Großartiges und erzählt mit der größten Abwesenheit des male gaze, die man sich vorstellen kann. Mit viel Respekt gegenüber tatsächlich Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch wird filmisch sanft und intensiv das Intimste und Private von Frauen aus vier Generationen, von 1910 bis in die Gegenwart, erzählt und es wird deutlich: Das Private ist sehr wohl politisch. Wir werden durch das Leben von vier Generationen auf einem Vierseitenhof in der Altmark aus weiblichen Perspektiven geleitet und schnell wird klar – man sieht selten alles. Wir schauen mit und durch die weiblichen Figuren, durch Schlüssellöcher, Vorhänge, Fenster oder aus Personengruppen heraus. Oft schaut uns als Betrachtende die weibliche Figur auch direkt an und durbricht damit die vierte Wand, bindet uns ein und schließt uns dann auch wieder aus.
Genauso wie wir visuell, stilistisch durch Schnitt oder Bildausschnitt selten alles sehen, so sehen wir auch selten alles, wenn es um die verstörenden Szenen geht. Das Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt spielt in dem Film durchweg eine große Rolle, doch muss keine der Zuschauer*innen eine ästhetisierte und inszenierte Missbrauchszene sehen, die verschwimmen lassen könnte, wo der Unterschied zwischen Sex und sexualisierter Gewalt liegt – das eine ist ein konsensueller Akt und das andere unter anderem auch eine Kriegswaffe und hat nichts mit Sex an sich zu tun, sondern nur mit Machtmissbrauch.
Cis männliche Regisseure sehen die Notwendigkeit sexualisierte Gewalt als Stilmittel einzusetzen öfter als gegeben und landen mit ihren sexualisierten Perspektiven einen Kassenschlager nach dem nächsten. Ein halbwegs aktuelles Gegenbeispiel mit unnötig voyeuristischer und ästhetisierter Ausschlachtung von Trauma, Missbrauch und sexuellen Machtphantasien auf filmischer Ebene ist Poor Things (2023) von Giorgos Lanthimos. In der Rezeption wurde über den Film sogar gesagt, er sei feministisch, weil es auf der vermeintlich feministischen Frankenstein-Adaption von Alasdair Gray von 1992 beruht. Ein weiteres Argument dafür sei auch, dass die Hauptfigur am Ende durch Sexarbeit und dann Bildung empowered und handlungsfähig wird. Doch dieses bleibende, vermeintlich gute Gefühl ist nicht aus der Luft gegriffen. Zwar gibt uns der Film ein versöhnliches Ende, indem die hier von Missbrauch betroffene Figur sich von den gewaltausübenden Männern löst und über diese erhebt. Dennoch bleibt hervorzuheben, inwieweit der visuelle Aspekt in Poor Things nach dem male gaze funktioniert. Denn neben dem vermeintlichen ‚Happy End‘, bleibt durch den Einsatz von ästhetisierten, teils auch ‚witzigen‘ Szenen in Verbindung mit sexuellen und missbräuchlichen Szenen das offensichtlich unangenehme Gefühl und Bewusstsein für die Betrachtenden aus. Außer man begibt sich auf die Metaebene und analysiert das Gezeigte im gesamtgesellschaftlichen Kontext des Patriarchats. Durch Wortwahl, Farben, Sound und Figurenkonzeption ergibt sich ein stimmiges Bild einer fast schon pädophilen voyeuristischen Machtphantasie, die sich in Poor Things entlädt.
Nicht nur als rückschrittlich würde ich Filme bezeichnen, die mit dem male gaze über geschlechtsspezifisches Trauma, Missbrauch und sexualisierte Gewalt erzählen, sondern auch als höchst unnötig und antifeministisch.
Mit einer großen Portion feministischen Ekels schaut man der Hauptfigur bei sexuellen Handlungen, die sie vermeintlich selbst auch will, zu und kann ihnen nicht entfliehen. Die Kameraperspektive führt unseren Blick über ihren kindlich anmutenden Körper und sexualisiert sie auf Schritt und Tritt, auch außerhalb offensichtlich sexueller Szenen. Wenn es wirklich nur um die Verdeutlichung und nicht um die Ausschlachtung und einen pädophilen sexualisierenden Blick geht, muss man sich zwangsläufig fragen, ob der ganze Rahmen dafür tatsächlich sein muss. Doch aus cis-männlicher Perspektive muss es das wohl – nicht nur für die Zuschauenden, auch für sich selbst. Sich selbst zeigen, dass man das eben immer (noch) zeigen kann, obwohl es eigentlich keiner mehr sehen muss. Nicht nur als rückschrittlich würde ich Filme bezeichnen, die mit dem male gaze über geschlechtsspezifisches Trauma, Missbrauch und sexualisierte Gewalt erzählen, sondern auch als höchst unnötig und antifeministisch. Es lässt Zuschauende, die nicht von dieser Gewalt betroffen waren oder sind, in ihrer Komfortzone und eröffnet gleichzeitig einen pornographischen und voyeuristischen Blick auf weibliche missbrauchte Körper und das in der Öffentlichkeit und ganz unverblümt auf der Leinwand.
