Wo Medizin und Strafrecht sich berühren

Der ärztliche Blick auf die Beratungspflicht nach § 218 Strafgesetzbuch.

Der Schwangerschaftsabbruch ist ein medizinischer Eingriff und in Deutschland zugleich ein Straftatbestand. Laut § 218 Strafgesetzbuch (StGB) muss die ungewollt Schwangere vor dem Eingriff an einer Pflichtberatung teilnehmen, um straffrei zu bleiben. Wie denken Mediziner*innen darüber? Ergebnisse einer qualitativen Studie.

Stethoscope and laptop Computer with hands typing something.

Für die einen ist er Mord, für die anderen der Inbegriff des Grundrechts auf körperliche Selbstbestimmung: Kein zweiter medizinischer Eingriff wird so kontrovers diskutiert wie der Schwangerschaftsabbruch. Entsprechend auseinander gehen die Meinungen über eine sinnvolle rechtliche Regelung. Die einen würden ihn am liebsten ganz verbieten und befürworten daher seine strafrechtliche Einbettung in Form der §§ 218 und 219 StGB. Andere wünschen sich eine Regelung, die den Fokus auf die Gesundheit und Integrität der schwangeren Person legt und plädieren in diesem Sinne für eine Entkriminalisierung.

Kontroverse Inhalte, die uns als Gesellschaft beschäftigen, beeinflussen auch persönliche Überzeugungen von Ärzt*innen und damit ärztliches Handeln [1]. Die letzte große gesellschaftliche Debatte zum Schwangerschaftsabbruch fand im Deutschland der 90er Jahre statt. Im Zuge der Wiedervereinigung prallte die liberale Fristenlösung der DDR auf das deutlich restriktivere Notlagenindikationsmodell der BRD. Erbitterte gesellschaftliche und politische Kämpfe mündeten schließlich in einem reformierten § 218 StGB: So müssen ungewollt Schwangere seit 1993 im Falle der „Beratungsregelung“, die bei 96,2 % der Abbrüche in Deutschland zum Tragen kommt, an einer sogenannten „Schwangerschaftskonfliktberatung“ in einer ausgewiesenen Beratungsstelle teilnehmen und eine dreitägige Wartefrist einhalten. Dann ist der Eingriff zwar immer noch rechtswidrig, es wird jedoch von einer Geld- oder Gefängnisstrafe abgesehen. Die Pflichtberatung soll laut Gesetzgeber den „Schutz des ungeborenen Lebens“ gewährleisten; in diesem Sinne müsse der schwangeren Person in der Beratung vermittelt werden, dass „das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben“ habe und dass ein Schwangerschaftsabbruch nur in „Ausnahmesituationen“ in Betracht komme, „wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt“, wie es in § 219 StGB, Abs. 1, Satz 3 heißt. Der damals gefundene Kompromiss befriedete die gesellschaftliche Debatte vorerst – und auch in der wissenschaftlichen Welt kam es zu einem langjährigen Forschungsstillstand. Die letzte Studie über Einstellungen von Mediziner*innen zum Schwangerschaftsabbruch stammt aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung. [2]

Nun beschäftigt das Thema seit 2017 erneut unsere Gesellschaft, Politik und Gesetzgebung: Der Fall der Allgemeinärztin Kristina Hänel brachte die Diskussion um geeignete Abtreibungsgesetze zurück in eine breite Öffentlichkeit. Hänel war 2017 nach § 219a StGB (die sogenannte „Werbeverbotsregelung“) zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden, da sie auf ihrer Praxisseite das Wort „Schwangerschaftsabbruch“ erwähnt hatte. Die Ansichten heutiger Mediziner*innen zum Thema Schwangerschaftsabbruch sind umso interessanter vor dem Hintergrund, dass in Deutschland seit einigen Jahren immer weniger Gynäkolog*innen bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.[3] Dies führt in einigen Regionen Deutschlands bereits zu Versorgungslücken.[4]

Um im Licht der neu entbrannten gesellschaftlichen Debatte und der aktuellen Versorgungsengpässe mehr über die Denkmuster von Mediziner*innen zu erfahren, gründete sich 2017 – in Kooperation mit dem Gunda-Werner-Institut für Feminismus- und Geschlechterdemokratie – das Forschungsprojekt MeGySa (Medizinstudierende und Gynäkolog*innen zum Schwangerschaftsabbruch).[5] An den semistrukturierten, durchschnittlich 49-minütigen Interviews nahmen 14 Medizinstudierende verschiedener Semester der Charité Berlin sowie vier Berliner Ärztinnen teil, von denen zwei selbst Abbrüche durchführen. Eine der Forschungsfragen war, welche Perspektive Mediziner*innen auf die Pflichtberatung nach § 218 und § 219 StGB haben. Was wissen die Befragten über die Pflichtberatung, wie bewerten sie diese, und wie sind ihre Aussagen medizinisch und politisch einzuordnen?

Zwischen Tabu, Passivität und Pragmatismus: Mediziner*innen zum Schwangerschaftsabbruch

Dieser Artikel ist eine aktualisierte Referenz zu "Zwischen Tabu, Passivität und Pragmatismus: Mediziner*innen zum Schwangerschaftsabbruch", welcher eine generelle Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt MeGySa bietet. Die hier vorliegende Version "Wo Medizin und Strafrecht sich berühren" nimmt ausführlicher die Einstellung von Mediziner*innen zur Pflichtberatung in den Blick.


Blackbox Beratung

Auffällig war, dass viele Medizinstudierende und selbst Ärztinnen, die Abbrüche durchführen, keine Vorstellung von Ablauf und Inhalt der Beratung hatten.

„Ich weiß nicht genau, wie gut das geregelt ist, wer die macht und wo man die macht. (…) Ich kann mir die Beratung nicht so ganz vorstellen.“

  • Medizinstudent, 5. Semester

„Wobei ich noch nie an einem Beratungsgespräch teilgenommen habe, ich weiß nicht, wie die funktionieren.“

  • Gynäkologin, die selbst Abbrüche durchführt

Die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch wurden zudem von einigen Mediziner*innen als verwirrend wahrgenommen oder falsch wiedergegeben. Viele gaben an, sich bezüglich der Thematik unsicher zu fühlen.

„Also ich weiß, ich habe das schon 50 Mal durchgelesen, aber ich kann das auch tatsächlich nicht rekapitulieren.“

  • Gynäkologin, die selbst keine Abbrüche durchführt, zur gesetzlichen Regelung

„Also ich glaube, (…) im Gesetzestext steht, dass es tatsächlich illegal ist. Und dann gibt es lauter Unterpunkte, wenn ich das noch richtig im Kopf habe.“

  • Medizinstudentin, 1. Semester

 „Ich habe grad vor kurzem diesen Paragraphen gelesen. Dass im Grundgesetz drin steht, dass Abtreibung Mord ist. “

  • Medizinstudentin, Semester

Überwiegend positive Bewertung der Pflichtberatung

Im Laufe der Interviews wurden die Mediziner*innen über die strafrechtlich fixierte Beratungspflicht nach § 218 StGB aufgeklärt und gefragt, welche Perspektive sie auf diese hätten. Die meisten Befragten äußerten einen Wunsch nach ausreichenden Beratungsangeboten. Der verpflichtende Charakter der Beratung wurde dabei aus unterschiedlichen Gründen befürwortet.

Zum einen gingen viele Interviewpartner*innen davon aus, dass Schwangerschaftsabbrüche schwerwiegende psychische (Traumatisierung, Depression oder Reue) oder physische Folgen (Unfruchtbarkeit, spätere Fehl- oder Frühgeburten) hätten. Ausgehend von dieser Annahme waren manche Mediziner*innen der Ansicht, dass über diese schwerwiegenden Konsequenzen unbedingt aufgeklärt werden müsse, um leichtfertige und übereilte Entscheidungen zu vermeiden. Verbunden damit war die Annahme, dass die Erwähnung dieser Konsequenzen die ungewollt Schwangere zum Umdenken bewegen könne.

„Und ich glaube schon, (…) dass vielen dann vielleicht auch nochmal andere Gedanken dazu kommen, wenn sie das halt hören. Beispielsweise, dass (…) man dann im schlimmsten Fall nicht nochmal ein Kind bekommen könnte. Weil (…) so ein Schwangerschaftsabbruch halt Risiken birgt. Oder halt, dass {es} nachher in vielen Fällen halt Depressionen gibt bei Frauen sozusagen. Und dass es viele auch bereuen im Nachhinein. Von daher finde ich das schon gut, dass es diese Verpflichtung gibt.“

  • Medizinstudent, 7. Semester

„Ja, auf jeden Fall. (…) Als Bedenken ganz klar, dass man viel mehr dazu neigt und, aus Kurzschlusshandlung meinetwegen auch, so einen Eingriff machen lässt und das dann am Ende bereut und dann vielleicht auch so psychologisch sein Leben lang nicht mehr davon wegkommt. (…) Das könnte wahrscheinlich vermieden werden, hoffe ich, dadurch.“

  • Medizinstudentin, 1. Semester, auf die Frage nach Bedenken, falls die Beratungspflicht abgeschafft würde

Zum anderen wurde die Beratungspflicht von vielen Befragten weder als Hürde noch als Belastung für ungewollt Schwangere wahrgenommen. Für diese Mediziner*innen überwogen klar die positiven Aspekte der Pflichtberatung: Sie sei entlastend für die Ärzt*innen, unterstütze die ungewollt Schwangeren in ihrer Entscheidungsfindung und biete ihnen eine zusätzliche Reflexionsmöglichkeit. Die Verpflichtung zur Beratung bewerteten sie in diesem Sinne positiv. Dabei waren dieselben Befragten, insbesondere die Ärzt*innen, meist der Ansicht, dass die Beratung keinen großen Einfluss auf die Entscheidung der Schwangeren habe.

Gynäkologin: „Ich glaube nicht, dass Schwangerschaftsabbrüche häufiger würden, wenn dieser Weg sozusagen wegfallen würde. (…)“

Interviewerin: „Also müsste die Beratung nicht obligatorisch, sondern könnte auch freiwillig sein? Oder finden Sie es gut, dass sie obligatorisch ist?“

Gynäkologin: „Also, ich glaube, es ist gut, weil es bietet nochmal die Möglichkeit, halt doch irgendwie nochmal drüber nachzudenken, oder (…) nochmal mit einer anderen Person drüber zu sprechen.“

  • Gynäkologin, die selbst Abbrüche durchführt, auf die Frage, was sich durch ein Wegfallen der Beratungspflicht ändern würde

Ich glaube, ehrlich gesagt nicht, dass sich so viel ändern würde. Weil ich glaube, dass diese Pflichtberatung und diese Drei-Tage-Bedenkzeit kein Hindernis darstellen. Jemand, der diesen Schwangerschaftsabbruch wünscht, würde sich (…) nicht davon abhalten lassen, dass er (…) diese Beratung wahrnehmen muss. Ich sehe diese Beratung auch eher als ein Hilfsangebot, nicht als eine Pflicht, die ich über mich ergehen lassen muss.“

  • Medizinstudentin, 2. Semester, auf dieselbe Frage 

„Für mich ist es halt quasi eher wie so ein Empowerment und nicht unbedingt, mir wird da jetzt irgendwie das Recht genommen, über meinen Körper zu entscheiden.“

  • Medizinstudentin, 6. Semester

„Finde ich absolut sinnvoll Optionen aufzuzählen und sich zu versichern, dass da eine gewisse Reflexion stattfindet bei der Person.“

  • Medizinstudent, 7. Semester

„Ich finde diese Beratung gut, ja, also da haben wir auch eine sehr gute Beratungsstelle, die uns ganz viel Arbeit abnimmt. Und ich glaube, es würde sich nicht viel ändern, also ich finde, die Beratung (…) sollte eigentlich bleiben. (…) Ich finde die Pflichtberatung gut.“

  • Gynäkologin, die selbst keine Abbrüche durchführt

Nur wenige Studierende sahen die Verpflichtung zu einer Beratung kritisch:

Es sagen halt auch viele Frauenärzte, die das machen: Wenn eine Frau sich entscheidet (…) {die} Schwangerschaft tatsächlich abzubrechen, dann hat sie die Entscheidung eigentlich schon getroffen. Und diese Beratung soll ja (…) dazu dienen, das ungeborene Leben zu schützen. Also das verstehe ich halt auch immer nicht, {sie} soll neutral sein, nicht bewerten. Aber trotzdem versuchen, dann die Frau davon zu überzeugen, das Kind auszutragen. (…) also das ist für mich ein Paradox. Es kann nicht sein, dass ich neutral bin, aber trotzdem versuche, die Frau von irgendwas zu überzeugen. Ich finde man kann das anbieten. Aber ich finde auch nicht, dass das obligatorisch sein muss.“

  • Medizinstudentin, 10. Semester

„Kein Hindernis“?

Die meisten befragten Mediziner*innen befürworteten die Beratungspflicht. Dafür gibt es meiner Meinung nach drei Gründe. Erstens betrachteten viele Mediziner*innen die Pflichtberatung weder als Hürde noch als Belastung, sondern als zumutbar und pauschal hilfreich für ungewollt Schwangere. Zweitens fand die Beratungspflicht vor dem Hintergrund eines ärztlichen Paternalismus Zustimmung. Drittens stand für die meisten Befragten die Gesundheit der ungewollt Schwangeren zwar im Vordergrund, jedoch führten medizinische Fehlinformationen zu der Annahme, dass eine obligatorische Beratung für die Gesundheit der ungewollt Schwangeren notwendig sei.

Eine der befragten Studentinnen hatte selbst schon einen Schwangerschaftsabbruch nach „Beratungsregelung“ durchführen lassen. Als Betroffene ist ihre Perspektive interessant für die Frage, ob die Pflichtberatung tatsächlich pauschal nicht belastend sei. Die Studentin kommentierte ihre Bedenken vor dem Beratungsgespräch wie folgt:

Ja, also ich dachte mir, erst mal gucken, was sie mich fragt, ob sie sehr nachfragt, wieso jetzt nicht und warum nicht so und ähm und hab mir auch so Sätze (…) vorhingelegt, wie man da dann reagieren würde.“

Diese Befürchtung, in einem erzwungenen Gespräch mit einer unbekannten dritten Person unter einem Rechtfertigungsdruck zu stehen, deckt sich mit Studienergebnissen des Familienplanungszentrums Hamburg und mit den Erfahrungen von Berater*innen von pro familia.[6] Ein großer Teil der ungewollt Schwangeren zieht zudem Gespräche mit vertrauten Personen vor und/oder trifft die Entscheidung zu einem Abbruch zügig und ohne Ambivalenz.[7] Bei diesen bereits entschlossenen Personen geht die Beratungspflicht mit einer unnötigen zeitlichen Verzögerung einher. Der Schwangerschaftsabbruch ist zwar in allen Schwangerschaftsstadien ein sehr sicherer Eingriff. Am sichersten, risikoärmsten und schonendsten ist er jedoch in einer möglichst frühen Schwangerschaftswoche.[8] Auch kann die zeitliche Verzögerung in manchen Fällen dazu führen, dass kein medikamentöser, sondern nur noch ein chirurgischer Schwangerschaftsabbruch möglich ist. Ein erzwungener zeitlicher Aufschub kann zudem psychisch belastend für die Betroffenen sein.

Aus all diesen Gründen fordert pro familia als erfahrenste Beratungsstelle Deutschlands die Abschaffung der Beratungspflicht bei gleichzeitiger Sicherstellung eines flächendeckenden Beratungsangebotes – damit ungewollt Schwangere frei von Bevormundung entscheiden können, wessen Meinung sie hören und ob sie eine professionelle Beratung in Anspruch nehmen möchten.[9] Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO)[10] und die Frauenrechtskonvention der United Nations (CEDAW)[11] fordern die Mitgliedstaaten auf, Beratungen ausschließlich auf freiwilliger Basis anzubieten, da ein Beratungszwang eine zusätzliche Hürde darstelle, medizinische Abläufe verzögern könne und medizinisch nicht indiziert sei.

Im Schatten des ärztlichen Paternalismus

Medizinstudierende und Ärzt*innen äußerten in der MeGySa-Studie die Ansicht, als Arzt oder Ärztin könne man sich mit der Beratung „versichern, dass da eine gewisse Reflexion stattfindet“ und keine „Kurzschlusshandlung“ begangen werde. Dies offenbart eine paternalistische ärztliche Herangehensweise, die die Reproduktionsentscheidungen ungewollt Schwangerer als unbedacht oder überstürzt kategorisiert. Aus dem restlichen Interviewmaterial der MeGySa-Studie ergibt sich die Annahme, dass für viele der befragten Mediziner*innen nicht alle ungewollt Schwangeren gleichermaßen einer Pflichtberatung bedürfen. Frauen, die Abbrüche vornehmen lassen, wurden mehrfach in zwei Gruppen eingeteilt: eine Gruppe aus älteren, gebildeten, finanziell unabhängigen Frauen, die meist schon Kinder haben, denen eine zweite Gruppe aus jungen, naiven, bildungsfernen und sozial schwachen Frauen ohne eigene Kinder gegenübergestellt wurde. So bestätigt folgendes Zitat einer Gynäkologin, die selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführt, inwiefern solche Vorurteile in der medizinischen Welt kursieren.

Gynäkologin: „Es gibt auch Witze unter uns Kollegen (lacht) über die typische Frau, die zum Schwangerschaftsabbruch kommt. (…)“

Interviewerin: „Wie ist der Witz?“

Gynäkologin: „Naja, das sind halt häufig so Schnittchen, so solariumgebräunt, Fingernägel gemacht, keinen richtigen Job, oder keine… schwierig, ne. (…) Ja, ist schon mit ´ner gewissen Naivität verbunden. Häufig, aber nicht immer, und das wechselt auch, wir haben auch viele Frauen, die halt schon zwei Kinder haben, und denen das halt nochmal passiert ist.”

Ein Medizinstudent antwortete auf die Frage nach möglichen Abtreibungsgründen: “Ja und (…) wenn jetzt Frauen sozusagen besser gebildet sind, machen sie sich vielleicht auch noch mehr Gedanken über das `Abbruch ja, nein?´, als vielleicht jemand, der einfach nur sagt `Oh ich bin schwanger, das muss jetzt weg. So das passt mir nicht´.“ Der ersten Gruppe scheint ein größeres Verantwortungsbewusstsein und eine größere Autonomie bei Reproduktionsentscheidungen zugeschrieben zu werden, vor allem dann, wenn bereits Kinder geboren wurden. Bei ihnen wird der Schwangerschaftsabbruch als einmaliger „Ausrutscher” betrachtet und eher akzeptiert. In der anderen Gruppe wird der Abbruch hingegen als Produkt von Verantwortungslosigkeit und Unbedarftheit gewertet.

Verfehlte Ziele und kursierende Mythen

Erfreulicherweise stand für die meisten befragten Mediziner*innen die Gesundheit der Schwangeren im Vordergrund. Die meisten äußerten einen Wunsch nach ausreichenden Unterstützungsangeboten und genügend Zeit für eine wertschätzende und hilfreiche Schwangerenberatung, und befürworteten vor diesem Hintergrund eine Pflichtberatung. Der Gesetzgeber ordnet die Beratung hingegen zum Schutze des Embryos in § 219 Abs. 1 S. 1 StGB ausdrücklich an. Beachtet man die aktuelle Studienlage, Empfehlungen internationaler Organisationen wie WHO und UN sowie Erfahrungsberichte von ungewollt Schwangeren, so wäre für die Gesundheit der Betroffenen mit ausreichend vergüteten ärztlichen Beratungsgesprächen und einem flächendeckenden Beratungsangebot sicherlich mehr getan als mit einer verpflichtenden Beratung zum Schutze des Embryos.[12] Zudem geht, wie oben bereits erwähnt, ein großer Teil der ungewollt Schwangeren bereits entschieden in das Beratungsgespräch. Die Pflichtberatung scheint vor diesem Hintergrund kein geeignetes Mittel, um den Embryonenschutz sicherzustellen.

