Was ist das eigentlich, Feminismus?

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"Das Gackern der Hühner und Küken, das Zirpen der Grillen und Plätschern des Wassers - das ist Ihnen überlassen"
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"Das Gackern der Hühner und Küken, das Zirpen der Grillen und Plätschern des Wassers - das ist Ihnen überlassen"

Früher machten sie Ravioli, heute Stadtteilarbeit. Aber was ist das eigentlich genau, Feminismus? Während eines gemeinsamen Urlaubs suchen KAMER-Aktivistinnen in einem Gespräch nach Antworten - und stoßen auf die Schwierigkeit, das Alltägliche in Worte zu fassen.

Dieser Text entstand während eines gemeinsamen Urlaubs unserer Gruppe nach einem arbeitsintensiven Jahr. Eigentlich kann man nicht von Urlaub, sondern eher von einem Arbeitscamp sprechen. Wir wollten uns erholen, aber auch ausführlich miteinander sprechen. Bei KAMER legen wir manchmal ein solches Arbeitstempo an den Tag, dass wir keine Zeit finden, uns zusammenzusetzen und uns eingehend zu unterhalten. Dieses Camp sollte für uns dafür eine gute Gelegenheit bieten.  

Wir hatten einige Themen festgelegt, über die wir diskutieren wollten. Eines dieser Themen war "Feminismus". Bevor wir mit dem Gedankenaustausch begannen, steckten wir den Rahmen fest: "Welche Bedeutung hat Feminismus für uns im alltäglichen Leben? Welche Relevanz hat der Feminismus für uns in Anbetracht der Probleme in der Türkei, der Frauenbewegung und der Probleme in unserem eigenen Leben, angesichts dessen, was wir wahrgenommen und beobachtet haben?". Über diese Aspekte wollten wir reden. Wir dachten, wenn wir über Feminismus auf der Basis von konkreten Erlebnissen und Erfahrungen diskutieren, wird er verständlicher und ansprechender.

Am Montagmorgen, den 13. Juli, schalteten wir nach dem Frühstück das Tonband ein und redeten über Feminismus. Unsere Namen wollten wir nicht nennen - welche Bedeutung haben sie schon! Wichtig sind die Worte. Das Gackern der Hühner und Küken, das Zirpen der Grillen und Plätschern des Wassers, das vom Kumluberg her klingt, zu vernehmen - das ist Ihnen überlassen.

Brennende Sonne: Ich habe an einer Konferenz über Immobilieninvestitionen teilgenommen. Der Redner, ein sehr berühmter Architekt, vermerkte an einer Stelle seines Vortrags: "Wir sollten so arbeiten, dass wir stets diejenigen der Gesellschaft vor Augen haben, die unseren Schutz benötigen, die Frauen und Kinder". Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ein riesengroßer Saal, zahlreiche Architekten, Investoren, Inhaber von Immobiliengesellschaften, Geschäftsführer, Bankdirektoren - alle waren anwesend. Ich war außer mir vor Aufregung, aber ich konnte mich nicht direkt einmischen, schließlich war ich über jemanden anderes zu der Konferenz gekommen und war nicht persönlich eingeladen worden. Später saßen wir beim Essen, das für alle Konferenzteilnehmer_innen gegeben wurde. Der Redner selbst, der diesen Satz geäußert hatte, saß an einem anderen Tisch als ich. Aber eine seiner Studentinnen saß bei uns. Ich versuchte, das Gespräch auf diesen Vortrag und Satz zu lenken und wiederholte diesen Satz Wort für Wort.

Ich merkte, dass sie die Diskriminierung in diesem Satz nicht wahrnahmen. Weil sie nicht sagen konnten "Und, was ist schon dabei?" reagierten sie mit Sätzen wie "Nein, so was hat er nicht gesagt". Ich entgegnete, dass seine Rede bestimmt schriftlich als Arbeitspapier vorliege, dort könnten wir ja nachlesen. "Das können wir nicht aushändigen, das ist intern", bekam ich zur Antwort. Aber ich nehme an, der Redner wurde über meine Reaktion informiert, denn später kam er auf mich zu. Ich wiederholte den Satz nochmals und meinte: "Das haben Sie gesagt". "Schreiben Sie mir, ich werde Ihnen den Text schicken. So etwas habe ich nicht gesagt", entgegnete er. Aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.

