Die neue Geschlechterstrategie der EU: Ostmitteleuropäische Frauen werden im Stich gelassen

Die Corona-Epidemie fördert die Pflegekrise sowie darunterliegende klassen- und regionalbedingte Ungleichheiten zutage – die neue Strategie der EU bietet jedoch kein Rüstzeug für deren Bewältigung.

Mops on red wall

Die beunruhigend rasche Ausbreitung des Coronavirus offenbart die Dimension der Care-Krise in Europa. Da immer mehr Länder ihre Schulen und Kindertagesstätten schließen, muss sich jemand um die Kinder kümmern. Gleichzeitig wird davon abgeraten, die Großeltern in die Kinderbetreuung miteinzubeziehen, da sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sollten sie sich mit dem Virus infizieren. Der Bedarf der älteren Bevölkerung nach besonderem Schutz verdeutlicht, was Feminist* innen schon lange anprangern: Europa tut sich schwer mit der erforderlichen Infrastruktur im Bereich Altenpflege, sowohl häuslich als auch institutionell, wobei in beiden Fällen die Frauen den Großteil der Arbeit leisten.

Heute, wo das Gesundheitssystem - ein stark feminisierter Sektor - unter Druck steht, wird offenkundig, wer diese Arbeit leistet, unter welchen Bedingungen und mit welcher Wertschätzung. Die Corona-Krise fördert Ungleichheiten zu Tage - nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Frauen aus unterschiedlichen Klassen und Regionen.

Die neue Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025 der Europäischen Kommission wurde am 5. März 2020 veröffentlicht, genau in dem Moment, als die Krise Europa erfasste. Das Dokument wird die grundlegenden Herausforderungen, vor denen Frauen in der Mitte der Pflegekrise stehen, jedoch voraussichtlich nicht lösen, was zu schwerwiegenden Verwerfungen insbesondere für Frauen in der Peripherie, zum Beispiel in Ostmittelosteuropa, führen wird.  

Bereitstellung von Arbeitskräften

Die Prämisse der Strategie lautet, dass Geschlechtergleichstellung „eine wichtige Voraussetzung für eine innovative, wettbewerbsfähige und florierende europäische Wirtschaft“ ist, die „mehr Arbeitsplätze schafft und die Produktivität fördert“. Das entspricht der historischen Motivation der EU, Rechtsvorschriften im Bereich Geschlechtergleichstellung zu erlassen - dem Wunsch, Ungleichheiten nicht auszuradieren, sondern die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes durch eine ständige Bereitstellung von Arbeitskräften zu optimieren. Ein Hauptindikator, mit dem Fortschritte im Bereich Geschlechtergleichstellung in den Mitgliedsstaaten der EU gemessen werden, ist der (wachsende) Anteil von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Was dabei jedoch außer Acht gelassen wird, sind die Arbeitsbedingungen, denen sich Frauen bei Eintritt in den Arbeitsmarkt gegenübersehen. 

Wie wir in Ostmittelosteuropa beobachten können, ist diese Erfahrung für viele Frauen alles andere als emanzipativ, da ein Großteil der in den letzten dreißig Jahren geschaffenen Arbeitsplätze von schlechter Qualität ist: Unterbezahlt, geringqualifiziert, gesellschaftlich unterbewertet und auf Null-Stunden-Vertragsbasis. Kováts und Gregor haben die Situation ungarischer Frauen untersucht und herausgefunden, dass sich viele Frauen auf dem Arbeitsmarkt extrem ausgebeutet fühlen: Anstatt darüber nachzudenken, wie sie ihrem Zuhause entkommen können, um „sinnvolle“ Erwerbsarbeit zu leisten und die eigene finanzielle Unabhängigkeit zu sichern, ist ihr größtes Anliegen, wie sie von ihrem Arbeitsplatz fliehen können, um mit der Familie zusammen zu sein. Das verdeutlicht die Beschränktheit der von der Kommission aufgestellten Gleichsetzung von Gleichstellung mit mehr Arbeitsmarktbeteiligung als im besten Fall realitätsfremd, im schlimmsten Fall vorsätzlich klassenblind.