Viele Mediziner*innen äußerten die Annahme, der Schwangerschaftsabbruch sei ein risikoreicher Eingriff, vor dessen Folgen die Schwangere durch die Pflichtberatung bewahrt werden könne. Dies lässt sich durch Studienergebnisse jedoch nicht verifizieren. Abtreibungen werden im Allgemeinen gut verarbeitet und psychische Langzeitfolgen sind sehr selten.[13] Das Austragen einer ungewollten Schwangerschaft führt in den ersten Monaten zu einer größeren psychischen Belastung als ein Schwangerschaftsabbruch.[14] Der Zustand einer ungewollten Schwangerschaft kann zu vorübergehender Trauer oder Verunsicherung führen; die psychische Belastung ist im Allgemeinen vor dem Schwangerschaftsabbruch am höchsten.[15] Vorangehende psychische Erkrankungen und stigmatisierende Rahmenbedingungen sind Risikofaktoren für die psychische Gesundheit nach dem Abbruch.[16] Das vorwiegende und langfristige Gefühl nach einem Abbruch ist bei den meisten Erleichterung.[17] 95% der Betroffenen bereuen den Abbruch auch drei Jahre später nicht.[18]

Auch die Annahme, dass Abtreibungen zu physischen Problemen wie späteren Fehl- oder Frühgeburten oder Unfruchtbarkeit führten, ist falsch. Der unter legalen Bedingungen, ohne gesetzesbedingte Verzögerungen und unter Anwendung moderner Methoden durchgeführte Schwangerschaftsabbruch ist ein sicherer, komplikationsarmer Eingriff. Das Austragen der Schwangerschaft birgt ein vielfach höheres gesundheitliches Risiko. Die Gefahr, durch den Abbruch unfruchtbar zu werden, ist extrem gering. Eine Assoziation zwischen Abtreibungen und späteren Frühgeburten konnte nicht mehr beobachtet werden.[19]

Strafrechtliche Zementierung von Vorurteilen

Leider reproduziert das deutsche Strafrecht das Klischee des risikoreichen und „gefährlichen“ Schwangerschaftsabbruches. So weist § 218c StGB (Ärztliche Pflichtverletzung bei einem Schwangerschaftsabbruch“)Ärzt*innen explizit darauf hin, dass sie sich strafbar machen, wenn sie die ungewollt schwangere Person nicht über Folgen, Risiken, mögliche physische und psychische Auswirkungen“ des Abbruches beraten. Ohne Zweifel ist eine ausführliche ärztliche Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen vor jedem medizinischen Eingriff unabdingbar. Jedoch ist diese generelle Aufklärungspflicht in § 8 der ärztlichen Berufsordnung und in den §§ 630a ff. BGB bereits unmissverständlich festgehalten. Eine zusätzliche Erwähnung im deutschen Strafrecht unter Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen wirkt zudem einschüchternd auf Ärzt*innen. Hinzu kommt die Bedrohung durch § 219a StGB, der es Abtreibungsgegner*innen seit Jahren ermöglicht, Strafanzeigen gegen Ärzt*innen zu führen, die sachlich über Schwangerschaftsabbrüche informieren. 

Die Rolle der Universitäten

Wie wird nun in der ärztlichen Berufsordnung und in der medizinischen Ausbildung über den Schwangerschaftsabbruch verhandelt? Eine sachliche und gesundheitsbezogene Thematisierung würde man hier am ehesten verorten.

In der ärztlichen Berufsordnung findet sich ein eigener Paragraph zum Schwangerschaftsabbruch. Dieser heißt nicht etwa „Reproduktive Gesundheit“ oder „Unterstützung von ungewollt Schwangeren“, sondern „Erhaltung des ungeborenen Lebens“. Dabei wird der unsaubere Terminus „ungeborenes Leben“ verwendet, anstatt der in der Medizin gebräuchliche Begriff „Embryo“ oder, ab der 9. Woche nach Befruchtung, „Fötus“. Absatz 1 lautet: „Ärztinnen und Ärzte sind grundsätzlich verpflichtet, das ungeborene Leben zu erhalten.“ Ähnlich wie das deutsche Strafrecht scheint die ärztliche Berufsordnung Ärzt*innen vor allem im Dienste des Embryonenschutzes zu stehen.