Eine Freundin, die den Redner näher kannte, fragte mich nach ein paar Tagen, ob ich von ihm eine Antwort erhalten habe. "Nein", sagte ich, "aber der Text ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass er es begreift und das hat er meiner Meinung nach".

Altbewährte Erde: Ich denke, dass wir, die wir uns Feministin nennen, nicht offen gegenüber neuen Einsichten und Kritiken sind. Wir gehen davon aus, dass wir die Sache begriffen haben, an der richtigen Stelle angelangt sind und nichts mehr falsch machen können. Aber meiner Meinung nach wird unsere Lebenszeit nicht ausreichen, um sich allem bewusst zu werden. Das wird eine weitere Generation brauchen. Vielleicht wird es die übernächste Generation besser haben. Wenn wir auf neue Einsichten verzichten und Kritiken nicht akzeptieren, dann werden wir rasante Rückschritte machen. Außerdem muss niemand als Vorbild dienen. Eine Person zum Vorbild zu nehmen bedeutet ohnhin, eine Hierarchie zu schaffen. Wir alle lernen durch Ausprobieren.

Berg im Nebel: Meine letzte Erfahrung war folgendermaßen: Eine Akademikerin irgendwo auf der Welt, die sich als "Feministin" bezeichnet, macht eine Untersuchung in einem Bereich, der von Gewalt und Armut geprägt ist. Die Studie wird jedoch verschiedentlich kritisiert und sie fühlt sich unglücklich. Es kann natürlich viele Gründe für ihr Unglücklichsein geben: Sie hat nicht die richtige Sprache und Herangehensweise gefunden, der Rahmen der Untersuchung wurde nicht gut abgesteckt, die Beziehungen zu den zu Untersuchenden sind ausgeufert oder man achtete nicht auf ihre Sensibilitäten ... Anstatt sich aber selbst zu hinterfragen und etwas über sich herauszufinden, sagt sich die feministische Akademikerin, von Orten, an denen Gewalt und Armut herrschen, kann man sowieso nicht glücklich zurückkehren und geht auf diese Weise über die Situation hinweg. Indes bot sich ihr eine wichtige Gelegenheit, sich selbst zu erkennen, aber sie konnte sie nicht nutzen. Wahrscheinlich ging sie davon aus, schon alles zu wissen und keine Fehler zu machen.

Altbwährte Erde: Derzeit werden in der Türkei neue Parteien gegründet beziehungsweise es sollten neue Parteien gegründet werden. Denn hier gibt es einen großen Bedarf. Ich verfolge das mit großem Interesse. Für uns Feministinnen sind alle Lebensbereiche Territorien politischer Tätigkeit, wir haben die Formen politischen Handelns neu definiert.

Ein Verantwortlicher solch einer neuen Gruppierung sagte in einem Fernsehkanal: "Die Systeme sind zusammengebrochen, wir können das Alte jetzt kritisieren. In diesem Fall sollten wir eine neue Welt, neue Parteien gründen. Wir haben eine solche Entwicklung in Gang gesetzt. Wir arbeiten mit partizipativen Methoden. Wir, die Gründungsmitglieder, haben Themen wie Behinderte, Umweltprobleme, wirtschaftliche Probleme und die Frauenfrage auf die Tagesordnung gesetzt". Dieser Satz hat mir ausgereicht um zu sehen, dass es sich wieder nur um eine Wiederholung des Alten handelt.

Ich warte darauf, dass eines Tages folgender Anfang gefunden wird: "Wir, Frauen und Männer, die sich des Gender-Problems bewusst sind und den Sexismus in Frage stellen, machen den Anfang für eine neue Bewegung". Frauen sind kein Betätigungsbereich für neue Gruppierungen. Nur solche Organisierungen, in denen Frauen und Männer ihre jeweiligen Rollen hinterfragen, werden wirklich "neu" sein.
 