Ganz anders aber in In die Sonne schauen. In der ersten Szene, in der deutlich wird, dass es in den nächsten Momenten zu sexualisierter Gewalt kommen wird, werden Zuschauer*innen mit deutlichen Hinweisen versorgt. Nachdem sich eine Familienfeier auflöst und alle Beteiligten in ihre Betten gehen, steht die Erzählfigur Alma im Hauseingang mit ihrer Schwester und schaut den in die Scheune laufenden Mägden und Männern hinterher. Auf auditiver Ebene wird signalisiert, dass es sich um eine bedrohliche Situation handelt, doch wird diese von männlichen Stimmen durchbrochen, die rufen „Zieh einen Sack drüber und mach es für das Vaterland!“, ohne Scham, als wäre es – und das war und ist es auch aus patriarchaler Perspektive – völlig legitim. Die Männer greifen nach den Hüften der Mägde, reißen ihre Röcke hoch und langen an den Po, ziehen sie an sich und mit sich. Um die Männer grunzen Schweine – nicht das erste Mal. Als in den ersten paar Minuten des Filmes eine weibliche Figur eine Ohrfeige von einem der Männer bekommt, kündigen ebenso grunzende Schweine an, dass etwas zutiefst männliches passiert und man denkt sich tatsächlich – „ihr Schweine!“. Die Szene mit den Mägden und Männern endet unauserzählt, die Tür zum Haus, aus dem wir die Situation beobachten, wird geschlossen und man wird mit dem Gefühl und der Gewissheit über das was passieren wird, zurückgelassen.
So wird während des Filmes immer wieder deutlich, was auch in der Realität oft genau so ist: Das Leben geht weiter, alles scheint meist sehr lange, oft für immer, völlig normal und ruhig und die Betroffene von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt bleibt meist mit dem Wissen über die Situation allein.
Eine weitere sehr eindeutige Szene, die ohne den klassischen male gaze auskommt, bezieht sich auf das Erleben der dritten Generation.
Angelika, Tochter einer Frau der ersten Generation, lebt unter anderem mit ihrem Onkel Uwe zusammen. Er gibt ihr und seinem Sohn Rainer Schwimmunterricht. Während sie gemeinsam am Wasser sind und im Badeanzug vor ihnen steht, wird sie als Rückenfigur dargestellt und spricht aus dem Off ihre Gedanken an die Zuschauenden. Sie merke, wie sie von ihnen angestarrt wird: „Ich war es eigentlich, die sie dabei beobachtet hat, wie sie mich heimlich anschauen.“ – während dieser Gedanken der Figur, wandert die Kamera über ihren Körper und verfolgt einen Lichtreflex, der über ihren Rücken, Po, Bein bis hin zum Knöchel wandert. Der Lichtreflex symbolisiert weich den Blick der beiden Männer hinter ihr. Auffällig ist hier, dass es kein Verweilen auf vermeintlich attraktiven Körperstellen aus dem male gaze heraus gesehen gibt. Die Kamera bietet keine Perspektive, die den Zuschauer in die Position des männlichen Blicks versetzt. In Filmen mit male gaze erlaubt diese Perspektive sonst, sich scheinbar schuldlos – weil nicht der eigene Blick - in den männlichen starrenden Blick zu begeben. Doch hier bleibt alles bei ihr und ihrem Erzählen über ihr Gefühl, sie hat die Definitionsmacht. Nachdem der Lichtreflex auf ihrem Knöchel angelangt ist, dreht sich Angelika zwei Mal über ihre Schulter hin zu den Betrachtenden um und die Szene endet.
Zuvor wird den Betrachtenden in einer Szene Zuhause am Essenstisch verdeutlicht, welche Beziehung zwischen Uwe und Angelika herrscht. Es gibt einen relativ subtilen Schnitt während eines Gesprächs in der Familienrunde unter den Tisch. Hier legt der Onkel breit grinsend seine Hand auf den nackten Oberschenkel von Angelika. Der Sound macht hier auch deutlich, dass trotz der Leichtigkeit der Gesamtsituation, etwas absolut nicht Leichtes transportiert werden soll. So wird während des Filmes immer wieder deutlich, was auch in der Realität oft genau so ist: Das Leben geht weiter, alles scheint meist sehr lange, oft für immer, völlig normal und ruhig und die Betroffene von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt bleibt meist mit dem Wissen über die Situation allein. Auch dieses patriarchale Phänomen wird thematisiert, wenn in dem letzten Viertel des Filmes eine Szene durch Nelly, ein Mädchen aus der vierten Generation erzählt wird. Sie spielt mit anderen Kindern unter einem Rasensprenger und berichtet aus dem Off darüber, wie sie den drückenden Blick eines Freundes der Eltern auf ihrem Körper spürt. Sie dreht sich zu ihm und teilt uns mit: „Am liebsten hätte ich meine Arme vor meinem Körper verschränkt, doch das war zu auffällig“ und dass sie dadurch, dass sie nun so tut als hätte sie den Blick nicht bemerkt, ein Geheimnis mit ihm habe, welches sie gar nicht haben möchte.
Es gibt in In die Sonne schauen noch einige mehr Situationen, in denen angedeutet wird, wann und wie Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt Frauen der verschiedenen Generationen angetan wurde. In einer Rückblende erzählt Angelika, dass sie wisse wie ihre Tante gestorben sei. Sie sei mit den anderen Frauen nach dem Krieg ‚in den Fluss gegangen‘, weil sie wussten was den anderen Frauen passiert sei und da sei Ertrinken die bessere Option. Wir sehen auch hier nur in einer Rückblende eine Gruppe Frauen in den Fluss gehen, nicht ertrinken und auch nicht missbraucht werden. Es wird in In die Sonne schauen folglich nie auf visueller oder voyeuristisch anmutende Art alles spezifisch geschlechtsspezifisch gewaltvolle auserzählt. Und warum? Weil es das nicht braucht.