Was die medizinische Ausbildung betrifft, wird der Schwangerschaftsabbruch – einer der häufigsten gynäkologischen Eingriffe – an vielen Universitäten kaum oder gar nicht thematisiert.[20] Die Charité Berlin, die größte Universitätsklinik Europas, lehrte Medizinstudierende bisher nur die Rechtslage zu Abtreibungen am Rande eines Pränataldiagnostik-Seminares. Die Studierenden sollen neben den rechtlichen Aspekten „die durch einen Schwangerschaftsabbruch entstehende psychische Belastung“ reflektieren lernen, wie es in der Beschreibung zu diesem Seminar heißt. Auch im Medizinstudium scheint der Fokus also auf den potentiellen Schaden gelegt zu werden, den ein Schwangerschaftsabbruch bedeuten kann. Da medizinisches Personal den Eingriff aus Gewissensgründen verweigern darf, ist er zudem kein Pflichtbestandteil der gynäkologischen Weiterbildung. Immer weniger Kliniken führen Abbrüche durch, weshalb der ärztliche Nachwuchs immer seltener mit der Thematik in Berührung kommt.[21]

Auf die Frage, was sie daran hindern könnte, als Ärztin Abbrüche durchzuführen, antwortete eine Studentin, die an der MeGySa-Studie teilnahm: „Dass es mir nicht beigebracht wird, könnte mich daran hindern. Dass ich mir dann nicht sicher genug darin bin und dass ich nicht weiß, wie man es macht.“ Eine andere Studentin antwortete auf dieselbe Frage:„Also wenn ich das jetzt entscheiden müsste, würde ich’s nicht machen, von dem was ich weiß und so weiter. Weil ich halt allein die Spritze in das Herz von so einem Kind einfach nicht setzen könnte.“ In den Interviews ging es um frühe Abbrüche vor der 12. Schwangerschaftswoche. Diese Studentin hat hingegen ein Bild vor Augen, welches eher mit dem sehr seltenen Fetozid, einem Schwangerschaftsabbruch ab der 24. Woche, in Verbindung gebracht werden kann.

Für eine aufgeklärte Ausbildung

Auffällig war, dass die Befragten der MeGySa-Studie insgesamt wenig über Ablauf, Zielsetzung und Nutzen der Pflichtberatung, sowie über Ablauf und psychische und physische Folgen des Schwangerschaftsabbruches zu wissen schienen. Viele der befragten Medizinstudierenden empfanden die Lehrinhalte zum Schwangerschaftsabbruch zudem als unzureichend und wünschten sich mehr sachliche Informationen zu rechtlichen und medizinischen Aspekten, aber auch die Möglichkeit, in kleinen Gruppen über das Thema zu diskutieren und eigene Gefühle zu reflektieren.[22] Leider kommen die deutschen medizinischen Fakultäten ihrer Aufgabe der Vermittlung evidenzbasierten Wissens und der ausreichenden Auseinandersetzung mit strafrechtlich komplexen Themen wie dem Schwangerschaftsabbruch nicht ausreichend nach. Der Schwangerschaftsabbruch sollte dringend verpflichtend in der medizinischen Ausbildung verankert und als ein wichtiger Teil von Frauengesundheit gelehrt werden – nicht nur, weil es die Häufigkeit des Eingriffes gebietet, sondern auch, um den innerhalb der Medizin kursierenden Mythen und der aktuellen Versorgungskrise, die durch den Rückgang abbruchsbereiter Ärzt*innen mitbedingt ist, entgegenzuwirken.


Weiterführende Literatur

  1. Alicia Baier / Anna-Lisa Behnke / Philip Schäfer, Zwischen Tabu, Passivität und Pragmatismus: Mediziner*innen zum Schwangerschaftsabbruch, 01.19, https://bit.ly/2pCh2eh Stand: 23.08.19.
  2. Alicia Baier, Schwangerschaftsabbruch – das Tabu in der medizinischen Ausbildung, pro familia magazin 02/2019, 20-21. https://www.uni-giessen.de/fbz/zentren/ggs/prina/mitteilungen/profamilia
  3. Alicia Baier, Die Entmündigung der Frau, taz am 15.06.19. https://taz.de/Patriarchale-Rechtslage-bei-Abtreibungen/!5600381/

Dr. Alicia Baier

Ärztin und Gründerin von „Medical Students for Choice Berlin“ und Initiatorin des Vereins „Doctors for Choice Germany“. Zurzeit lernt Alicia Baier die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen bei Kristina Hänel, einer nach § 219a StGB angeklagten Allgemeinärztin.

Quellenangaben

[1] Christine Czygan / Ines Thonke, Schwangerschaftsabbruch – Ärztliches Handeln in Forschung und Praxis, in: Ulrike Busch / Daphne Hahn, 2014, Abtreibung, 279.

[2] Ulrike Busch, Arzt und Schwangerschaftsabbruch – Ergebnisse einer Befragung, in: Uwe Körner, Ethik der menschlichen Fortpflanzung, 1992, 155-166.

[3] ARD Kontraste, Immer weniger Ärzte bieten Schwangerschaftsabbrüche an, 23.08.18, Stand: 19.07.19.

[4] Versorgung mit Ärzt*innen – Rückmeldungen aus den Landesverbänden, pro familia Magazin 02/2019, 5-10.

[5] Baier / Behnke / Schäfer, Zwischen Tabu, Passivität und Pragmatismus: Mediziner*innen zum Schwangerschaftsabbruch, 18.01.19, https://bit.ly/2pCh2eh

[6] Marina Knopf / Elfie Mayer / Elsbeth Meyer, Traurig und befreit zugleich: Psychische Folgen des Schwangerschaftsabbruches, 1995, 52.

[7] Pro familia, Standpunkt Schwangerschaftsabbruch, 2001, Stand: 21.08.19.

[8] Weltgesundheitsorganisation (WHO), Safe abortion: technical and policy guidance for health systems, 2012, Stand: 21.08.19.

[9] Pro familia (Fn 7).

[10] WHO (Fn 8).

[11] United Nations Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW), Concluding observations on the combined seventh and eighth periodic reports of Germany, Paragraph 38b, 2017, Stand: 21.08.19.

[12] Ushma Upadhyay et al., Evaluating the impact of a mandatory pre-abortion ultrasound viewing law: a mixed methods study, 2017, PLoS ONE, 12 (7); WHO (Fn 8); CEDAW (Fn 11).

[13] Anneli Kero et al., Wellbeing and mental growth: long-term effects of legal abortion, 2004, Social Science and Medicine, 58 (12), 2559–2569.

[14] American Psychological Association (APA), Task Force on Mental Health and Abortion, Report of the APA Task Force on Mental Health and Abortion, 2008.

[15] Gabriella Zolese et al., The Psychological Complications of Therapeutic Abortion, 1992, British Journal of Psychiatry, 160 (6), 742-749.

[16] Julia R. Steinberg, Later Abortions and Mental Health: Psychological Experiences of Women Having Later Abortions-A Critical Review of Research, 2011, Women’s Health Issues, 21 (3), 44–48.

[17] Brenda Major et al., Psychological responses of women after first-trimester abortion, 2000, Archives of General Psychiatry, 57 (8), 777–784.

[18] Corinne H Rocca et al., Decision Rightness and Emotional Responses to Abortion in the United States: A Longitudinal Study, 2015, PLOS ONE, 10 (7).

[19] Clare Oliver-Williams C et al., Changes in Association between Previous Therapeutic Abortion and Preterm Birth in Scotland, 1980 to 2008: A Historical Cohort Study, 2013, PLoS Med, 10 (7).

[20] Alicia Baier, Schwangerschaftsabbruch – das Tabu in der medizinischen Ausbildung, pro familia magazin 02/2019, 20-21.

[21] ARD Kontraste (Fn. 3)

[22] Baier / Behnke / Schäfer (Fn. 5)

 

Dieser Artikel erschien zuerst auf forum-recht-online.de. in der Ausgabe 04/19.