„Sexualisierte Übergriffe und Gewalt spiegeln Machtverhältnisse in einer Gesellschaft wider“

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Wirkliche Gleichstellung und Gleichberechtigung kann es nur geben, wenn sich Männer und Frauen grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen.

Im Interview berichtet Ramona Pisal, die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, über die aktuelle Gesetzgebung zu sexualisierter Gewalt und fordert die Verschärfung des Sexualstrafrechts sowie den umfassenden Schutz von sexueller Selbstbestimmung. 

 

Lara Röscheisen: Wie sieht die rechtliche Lage für sexuell belästigte Frauen momentan in Deutschland aus und wo liegen die Probleme?
Ramona Pisal: Wenn wir unter sexueller Belästigung das sogenannte bloße Angrabschen oder Antatschen verstehen, dann sieht es mager aus für die Frauen in Deutschland. Das ist nämlich nicht strafbar, wenn diese Tat nicht eine gewisse Erheblichkeit aufweist. Das ist bei flüchtigen Berührungen im öffentlichen Nahraum zum Beispiel regelmäßig nicht gegeben. Das heißt, das wird nicht strafrechtlich verfolgt.

 

Also reicht die aktuelle Gesetzgebung nicht aus?
Wir, der Deutsche Juristinnenbund, sind der Meinung, dass die aktuelle Gesetzgebung nicht ausreichend ist. Es ist ein ganz  schlechtes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn sie meint, man könne Menschen an intimen Stellen sexualisiert berühren und daraus würden keine Konsequenzen erfolgen. Wir denken, dass solche Übergriffe ein klares Signal des Gesetzgebers und eine eindeutige Reaktion erfordern.

 

Was sind Ihre Forderungen in Bezug auf die Reform des Strafrechts von sexueller Gewalt?
Unsere Forderung ist, dass die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt und umfassend geschützt wird, in jeder Beziehung. Das gilt sowohl für die Verschärfungen des Sexualstrafrechts, die jetzt bereits auf dem Weg sind. Aber wir meinen auch, dass zur vollständigen Umsetzung des von Deutschland im Jahr 2011 unterzeichneten und zur Ratifizierung anstehenden Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 5. November 2011 (Istanbul-Konvention) mehr erforderlich ist. Die Istanbul Konvention fordert die Bestrafung von jeder nicht einverständlichen sexuellen und sexualisierten Handlung, Wir sind der Meinung, dass ein „Nein“ genügen muss. Das ist jetzt nicht der Fall. Bislang muss der entgegenstehende Wille zusätzlich mit Gewalt oder schweren Drohungen überwunden oder eine schutzlose Lage ausgenutzt werden. 

 

Wie schätzten Sie die Chancen auf Veränderung, jetzt ein?
Ich schätze die Aussicht auf Veränderung nach den Übergriffen in Köln zur Jahreswende als hoch ein. Jetzt endlich wird der Reformentwurf aus dem Justizministerium öffentlich diskutiert. Allerdings fürchte ich, dass damit die Vorgänge in der Silvesternacht in Köln von politischen Strömungen auch instrumentalisiert werden, zu Zwecken, die mit dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung oder den Rechten von Frauen nicht viel gemeinsam haben. Diesen Reformentwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts gibt es schon länger, er lag seit dem Sommer 2015 auf Eis, wir haben die öffentliche Diskussion und die Verbändenanhörung immer wieder und deutlich und vehement vor dem Jahresende gefordert und es ist dringend, dass die Reform auf den Weg gebracht wird.  Insoweit  bedauere ich sehr, dass nun erst Köln die Plattform und die Blaupausen für eine längst überfällige Reform bietet. Und es bleibt die leicht bittere Frage offen, wo wir denn heute ohne „Köln“ stünden, d. h. wenn es nicht „die Anderen“, Männer nichtdeutscher Herkunft, gewesen wären, von denen diese Übergriffe wohl mehrheitlich begangen worden sein sollen. Aber sehen wir nach vorne:  jetzt nimmt die Diskussion Fahrt auf und jedenfalls die offensichtlichen Schutzlücken werden hoffentlich bald geschlossen. Leider lässt eine umfassende Reform der Strafvorschriften zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung weiter auf sich warten.

 

Und was tut der Deutsche Juristinnenbund aktiv, um die Forderungen zu verwirklichen?
Wir haben schon in den vergangenen Jahren immer wieder die zügige Umsetzung der 2011 von Deutschland unterzeichneten Istanbul-Konvention gefordert, denn bis Mitte letzten Jahres hatte sich gar nichts getan. Die Koalition war der Auffassung, bei uns gäbe es einen lückenlosen Schutz und die Istanbul-Konvention sei damit bereits in der geltenden Rechtslage umgesetzt. Nach unserem Dafürhalten war das nicht der Fall. Im Mai 2014 haben wir dann ein Grundsatzpapier erarbeitet und damit einen eigenen, umfassenden Entwurf vorgelegt, der den 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs vollkommen neu strukturiert. In diesem Abschnitt ist die Ahndung der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung geregelt. Mit diesem Entwurf, der einen Paradigmenwechsel im Sinne einer vollständigen Umsetzung der Istanbul Konvention zum Ziel hat, haben wir als erste eine umfassende Diskussionsgrundlage geschaffen und dem Bundesjustizministerium vorgestellt, das nachfolgend eine Runde von Expertinnen und Experten eingerichtet hat, die sich derzeit mit einer umfassenden Reform des Sexualstrafrechtes befasst. Leider wird es dazu in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr kommen; das Ministerium hält die verbleibende Zeit für zu kurz, um tatsächlich ein gesamtes neues Konzept des 13. Abschnitts des StGB auf den Weg zu bringen. Aber die ersten Schritte, mit denen die Schutzlücken geschlossen werden sollen, werden gegangen. Wir haben uns deutlich mehr gewünscht und wir hoffen, dass das dann auch noch kommen wird.   

