„Wusstet ihr das schon vorher?“

Auf ihrem Blog „Kaiserinnenreich“ erzählte die Berliner Journalistin und Missy-Autorin Mareice Kaiser bis vor Kurzem von ihrem Familienalltag mit zwei Kindern mit und ohne Behinderung. Auch ihr Buch „Alles inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“, das dieser Tage erscheint, handelt davon – von den Kämpfen mit der Krankenkasse, dem Leben im Krankenhaus, aber vor allem von der großen Liebe für ein Kind.

Mareice Kaisers älteste Tochter starb Ende 2015, mit vier Jahren, „Alles inklusive“ erzählt von ihrem gemeinsamen Leben. Seitdem beschäftigt sich Mareice Kaiser auf ihrem Blog auch mit Trauer als Teil des Lebens. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen mit Pränataldiagnostik und Behindertenfeindlichkeit.

„Die eigene Geschichte zu erzählen und die Geschichten von anderen zu hören und anzuerkennen, gehören zusammen. Es sind beides radikale Akte, die die Welt verändern.“ Dieses Zitat der Autorin und Bloggerin Nicole von Horst hast du deinem Buch vorangestellt. Erzählen wir unsere Geschichten im Bezug aufs Kinderkriegen zu wenig?

Mein erster Impuls ist, auf diese Frage mit nein zu antworten. In meiner Bubble als Mutter und „Eltern-Bloggerin“ habe ich das Gefühl, dass es überall Geschichten übers Kinderkriegen und Kinderhaben gibt. Aber ich glaube auch, dass diese Geschichten oft nicht ganz ehrlich erzählt werden. Und vor allem werden die, die mich interessieren, nicht öffentlich erzählt. Das, was weh tut oder gesellschaftliche Übereinkünfte infrage stellt, wird nicht erzählt, es bleibt im Verborgenen, ein Tabu. Geschichten über unerfüllten Kinderwunsch, künstliche Befruchtung oder Totgeburten – oder wenn ein Kind anders ist, als man sich das vorgestellt hat.

In „Alles inklusive“ erzählst du vom Leben mit deinen zwei Töchtern, eine von ihnen hat eine Behinderung – und von den Schwangerschaften, in denen du unterschiedliche Erfahrungen mit Pränataldiagnostik gemacht und unterschiedliche Entscheidungen getroffen hast.

Wenn ich etwas gelernt habe durch das Leben mit meinen Kindern, dann das, dass man manche Dinge nur entscheiden kann, wenn man genau in dieser Situation ist. Meine beiden Schwangerschaften hatten sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Bei meiner ersten Tochter, die mit mehrfacher Behinderung zur Welt kam, haben wir auf Pränataldiagonistik, wie etwa die Nackenfaltenmessung, verzichtet. Wir wussten, dass das Ergebnis keine Konsequenzen für uns haben wird.

Bei deiner zweiten Schwangerschaft hast du dich dann für eine Chorionzottenbiopsie entschieden, ein Eingriff, der dir sehr schwer gefallen ist und auch das Risiko einer Fehlgeburt mit sich bringt. Warum?

Die Ärzt*innen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, wie hoch mein Risiko ist, wieder ein Kind mit einer Chromosomenauffälligkeit zu bekommen. Klar war zu der Zeit nur, dass es bei mir eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Chromosomenauffälligkeit gibt. Wir lebten damals hauptsächlich im Krankenhaus und konnten uns nicht vorstellen, das nochmal mit einem behinderten Kind zu schaffen. Gleichzeitig wollte ich die Schwangerschaft auf keinen Fall abbrechen. Heute frage ich mich, ob die Chorionzottenbiopsie wirklich sein musste. Die Ärzt*innen, die uns betreut haben, waren geschockt, dass ich wieder so schnell schwanger geworden war. Ich hatte das Gefühl, diesen Eingriff machen zu müssen, auch für die Ärzt*innen. Ich konnte nicht neun Monate lang in der Schwebe leben. Das Ergebnis hat mich letztendlich entspannt.

Hat dir Pränataldiagnostik in deiner zweiten Schwangerschaft also Sicherheit gegeben?

Nicht wirklich. Es gibt keine Sicherheit im Leben und es gibt keine Sicherheit bei Schwangerschaften. Es gibt nur das „Guter-Hoffnung-Sein“ – das ist ein schöner Begriff, der heute oft zu kurz kommt. Es kann immer etwas passieren, während der Geburt oder auch danach. Pränataldiagnostik deckt nur einen ganz kleinen Teil ab, das meiste kann man nicht beeinflussen. Es ist schwierig zu akzeptieren, nicht alles in der Hand zu haben – und das Kinderkriegen haben wir nicht in der Hand. Auch nicht mit tausend Nackenfaltenmessungen und Fruchtwasseruntersuchungen. Vor der Geburt meiner ersten Tochter wäre ich nie darauf gekommen, eine Chorionzottenbiopsie zu machen, aber auch nicht darauf, ein behindertes Kind nicht zu wollen. Durch unsere Erfahrungen verstehe ich nun, dass es Situationen gibt, in denen Familien das Gefühl haben, sie schaffen es nicht mehr. Die Frage ist aber: Warum schaffen sie es nicht mehr? Unsere Belastung war nicht, dass unser Kind behindert ist, sondern dass wir im Krankenhaus lebten und Unterstützungsmöglichkeiten erbitten und erkämpfen mussten, anstatt sie selbstverständlich angeboten zu bekommen.

Was wünschst du dir vom medizinischen Betrieb für Eltern mit Kindern mit Behinderung und chronischen Krankheiten?