Während sich ein gesamter Abschnitt der EU-Strategie mit dem Kampf gegen horizontale Segregation auf dem Arbeitsmarkt befasst – das Fehlen von Frauen im Technologiesektor beispielsweise – fehlt jedwede Debatte darüber, wie sich die erbärmliche Situation in den von Frauen dominierten Sektoren verbessern ließe - zum Beispiel durch höhere Gehälter oder bessere Arbeitsbedingungen. Stattdessen verpflichtet sich die EU mit ihrer Strategie dazu, den Zugang von Frauen zu Branchen zu erleichtern, in denen sie bis dato unterrepräsentiert sind, und das durch den Abbau von Stereotypen. Tatsache ist jedoch, dass Frauen eher in unterbezahlten und gesellschaftlich unterbewerteten Sektoren tätig sind, was das von der EU oft zitierte geschlechtsspezifische Lohngefälle von 16 Prozent zum größten Teil erklärt, nicht jedoch die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen, die die gleiche Position innehaben. Die EU-Strategie lässt diese strukturelle Herausforderung außer Acht und schlägt stattdessen vor, Maßnahmen zur Entgelttransparenz einzuführen, um individuelle Ungleichheiten beim Arbeitsentgelt aus dem Weg zu räumen.

Care-Ketten und sich überschneidende Ungleichheiten

Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit zu schaffen und Einzelpersonen zu ermutigen, ihre Gewohnheiten zu ändern, zeigt bei der Bekämpfung des Care-Defizits nur bedingt Wirkung. Aufgrund der Corona-Krise zeigt sich jedoch dieses als eines der dringlichsten Probleme in Europa. Wäre die vorbenannte Bewusstseinsbildung, in die sehr viel investiert wurde, wirksam gewesen, würden Frauen in den EU-Kernländern, in denen die Erwerbsbeteiligung von Frauen höher ist als in Ostmitteleuropa, häufiger eine bezahlte Beschäftigung aufnehmen aufgrund der stärkeren Beteiligung von Männern an traditionell weiblichen Pflichten wie Putzen, Kochen und Kinderbetreuung. Stattdessen wird dies jedoch anderweitig gelöst, indem Care-Tätigkeiten an Frauen in Ostmitteleuropa und anderen Peripherien ausgelagert werden: Westlichen Frauen ist es nur möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, weil die Care-Arbeit durch Migrantinnen (oft auf dem grauen Markt) geleistet wird. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Verteilung der Care-Arbeit jedoch nicht im Geringsten angegangen; vielmehr wird aus klassen- und regionalbedingten Ungleichheiten Kapital geschlagen. 

Der enge, neoliberale Rahmen, innerhalb dessen die EU-Strategie Geschlechterungleichheiten bei der Bereitstellung von Care-Tätigkeiten hinterfragt, wird ebenfalls deutlich durch den Ansatz, die wachsende Nachfrage dadurch zu befriedigen, dass einerseits (einzelne) Männer ermutigt werden, Care-Tätigkeiten zu übernehmen, und andererseits Institutionen eingerichtet werden, um die Frauen von diesen Aufgaben zu entlasten. Während beides zweifelsohne notwendig ist, sind diese Maßnahmen bedauerlicherweise unzureichend, wenn es darum geht, die darunterliegenden Spannungen in kapitalistischen Gesellschaften anzugehen – einerseits der Bedarf nach reproduktiver Arbeit, um produktive Arbeit aufrechtzuerhalten, andererseits die damit einhergehende fehlende Wertschätzung und Entlohnung von Care-Arbeit. Wenn wir es nicht schaffen, die Rollen “Arbeitende*r” und „Pflegende*r“, die als getrennt und sich gegenseitig ausschließend betrachtet werden, grundlegend neu zu strukturieren, können wir nicht erwarten, dass diese Spannungen jemals verschwinden, egal welche Anstrengungen wir im Bereich Vereinbarkeit von Beruf und Familie unternehmen. 

Vor dem Hintergrund der neoliberalen Gleichstellungsarchitektur der EU ist der Fokus der EU-Strategie auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt und Geschlechterstereotypen nicht überraschend. Neu ist die Zusicherung, dass die Strategie „basierend auf dem Prinzip der Intersektionalität umgesetzt wird, bei dem Geschlecht und andere persönliche Merkmale oder Identitäten gemeinsam betrachtet werden und untersucht wird, wie diese Überschneidungen zu eindeutigen Diskriminierungserfahrungen beitragen.“ Leider wird dies als mechanistischer und individualistischer Weg verstanden: Soziale Strukturen lösen sich in persönlichen Identitäten und Merkmalen auf.  