 

Welche Angebote gibt es für Opfer von sexueller Gewalt und welche sollte es Zukunft geben?
Es sind im Zuge der Diskussion um die Opferrechte in den vergangenen Jahren schon viele Dinge geschehen und auch gesetzlich verankert worden, z.B. im Bereich der Nebenklage, der Vernehmung, der Prozessbegleitung. Darüber hinaus denke ich, dass es vor allem wichtig ist, die Frauen – und natürlich auch die Jungen und Männer, die Opfer sexueller Übergriffe werden – zu bestärken, ihre Rechte wahrzunehmen, die Sachverhalte anzuzeigen, auch wenn die Verfahren möglicherweise eingestellt werden oder nicht zu den erhofften Urteilen führen. Es ist ganz wichtig, die Dunkelfelder aufzuhellen und präsent zu machen, wie groß der Missstand – in Deutschland, unter Deutschen und Menschen, die hier leben - wirklich ist. Denn das tritt bei der Diskussion, die nach Köln gekommen ist, nach meinem Eindruck leider völlig in den Hintergrund. Sexuelle und sonstige Gewalt gerade gegenüber Frauen und Kindern ist in Deutschland kein Fremdwort. Nicht umsonst gibt es das Hilfetelefon und jährliche Initiativen zum Thema häusliche Gewalt. Wir reden hier über Probleme, die die deutsche Gesellschaft seit Jahrzehnten hat, ohne ein Zuwanderungsland zu sein und ohne kontinuierlich mit besonderen Zuwanderungsströmen umgehen zu müssen. Es ist ein Problem, was es in dieser Gesellschaft gibt und in anderen sicherlich auch. Und das hat im Grundsatz nichts damit zu tun, dass jetzt Leute aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen.

Die Frauen sollten ermutigt werden, Übergriffe klar zu artikulieren und sich nicht mit dem berühmten Satz „Hab dich mal nicht so“ abspeisen zu lassen. Wie wir im Kontext „Angrabschen“ auch öfter gehört haben, sei es ja eigentlich ein Kompliment, wenn man einer als attraktiv empfundenen  Frau an die Brust oder an das Gesäß fasse. Diese Argumentation stelle man sich einmal umgekehrt vor, wenn Frauen dazu übergingen, unbekannten Männern im öffentlichen Raum Küsse aufzunötigen und ihnen in den Schritt zu greifen. Genauso absurd ist es, Frauen zu suggerieren, damit müssten sie eben leben.  So etwas ist, auch von Seiten des Gesetzgebers, nicht hinnehmbar, und wir sollten die Frauen ermutigen, sich dagegen zu wehren und klare Signale zu fordern. Das ist wichtig.

 

Wie können juristische Verbände die Gesellschaft und insbesondere Frauen ermutigen und unterstützen?
Wir Verbände können das Thema auf der Tagesordnung halten und uns mit dem Entwurf auseinandersetzen, was wir aktuell ja auch tun. Wir können dazu beitragen, das Thema in der Öffentlichkeit zu halten und wir können vor allen Dingen dafür sorgen, dass es dahin rückt, wo es hingehört, nämlich in die Mitte der Gesellschaft. Sexualisierte Übergriffe und Gewalt spiegeln Machtverhältnisse in einer Gesellschaft wider. Es ist wichtig, das zu thematisieren, denn einerseits bietet das Strafrecht zwar viele Möglichkeiten, präventiv und erzieherisch in die Gesellschaft zu wirken und auf begangenes Unrecht zu reagieren. Es ist aber nur die Ultima Ratio, das letzte Mittel, zu dem eine freie, demokratisch verfasste Gesellschaft greift. Wirklich lebenswert ist eine Gesellschaft dann aufgestellt, wenn die soziale Gemeinschaft sich aktiv mit ihren Problemen und mit sozial unerwünschtem Verhalten auseinander setzt und die Dinge nicht nur darum tut oder eben nur darum unterlässt, weil sie von Gesetzes wegen geboten oder verboten sind, sondern aus einer inneren Überzeugung heraus, dass man sich so und nicht anders verhält. Wirkliche Gleichstellung und Gleichberechtigung kann es nur geben, wenn sie aktiv gelebt wird, ohne Gewaltausübung und Machtgefälle von Männern zu Frauen, oder einfach gesagt: wenn sich Männer und Frauen grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen. 


Das Interview führte Lara Röscheisen, Praktikantin in der Presseabteilung der Heinrich-Böll-Stiftung. Es fand nach der Veranstaltung: Männlich, fremd – gefährlich? Von der Legende des schwarzhaarigen Täters