Bewegtes Wasser: Wegen Frauen, die nicht offen für Veränderung sind, die sagen, ich bleibe wie ich bin, die hierarchisch von oben herab blicken, die eine feststehende Meinung von Feminismus haben, die nicht hinterfragen, die lehren, aber nicht offen für Neues sind - wegen solcher Frauen wird es auch immer Frauen geben, die sagen: "Wenn das Feminismus ist, dann bin ich keine Feministin".

Altebwährte Erde: Früher war ich der Ansicht, dass Tiere und Pflanzen dazu da sind, um die Menschen glücklich zu machen. Vor dem Hintergrund des Feminismus stellte ich fest, dass die erste Hierarchie mit der Beherrschung der Natur durch den Menschen begann. Während wir früher unter einem Baum Zuflucht suchten, gibt es an deren Stelle nun Häuser, die sich in den Himmerl erheben. Und wir haben es fertiggebracht, in diesen zu leben.
 
Brennende Sonne: Und das, ohne die Bäume um Erlaubnis zu fragen.

Altbewährte Erde: Ja, es gibt eine Erdkugel und darauf Lebewesen. Das sind die Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Unterschied besteht nur darin, dass Menschen einen Verstand besitzen. Den haben wir aber nur dazu benutzt, Macht und Herrschaft zu errichten und haben die Welt in diesen Zustand gebracht. Das ist für mich die wichtigste Einsicht der letzten fünf Jahre. Jetzt werden wir älter und auch die Welt altert. Und die Welt haben wir derart verschmutzt und zerschlissen, dass wir nicht wissen, was passieren wird.

Sandhügel: Ich möchte mir über alles eine Meinung bilden, aber ich weiss nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Zum Beispiel lese ich eine Seite und denke über das Gelesene nach. Während des Lesens erfasse ich manche Dinge, aber ich kann sie nicht benennen. Das bereitet mir Bauchschmerzen. Es gelingt mir nicht, mir eigene Gedanken zu machen.
 
Altebewährte Erde: Warum sollst du dir keine Meinung bilden können? Bei welchem Thema zum Beispiel gelingt dir das nicht?

Sandhügel: Es ist so: Ich kann manchmal das, was mir aufgefallen ist, nicht beim Namen nennen und kann es nicht erzählen.

Altbewährte Erde: Meines Erachtens kannst du dir ganz gut eine eigene Meinung bilden. Nach meinem Dafürhalten muss man, um sich Gedanken machen zu können, zuerst viel lernen. Und du kannst dir sowohl über Themen, mit denen du dich beschäftigt hast, sehr gut Gedanken machen als auch Dinge abwägen , die dir nicht einleuchten. Zum Beispiel kennst du dich sehr gut mit Arbeitstechniken bezüglich Gewalt gegen Frauen aus. Vielleicht erinnerst du dich, du hast auf einer Fahrt über die Dörfer das Gespräch mit einer Frau, die zu uns kam, um sich vor Gewalt zu retten, unterbrochen, weil es nicht im Besprechungszimmer stattfand. Denn du wusstest genau, dass die Geschichte jeder Frau persönlich und deshalb geheim zu halten ist. Die Frauen, die in unsere Zentren kommen, wissen das vielleicht nicht, aber wir sind uns dessen bewusst, weshalb wir auch die Besprechungszimmer eingerichtet haben. Du willst alles auf einmal lernen und dir zu jedem Thema eine Meinung bilden. Wir haben gesagt, dass Feminismus bedeutet, neugierig zu sein und zu lernen, aber wir können nicht alles im selben Augenblick erlernen. Außerdem brauchen wir meines Erachtens auch nicht alles lernen und wissen.

Sandhügel: Ja, mich interessieren alle Pobleme der Welt, auch die Insekten zwischen den Grashalmen. Ich denke, Feminismus heißt lernen. Aber manchmal kann ich etwas nicht oder nur halb verstehen.

Berg im Nebel: Du bist schon seit zehn Jahren bei KAMER. Als du zu uns kamst, machtest du Ravioli. Jetzt machst du Stadtteilarbeit. Meiner Ansicht nach hast du Riesenfortschritte gemacht. Ist jede gezwungen alles zu lernen? Oder können wir alles auf einmal lernen? Ich denke, alles beginnt mit Neugier, dann folgt ein Lernprozess und danach das Teilen des erworbenen Wissens und der Erfahrungen. Es geht nicht alles zugleich! Mach mal ein Beispiel, zu welchem Thema konntest du dir keine Meinung bilden?
 
Sandhügel: Zum Beispiel werden in der letzten Zeit die Kurdenfrage und Lösungswege diskutiert. Manche Diskussionen verfolge ich und sehe, dass es Dinge gibt, die ich nicht richtig finde, aber ich kann diese nicht formulieren.
 
Lautloses Hochwasser: Ich denke, das Problem, das du schilderst, hat nichts damit zu tun, sich keine Meinung bilden zu können. Es geht um etwas anderes. Die Furcht, "was passiert, wenn ich es sage", löst bei uns ein Verhalten aus, das uns vom sexistischen System und dem hierarchischen System oktroyiert wurde.

Sandhügel: Nein, das ist es nicht. Ich kann es nicht erklären.

Erdnuss mit Schale: Ich frage dich: Denkst du, dass die Feministinnen alles wissen oder lernen müssen? Sind wir auf jeder Versammlung per se gezwungen etwas zu sagen?
 
Altbewährte Erde: Aber das kennen wir doch alle. Zum Beispiel habe ich, nachdem ich die Beziehung des Menschen zur Natur realisiert habe, zu lesen und zu beobachten begonnen, habe dem Thema nachgespürt. Das Lernen nimmt ohnehin kein Ende! Es reicht doch, wenn wir durch das Erlernte einsehen, dass wir nicht alles wissen können und dass wir keine absolute Sprache benutzen sollten, sonst versperren wir uns selbst den Weg.
 
Leuchtender Stern: Was ich sicher weiß ist, dass ich eine Feministin sein und den Rest meines Lebens als Individuum leben will. Das ist – offen gesagt - mein wirkliches Bestreben. Wie oft ich auch an mich selbst denke, an das, was ich erlebt habe, auch wenn ich mir sage, du hast die Gesellschaft in Frage gestellt, du hast dich verändert - der Prozess der Bewusstwerdung endet nie. Was hat mir das, was mir jahrelang eingetrichtert wurde, alles angetan, meine Rolle als Freundin, Ehefrau und Mutter? Ich versuche, das alles zu hinterfragen und zu ändern. Aber in Zeiten, in denen meine Gedanken und mein Verhalten nicht in Einklang sind, stecke ich in einem Zwiespalt. Ich sehe, dass es Dinge gibt, die ich nicht ändern konnte und hadere mit mir selbst. Vielleicht fürchte ich mich auch davor, aus dem Rahmen zu fallen und allein zu bleiben.

Altbewährte Erde: Ich denke, Feminismus heißt auch, aus dem Rahmen zu fallen. Wie können wir sonst aus dem System ausbrechen? Wir bemühen uns, konträr zu denken und Verhaltensweisen zu entwickeln, die mit unseren Prinzipien übereinstimmen.
 
Leuchtender Stern: Entweder bin ich zu ungeduldig oder das Milieu, in dem ich lebe, ist zu weitläufig und schwer zu ändern.

Altbewährte Erde: Das ist natürlich sehr schwierig. Aber wir versuchen ja nicht, unsere Einsichten oder die Sprache und Verhaltensweisen, die wir entwickelt haben, auf einmal umzusetzen. Wir nehmen an, dass die anderen Menschen noch kein Bewusstsein erlangt haben. Und wir haben ein wichtiges Prinzip: universal denken und lokal handeln. Diese Sachverhalte vor Augen versuchen wir einen Weg zu finden, wie wir das, was wir erkannt haben, auch anderen bewusst machen können. Dazu entwickeln wir Methoden. Sonst würden wir beginnen der Welt zu grollen. Es ist nicht unsere Absicht, diese Menschen zu hintergehen, sondern miteinander zu reden, um Probleme zu lösen. Natürlich ist es schwer, trotz all unserer Erkenntnisse in einem starren Milieu zu leben, das sich nicht ändert. Aber wir haben eine Wahl getroffen und werden uns trotz aller Schwierigkeiten weiterhin bemühen, mehr Bewusstsein zu schaffen. Das ist eine Frage der Geduld und eine Frage der Methode...

Leuchtender Stern: Vor einem Jahr dachte ich noch: "Warum versteht mich niemand?". Nun bin ich mir aber dessen bewusst, dass es Zeit braucht, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Das Wichtige ist, nicht von den Werten abzuweichen, die wir uns erarbeitet haben.

Brennende Sonne: Ich habe mir über das Aufgeben/Kapitulatieren Gedanken gemacht. Konflikte, Diskussionen - wie sich auch immer unsere oppositionelle Haltung ausdrückt - das aufzugeben bedeutet Kapitulation.

Leuchtender Stern: Ich weiß, dass das, was ich will, schwierig ist. Aber selbst wenn es sehr anstregend ist, habe ich nicht von Kapitulation gesprochen. Ganz im Gegenteil, es stärkt mich und meinen Widerstand. Immer mehr Menschen geben mir Recht.
 
Sandhügel: Die Schwierigkeiten entstehen durch unsere Widersprüche. Wir müssen die Widersprüche in unseren Köpfen aufspüren und sie auflösen.

Brennende Sonne: Eine Lösung könnte vielleicht sein, dass wir an Stelle der gesellschaftlichen Normen unsere Werte, die wir verteidigen, in den Vordergrund stellen. Ich meine: In Situationen, in denen sich zum Beispiel mein Verhalten gegen die allgemein akzeptierte Hierarchie - einem älteren oder ranghöheren Menschen gegenüber – richtet oder wenn ich etwas sage, das man von mir nicht erwartet und das auf Gegenreaktionen stößt, dann bemühe ich mich, in Übereinstimmung mit Werten wie Aufrichtigkeit und Menschenliebe zu handeln, um die Konflikte abzubauen. Ich nehme diesen Kampf auf mich, aber dabei ist es nicht mein Ziel, etwas ins Wasser zu schreiben. Wenn wir sehen, dass wir Fortschritte machen, dann erleben wir auch die Erschöpfung nicht mehr so stark.

Bewegtes Wasser: Vielleicht wird einmal der Tag kommen, an dem wir sagen können: "Jetzt ist es geschafft".
 
Brennende Sonne: Das ist aber nicht genug. Die Erschöpfung und das Einsamkeitsgefühl, das sich dann einstellt, ist allein schwer zu ertragen.

Bewegtes Wasser: Wenn du beginnst, dir deiner Selbst bewusst zu werden, bist du eh allein. Hat nicht jede von uns von Zeit zu Zeit das Gefühl der Heimatlosigkeit?
 
Altbewährte Erde: Ja, aber es gibt auch eine neue Welt, die wir geschaffen haben. Und wir werden immer mehr. Der Ort, an dem wir das Gefühl der Heimatlosigkeit überwinden, ist der, wo wir uns gegenseitig unterstützen, ist unsere Solidarität. Denn die anderen Freundschaften, Geschwisterbeziehungen und Verwandtschaften reichen nicht mehr aus. Alle diese Beziehungen und vor allem die Freundschaften müssen wir von Neuem gestalten.

Leuchtender Stern: Ich glaube, dass wir alle Schwierigkeiten gemeinsam und mit immer mehr Frauen zusammen überwinden können.

Altbewährte Erde: Du hast etwas Pech. Die Beziehungen zu und unter deinen Verwandten sind sehr eng und du führst diese Beziehungen weiter, du möchtest sie nicht ausgrenzen. Das ist ermüdend. Du bist jeden Tag Zeugin von Situationen, die sich neben dir abspielen und die du nicht befürwortest. So bist du immer in einem anhaltenden Kampf. Das erschöpft dich. Das unterscheidet KAMER auch von anderen Arbeitsverhältnissen. Es ist nicht wie eine Anstellung bei der Steuerbehörde. Du kannst nicht sagen: Der Arbeitstag ist zu Ende, ich bin Zuhause, jetzt ist Schluss mit der Arbeit. Unsere Arbeit hört nicht auf, denn wir machen etwas, das das Leben direkt betrifft.

Lautloses Hochwasser: Für Akademikerinnen ist es noch schwieriger, Feministin zu sein, sich bewusst zu werden und daran festzuhalten. Jeder Mensch hat ein Ego, das er überwinden muss, und jeder Mensch will nach außen ein bestimmtes Bild abgeben, das schwierig aufrecht zu erhalten ist. Je mehr man gesellschaftlich aufsteigt, desto problematischer wird das. Die Schalen, die unser Ego schützen und die man abschälen muss wie bei einer Zwiebel, sind zahlreicher und schwieriger zu entfernen. Als Expertin bist du für die Gesellschaft sichtbar, du gibst Interviews im Fernsehen und Berichte an die Zeitungen. Feminismus heißt nicht nur, die Diskriminierung und Gewalt, die andere praktizieren und mit der wir konfrontiert sind, zu erkennen, sondern auch die Diskriminierung und Gewalt, die wir selbst ausüben, stets von neuem zu erkennen. Feminismus ist ein Prozess. Es ist falsch zu sagen, ich bin Feministin und damit fertig.
 
Altbewährte Erde: Ich denke, es gibt zwei verschiedene Dispositionen. Die erste ist, du verhältst dich so, weil du dir tatsächlich über etwas nicht bewusst bist. Die zweite hingegen ist, du bist dir zwar darüber bewusst, aber das, was du denkst, und das, was du tust, sind zwei verschiedene Dinge. Das erste finde ich nicht schlimm, aber das zweite ist mies.

Grünes Blatt: Wie eine Schwindelei.

Brennende Sonne: Zudem kann sich eine solche Person zugleich auch wie eine Expertin gebärden.
 
Berg im Nebel: Sagen wir nicht Schwindelei. Betrachten wir mal unser Leben vor dem Feminismus. Auch wir waren Schwindelgeister. Du triffst dich mit deinem Freund und sagst zu deiner Mutter, ich gehe zu einer Freundin zum Lernen. Die Umstände zwingen dich zum Lügen. Niemand ist offen und aufrichtig gegenüber den anderen.

Grünes Blatt: Ich habe darüber mit meiner Mutter gesprochen. Ich habe ihr die Wahrheit gesagt, worauf sie erwiderte, ich solle das nicht noch einmal tun. Beim nächsten Mal war ich deshalb gezwungen zu lügen.

Altbewährte Erde: Ja, siehst du, sie zerstören unsere Ganzheit. Dein Vorhaben, dein Programm, dein Gedanke, dein Gefühl ist das eine, das, was du machst, etwas anderes. Andererseits gibt es auch Feministinnen, die ihre Integrität zu wahren wissen und gemäß ihrer eigenen Entscheidungen leben, die aber ohne Gnade kritisieren. Ich weiß, dass die Bereiche, in denen wir für die Unabhängigkeit der Frauen kämpfen, nicht die Bereiche sein können, in denen wir frei sind. So habe ich das erlebt. Das ist eine Frage der Prioritäten. Immer wieder gibt es Frauen, die diese Bereiche, die die Frauenbewegung geschaffen hat, für ihre eigenen Freiheiten ausnutzen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten haben wir alle erlebt. Wenn wir nur darüber sprechen könnten! Aber weil das nicht geht, übergehen wir dies und sagen: "Jeder ihren eigenen Feminismus".

