Strafrecht führt weder zu Sicherheit noch zu Gerechtigkeit. Besonders deutlich zeigt sich das am Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten2 nach sexualisierter Gewalt in sogenannten „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellationen.
Strafrecht als vermeintlicher Garant für Sicherheit entspringt dem Gedanken des staatlichen Gewalt- und Strafmonopols. Im Falle von Gewalt – so das Versprechen - ist die gerechte Justiz zur Stelle und der Täter wird bestraft. Dabei ist das Strafrecht (unabhängig von der Frage nach Sinn und Unsinn von Strafe) entgegen seines Versprechens in der derzeitigen Ausgestaltung von vornherein weder in der Lage, Sexualdelikte präventiv zu verhindern3, noch diese effektiv zu ahnden. Die Verurteilungsquote nach Sexualdelikten liegt in den meisten Bundesländern im einstelligen Bereich. Treten besondere Umstände hinzu, verringern sich die Chancen weiter. Die aktuelle Rechtslage ist so, dass bei vielen Menschen aufgrund struktureller Diskriminierung4 bereits vor einer Tat feststeht, dass es hinterher voraussichtlich keine Verurteilung geben wird.
Einer der Ausgangspunkte dabei ist, dass viele Menschen mit Lernschwierigkeiten durchgängig erleben, dass Entscheidungen fremdbestimmt für sie getroffen werden.
Im Hinblick auf Menschen mit Lernschwierigkeiten liegt das Problem dabei nicht nur im staatlichen Versagen bei bestimmten einzelnen Abschnitten des Strafverfahrens. Es liegt vielmehr im Zusammenspiel von (zumeist cis männlichen) Tätern5, die diese Taten begehen und Vulnerabilitäten gezielt ausnutzen, mit ungünstigen Bedingungen in einer ableistischen6 Gesellschaft und einer Justiz, die nicht über das erforderliche behinderungsspezifische Fachwissen verfügt.
Einer der Ausgangspunkte dabei ist, dass viele Menschen mit Lernschwierigkeiten durchgängig erleben, dass Entscheidungen fremdbestimmt für sie getroffen werden. Die Lernerfahrung, dass der eigene Wille wirkmächtig ist und dass ein „Nein, ich will nicht“ zählt, wird dadurch erschwert. Regelmäßige Kurse zu Selbstbehauptung und sexueller Selbstbestimmung gibt es häufig weder in Schulen, besonderen Wohnformen, noch in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Das Wissen um die eigenen Grenzen und Rechte ist aber die Voraussetzung, um überhaupt einen Zugang zum Recht zu haben.
Ebenso fehlt es oft an Informationen über Hilfsangebote in den Einrichtungen. Unterstützung bieten können hier die Frauenbeauftragte in Einrichtungen7. Diese sind bislang jedoch nur in Werkstätten verpflichtend vorgesehen und oft nicht ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet. Auch der Zugang zur anzeigenunabhängigen Spurensicherung8, zu externen Fachberatungsstellen9 oder therapeutischen Angeboten ist in der Praxis oft nicht gewährleistet.
Obwohl Gewaltschutzkonzepte10 für Einrichtungen mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben sind, ergibt sich aus den Ermittlungsakten häufig, dass Mitarbeiter*innen überfordert, zu langsam oder falsch reagieren, wenn sie von einem Übergriff erfahren.
Alle vorgenannten Umstände haben direkte Auswirkungen auf die Erfolgsaussicht eines Strafverfahrens. Insbesondere eine unsachgemäße Befragung und eine schlechte Dokumentation des ersten Offenbarungsgesprächs führen dazu, dass ein etwaiges Strafverfahren später oft nicht zu einer Verurteilung führen wird. Denn bei Fehlern in der Dokumentation kann später zum Beispiel die Hypothese, dass versehentlich suggestiv befragt und dadurch Aussageinhalte verändert wurden, häufig nicht mehr widerlegt werden. Ein großer Anteil eingestellter Strafverfahren ist auf Fehler rund um den Zeitpunkt des Sichanvertrauens und die zu späte Einschaltung von Anwält*innen11 zurückzuführen.
Standardisierte Leitfäden zum Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es in der Regel weder bei Polizei, Staatsanwaltschaft noch Gericht.
Zugleich fehlt es häufig an behinderungsspezifischem Fachwissen bei Polizei und Justiz. So werden bei Verletzten mit Lernschwierigkeiten in der Regel Sachverständige mit einem aussagepsychologischen Gutachten beauftragt. Ob sich diese explizit mit aussagespezifischen Besonderheiten bei Lernschwierigkeiten auskennen, wird nicht geprüft. Dies kann dazu führen, dass Tests für Kinder angewendet werden oder Verletzten fehlerhaft die Aussagefähigkeit per se abgesprochen wird12, was eine sehr endgültige Form der Rechtlosstellung ist. Sachverständige können wiederum nur dann eine frühere Aussage fundiert beurteilen, wenn diese von der Polizei aufgezeichnet wurde. Aus einem rein schriftlichen Protokoll können behinderungsspezifische Aussagebesonderheiten nicht mehr zuverlässig rekonstruiert werden. Viele Verletzte mit Lernschwierigkeiten brauchen zudem ihre gewohnte Umgebung, viele Pausen, Leichte Sprache und eine Vertrauensperson, um gut aussagen zu können. Es ist möglich, dass Verletzte mit mobiler Audio- oder Videotechnik zu Hause vernommen werden. Ob an diese Möglichkeit gedacht wird, hängt von der einzelnen Vernehmungsbeamt*in und damit wiederum vom Zufall ab. Standardisierte Leitfäden zum Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es in der Regel weder bei Polizei, Staatsanwaltschaft noch Gericht. Auch verpflichtende Fortbildungen etwa zu Leichter Sprache oder behinderungsspezifischen Vergewaltigungsmythen gibt es nicht.
Dies führt zu vermeidbaren Fehlern. Ein solcher ist beispielsweise die Frage „Wusste er, dass Sie den Geschlechtsverkehr nicht wollten?“. Die Antwort lautet in aller Regel behinderungsbedingt „nein“ oder „weiß ich nicht“. Es ist schwer für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten Ableitungen darüber zu treffen, was jemand anderes gedacht oder gewusst hat. Die Antwort „ja, weil ich habe ja geweint“, wird auf diese Frage nicht kommen, weil die Frage zu kompliziert und damit falsch gestellt ist. Das zu erkennen, erfordert geschulte Staatsanwält*innen, die es mangels verpflichtender Fortbildungen oft nicht gibt. Verfahren werden häufig aufgrund fehlerhafter Erwägungen eingestellt.
Menschen mit Lernschwierigkeiten haben Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Dies setzt mindestens voraus, dass entsprechende Fortbildungen für alle am Strafverfahren beteiligten Personen verpflichtend wahrgenommen werden.