Für Empathie gibt es keine Ausbildung. Im Medizinbetrieb gibt es dafür viele Machtstrukturen und Hierarchien. Bei unserer großen Tochter  wurde ein Jahr lang die Darmkrankheit Morbus Hirschsprung nicht diagnostiziert. Später sprach ich mit der Ärztin, die für die falsche Diagnose verantwortlich war. Sie meinte: „Frau Kaiser, ganz ehrlich, wenn ich hier in dieser Klinik sage, das Kind hat das nicht, dann gibt es niemanden, der das infrage stellt. Ich bin hier die Chefin.“ Ich habe im Krankenhaus erlebt, dass Eltern viel Verständnis für die Ärzt*innen aufbringen, für 24-Stunden-Dienste und Überarbeitung. Ich wünsche mir dafür, dass Ärzt*innen ab und zu überlegen: Das könnte auch mein Kind sein.

Welche Erfahrungen hast du mit struktureller Diskriminierung gemacht?

Wenn du ein behindertes oder chronisch krankes Kind bekommst, wirst du zur Bittstellerin. Es erfordert Mut, ein behindertes Kind zu bekommen, du musst dich immer rechtfertigen. Du brauchst für dein Kind Dinge, die andere Kinder nicht brauchen – therapeutische Hilfsmittel etwa. Und dann kommt jemand von der Krankenkasse und sagt, nein, das kriegst du nicht oder nur die schlechtere Variante davon. Das macht klein, hält klein und sorgt dafür, dass Eltern – oft sind es die Mütter – behinderter Kinder nicht arbeiten können, weil sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, die Bürokratie, die für Pflege ihres Kindes nötig ist, zu bewerkstelligen. Dahinter steckt ein System, ein kleines System in einem großen System in einer Gesellschaft, die keine Menschen mit Behinderung will und sie als Belastung empfindet. Der normale Vorgang, wenn ich ein Hilfsmittel bei der Krankenkasse beantrage, ist, dass es erst mal abgelehnt wird. Dann muss ich einen Widerspruch schreiben – und es wird doch bewilligt. Das kostet Geld, Zeit, Nerven und Selbstbewusstsein. Die Dinge, die man braucht, sind ja oft genau die, die eine gleichberechtige Teilhabe ermöglichen, etwa ein Therapiestuhl, damit meine Tochter in die Kita gehen kann. Dafür muss man ständig kämpfen.

Verschärft Pränataldiagnostik Behindertenfeindlichkeit und Ableismus?

Die klassische Reaktion auf ein Kind mit Behinderung ist heute: „Wusstet ihr das nicht vorher?“ Das beinhaltet ein „Das hätte ja nicht sein müssen“. Die Nackenfaltenmessung und der sogenannte PraenaTest sorgen dafür, dass selektiert wird. Menschen mit Down-Syndrom werden aussortiert. Wenn es heute um das Down-Syndrom und genetische Auffälligkeiten geht, warum sollte es dann nicht in zwanzig Jahren um Mukoviszidose, in dreißig um Kurzsichtigkeit und in vierzig um blonde Haare gehen? Behindertenfeindlichkeit entsteht vor allem dadurch, dass Inklusion nicht gelebt wird. Sie entsteht dadurch, dass man die Menschen nicht kennt, und je weniger Menschen mit Behinderung es gibt, desto weniger haben Menschen ohne Behinderung die Chance, mit Menschen mit Behinderung zu leben.

Babys machen. Sex ist schon lange keine Voraussetzung mehr, um Kinder zu kriegen. Für wen gilt eigentlich das proklamierte Recht auf Fortpflanzung? Werden wir befreit oder drohen neue Zwänge? Und wie begegnen wir den feministischen Herausforderungen der globalen Fortpflanzungsindustrie?

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Inklusion und Feminismus gehören für dich zusammen. Werden Behinderten- und Frauenrechte derzeit gegeneinander ausgespielt? Etwa, wenn es um das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch geht?

Jede Frau muss selbst entscheiden dürfen, ob sie eine Schwangerschaft abbricht. Trotzdem ist ein selektiver Abbruch ein Problem. Ich glaube aber, dass es hier vor allem um Aufklärung geht. Eltern entscheiden sich gegen ein Kind mit Behinderung, weil sie keine Menschen mit Behinderung kennen. Sie wissen nicht, wie das Leben mit einem behinderten Kind aussehen kann. Mal abgesehen davon, dass Eltern vorher nie wissen können, wie das Leben mit einem Kind aussehen wird – egal ob mit oder ohne Behinderung. In der Pränataldiagnostik kommt die Beratung oft zu kurz. Viele gehen in der Schwangerschaft zur Gynäkolog*in, machen alle Untersuchungen mit, wissen aber nicht, was die Konsequenzen bei Auffälligkeiten sind und welche Möglichkeiten es gibt. Dadurch, dass die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden, fühlen sich diese Untersuchungen für viele Eltern an wie eine Pflicht, die „gute Eltern“ einfach zu machen haben.

Der Erwartungsdruck, der auf Eltern – vor allem auf Müttern – lastet, und die Angst, nicht der Norm zu entsprechen, ist groß.

Wenn irgendetwas mit dem Kind nicht stimmt, dann ist in unserer Gesellschaft die Mutter schuld. Dabei wäre es für uns alle gut, wenn wir nicht den perfekten Leistungsansprüchen unserer Gesellschaft genügen müssten – und auch unsere Kinder nicht. Wir profitieren alle davon durchzuatmen und zu sagen: „Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt.“ Aber wenn du ein Kind bekommst, sagen alle: „Hauptsache gesund.“ Wie viel schöner wäre das Leben, wenn es nicht darum ginge, wie viel wir leisten können.