Bewegtes Wasser: Aus diesen Gründen hat sich auch der Gedanke "Die ist Feministin, die macht das" verfestigt.
 
Lautloses Hochwasser: Was den Feminismus von KAMER betrifft, gibt es für mich zwei wichtige Punkte. Erstens die Aufforderung und Ermutigung zu einem nie endenden Prozess des Sich-Bewusstwerdens und In-Frage-Stellens. Zweitens die Begrenzung des eigenen Freiheitsbereiches, um für andere Frauen Unabhängigkeitsbereiche zu schaffen, worauf auch diese ein Recht haben. Dabei ist es überaus wichtig, die regionalen Besonderheiten und Sensibilitäten zu erkennen und diese zu achten.

Sandhügel: Oder: Das Fenster, aus dem ich schaue, ist ein anderes als das, aus dem meine Mutter blickt. Um sie verstehen zu können, muss ich dorthin schauen, worauf sie ihren Blick richtet.
 
Berg im Nebel: Empathie ausüben.

Sandhügel: Denn meine Mutter zu ändern wird nicht so leicht sein.

Leuchtender Stern: Ein feministisches Benehmen an den Tag zu legen und zu dessen Unterstützung einen verurteilenden Stil zu pflegen, nur die Männer zu beschuldigen oder alle zu ignorieren - eine solch vereinfachende Herangehensweise schmälert und bagatellisiert das Problem zu sehr. Feminismus steht dafür, zuerst uns selbst und dann die gesamte Gesellschaft zu verändern und zu entwickeln. Das darf man nicht vergessen.

Altbewährte Erde: Sonst führt das nur zur Marginalisierung und behindert die Vergesellschaftung.

Bearbeitetes Eisen: Ich fühle mich zur Zeit zu niemanden und nichts zugehörig. Ich weiß nicht, was für ein Gefühl das ist. An meiner Seite gibt es drei Männer: meinen Vater, meinen Bruder und meinen Ehemann. Sie lieben mich und versuchen, mich gut zu behandeln, weshalb ich manchmal denke, sie sind geschlechtslos. Aber dann sehe ich, wie sehr sie einander gleichen! Mein Mann war vor der Ehe ganz anders.
 
Erdnuss mit Schale: Ich habe vor dreißig Jahren geheiratet. Davor hatten wir eineinhalb Jahre zusammengewohnt. Als wir geheiratet haben, dachte ich: "Er wird die Welt befreien und auch mich". Er war mein Held. Er sagte immer zu mir: "Geh nicht raus. Bleib im Haus, du bist krank, hast eine Operation gehabt. Draußen ist es gefährlich". Er hat sich im Handel selbständig gemacht und ich habe für ihn die Universität abgebrochen und bin zu Hause geblieben. Als ich dann begann zu KAMER zu gehen, habe ich bemerkt, dass er sauer und eifersüchtig ist. Dann habe ich ihm von KAMER erzählt und sagte, das ist das Fundament für eine neue Welt. Wirklich sehr schön..., erwiderte er. Wo ist dieser außerordentliche Mensch geblieben? Jetzt ist er flau und grau.

Grünes Blatt: Kurz nachdem ich bei KAMER zu arbeiten begonnen habe, sah ich meinen Ex-Ehemann auf der anderen Straßenseite gehen. Vor der Scheidung kam er mir immer riesengroß vor, aber jetzt schien er kleiner zu sein als ich. Ich sagte zu meiner Mutter: "Mutter, mein Ex-Mann ist total geschrumpft, jetzt ist er ungefähr so groß wie ich".

Dann habe ich verstanden, dass weder er geschrumpft ist noch ich gewachsen bin. Durch den Feminismus habe ich gelernt alles in seiner tatsächlichen Größe zu sehen.

 

Dieser Artikel wurde bereits auf Türkisch auf der Seite von Kamer publiziert.