Abgesehen davon, dass auf diese Weise soziale Strukturen entpolitisiert werden, werden Nachteile grob vereinfachend ‚aufsummiert‘, wie beispielsweise in dieser Formulierung: „Frauen sind eine heterogene Gruppe und können aufgrund verschiedener persönlicher Merkmale intersektioneller Diskriminierung ausgesetzt sein. So kann beispielsweise eine Migrantin mit einer Behinderung aus drei oder mehr Gründen diskriminiert werden.“  Anstatt die Identitäten auf diese Weise zu essentialisieren, würde eine Befassung mit sich überschneidenden Ungleichheiten beispielweise aufzeigen, wieso Frauen einer bestimmten Region oder Klasse besser dastehen und auf wessen Kosten und wie dieses Machtgefälle reproduziert wird. Die mechanistische Auffassung von Intersektionalität, die von der Strategie befördert wird, macht es weiterhin möglich, dass sich Frauen und Volkswirtschaften im Westen auf reproduktive Arbeit stützen können, die von Frauen aus den süd- und osteuropäischen Peripherien und von anderen Migrantinnen geleistet wird - alle sind Angehörige der Unterschicht und sehr oft mit ausbeuterischen Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Wird der Geschlechterstreit neu angefacht?

Die EU-Strategie folgt in ihren Definitionen von Geschlecht (‚sozial konstruierte Rollen, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Eigenschaften, die eine Gesellschaft für Männer und Frauen als angemessen erachtet‘) und geschlechtsspezifischer Gewalt (‚Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft‘) den Definitionen der Istanbul-Konvention des Europarats. Während diese Formulierung des Übereinkommens sexuellen Dimorphismus – dass Menschen als männlich oder weiblich geboren werden – als selbstverständlich voraussetzt, haben LGBT+ Kampagnen in den letzten Jahren den Bedeutungsgehalt von Geschlecht dahingehend erweitert, dass auch das eigene, empfundene Identitätsgefühl (Geschlechtsidentität) mit einbezogen wird. Die politische Rechte instrumentalisiert diese – in der Tat problematische – Polysemie, indem sie die Einbeziehung des so verstandenen Geschlechterkonzepts als eines der Hauptargumente gegen die Ratifizierung der Konvention oder jedweder anderer Gesetze anführt, die den Begriff Geschlecht verwenden, auch wenn diese das Ziel haben, Ungleichheiten zwischen Männer und Frauen zu beseitigen.

Während die EU-Strategie konsequent auf ‚Frauen und Männer, Mädchen und Jungen‘ Bezug nimmt - womit sie offenbar bewusst die Kontroversen zu vermeiden sucht, die durch die Bezugnahme auf Geschlechteridentitäten hervorgerufen werden – fügt sie stets hinzu, dass diese ‚in all ihrer Vielfalt gleich‘ sind. Was damit genau gemeint ist, wird teilweise durch den intersektionalen Ansatz erklärt, der sechs Eigenschaften berücksichtigt: Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion oder Glaube, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung. Sie verweist mitunter aber auch auf das ‚eigene, empfundene Identitätsgefühl‘ (‚immer wenn Frauen und Männer genannt werden, handelt es sich um heterogene Kategorien, auch in Bezug auf ihr Geschlecht, ihre Geschlechtsidentität, ihren Geschlechtsausdruck oder ihre Geschlechtsmerkmale‘). 

Während die EU-Strategie Geschlechterungleichheiten konsequent gemäß den liberalen Sozialisationsbedingungen betrachtet (Männer und Frauen sind aufgrund von Stereotypen und Chancenungleichheit nicht gleich), mag diese Fußnote nichts weiter als ein Lippenbekenntnis gegenüber Aktivist*innen sein, die sich für Geschlechtervielfalt einsetzen. Dennoch könnte das Vorhandensein dieses Zusatzes, der sich durch das gesamte Dokument zieht, tatsächlich die Bedeutung der Strategie verändern und zwar dadurch, dass ihr Fokus auf Frauenrechte zum Nutzen sämtlicher mutmaßlicher Geschlechter abgeschwächt wird. 

Eine verpasste Chance

Die durch die Corona-Pandemie verursachte Krise zwingt die EU, sich den Auswirkungen ihrer langjährigen neoliberalen Politik zu stellen: Schwäche der öffentlichen Institutionen, Grenzen der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Unterbewertung der Pflege- und Reproduktionsarbeit – alle haben klassen- und geschlechtsspezifische sowie regionale Auswirkungen.

Leider ist die vorgestellte Strategie zur Geschlechtergleichstellung eine verpasste Chance bei der Bewältigung dieser systemischen Herausforderungen: Sie vermag es nicht, den technokratischen und marktzentrierten Zugang an das Thema Geschlechtergleichstellung hinter sich zu lassen, die Ungleichheiten innerhalb der EU zu beseitigen bzw. die Care-Krise und die miserablen Arbeitsbedingungen anzugehen, die letztlich eine echte Gleichstellung zwischen Männern und Frauen verhindern. 


Zuerst veröffentlicht auf socialeurope.eu am 17.März 2020 

Übersetzt (von Bettina von Arps-Aubert) und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen