Es kommt immer als Schock

Kommentar

Binnen weniger Tage erreichten uns die Nachrichten vom Tod des Nahost-Journalisten Christoph Sydow und der ägyptischen Aktivistin Sarah Higazy. Unsere Autorin apelliert an uns alle, aufeinander und auf uns selbst Acht zu geben.

Es kommt immer als Schock: ein Mensch, den man kennt, oder vielleicht auch nur aus der Ferne bewundert, verstirbt. Nicht wegen hohen Alters, eines Unfalls oder einer Krankheit, sondern weil dieser Mensch das eigene Leben beenden wollte. Das ist immer noch ein Tabu, zu groß ist das Unverständnis über den Akt. Vielleicht sind es auch die Schuld und die Frage „Was hätten wir tun sollen?“, die es uns so schwer macht, sich mit dem Tod dieses Menschen auseinander zu setzen.

Christoph Sydow war gemocht und respektiert, eine wichtige und reflektierte Stimme im deutschen Journalismus zum Nahen Osten. Mehr als das noch war er aktiv für unterschiedliche Projekte, die es anderen ermöglichten, ebenfalls in diesen Bereich einzusteigen. Mit dem Blog Alsharq starteten er und zwei Freunde ein Projekt, das mittlerweile seit 15 Jahre vielen jungen Menschen eine Plattform bietet. Später ging er zum Spiegel und schrieb zahlreiche wichtige Analysen zur Region. Sein Tod hat uns alle betroffen gemacht.

Nur ein paar Tage nach der tragischen Nachricht über Christoph kommt der nächste Schock: Sarah Higazy, ägyptische LGBT-Aktivistin, nimmt sich im Exil in Kanada das Leben. Sie wurde 2017 verhaftet, nachdem sie auf einem Konzert der libanesischen Band Mashrou Leila mit einer Regenbogenflagge fotografiert wurde. Im Gefängnis wurde sie gefoltert. Nach drei Monaten Haft wurde sie entlassen und erhielt im Jahr 2018 Asyl in Kanada.

Beide Fälle gehen mir nah in diesen Tagen. Christoph war eine wichtige Stimme und ein umsichtiger Beobachter der Region. Sarahs Geschichte macht mir nochmal deutlich, dass Menschen, die fliehen, ihre Traumata mit sich nehmen und stark unter dem Erlebten leiden. Beide haben selbstverständlich unterschiedliche Lebenswege und ich will sie nicht mit einander vergleichen. Vielmehr will ich an uns alle appellieren, wir müssen aufeinander und auf uns selbst aufpassen.

Die Gewalt, das Unrecht und das Leid, das Menschen erleben oder das wir als Zeugen aus zweiter Hand mit ansehen, hinterlässt Spuren. Meine Arbeit mit Familien von Gefangenen und Verschwundenen Menschen in Syrien hat in mir tiefe Spuren hinterlassen. Das Leid der Menschen und die Hilflosigkeit, die ich mit ihnen erlebte, erschüttert mich in meinen Grundfesten. Friedrich Nietzsche war es, der so trefflich schrieb: “Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Es ist aber eben nicht nur der Abgrund, der in uns blickt, sondern auch die Hilflosigkeit und das mittelbar und unmittelbar erlebte Leid, an dem es gilt nicht zu zerbrechen.

Selbstmord ist schwierig zu verstehen oder zu akzeptieren, aber es hilft miteinander zu sprechen und sich zu informieren. Von der deutschen Depressionshilfe bis hin zu Organisationen wie Befrienders, die ihre Dienste in vielen Sprachen anbieten, gibt es Anlaufstellen, die aufklären und helfen. Gerade in diesen unsicheren Tagen, im Angesicht einer globalen Pandemie, wirtschaftlicher Instabilität und andauernden Kriegen ist es besonders wichtig, dass wir nach einander fragen und auch auf uns selbst achten.

Sarah schrieb es in ihren letzten Worten:

„An meine Geschwister,
ich habe versucht zu überleben, aber ich habe versagt; vergebt mir.
An meine Freunde,
die Reise war grausam und ich bin zu schwach, um Widerstand zu leisten. Vergebt mir.
An die Welt,
du warst oft grausam; aber ich vergebe Dir."
- Sarah Higazys letzte Worte
14. Juni 2020  

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