Übergenderungsgefahr

Feministischer Zwischenruf

Jungs blau, Mädchen rosa. Jungs toben draußen, Mädchen schwätzen drinnen. Und so fort. Geschlechterklischees. Die Gender Mainstreaming eigentlich abbauen will. Eigentlich.

Graffitti: "Use less stereotypes"
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Gängige Geschlechterstereotype: Jungs blau, Mädchen rosa. Jungs toben draußen, Mädchen schwätzen drinnen

Jungs blau, Mädchen rosa. Jungs toben draußen, Mädchen schwätzen drinnen. Und so fort. Geschlechterklischees. Die Gender Mainstreaming eigentlich abbauen will. Eigentlich. Man prüft, wie ein Vorhaben auf Männer und Frauen wirkt und versucht dann auszugleichen. Der Sportplatz wird dann auch mal für Mädchen reserviert. In Berlin kämpfen die „boxing girls“ mit ihresgleichen, damit sie nicht den Kommentaren und Abwertungen durch die Jungs ausgesetzt sind. Es gibt Frauenstudiengänge in Naturwissenschaften – aus einem ähnlichen Motiv. Aber ist das der Weisheit letzter Schluss?

Denn die gutgemeinte Separierung hat auch unerwünschte Nebenwirkungen: Frauen, die nur mit Frauen boxen, verstärken nämlich auch Klischees: Beim Männerboxen geht es zu rauh zu. Wir sind die Netteren. Männer sind eine Gefahr für das weibliche Selbstbewusstsein. Das bekommen die Frauen unausgesprochen oder ausgesprochen mitgeliefert. Und die Männer? Lernen nichts. Weil ja keine Frauen da sind, um ihre blöden Sprüche zu kontern. Stattdessen können sie ihre Klischees weiter pflegen. Frauen sollten nicht mit Männern boxen. Sie brauchen ein Reservat. Auch das kann eine Abwertung sein.

Heide Oestreich ist Redakteurin der taz, die tageszeitung und betreut dort vor allem die Geschlechter- und Gesellschaftspolitik. 2004 erschien von ihr das Buch "Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam". 2009 wurde sie vom Journalistenverband Berlin Brandenburg für ihre langjährige Berichterstattung über unbewußte Geschlechterklischees mit dem Preis "Der lange Atem" ausgezeichnet.

Zwei Journalistinnen aus dem Umfeld der Jugendzeitschrift Neon haben diese Kritik formuliert. Leider haben Theresa Bäuerlein und Friederike Knüpling das Ganze in eine dämliche Polemik eingepackt, die gesamte Gender-Idee firmiert bei ihnen unter „Tussikratie“, so auch der Buchtitel. Ja, die Tussis sind bei ihnen die Feministinnen. Nicht gerade eine Einladung zur Diskussion. Aber die Gefahr der (Selbst-) Stigmatisierung von Frauen durch Frauenpolitik und Gender Mainstreaming, die gibt es wirklich. Denn in dem Moment, in dem man feststellt, dass Frauen in der Schule in Physik weniger teilnehmen, weil die Jungs ihnen dank Fischertechnik und einem früh geschenkten Elektrobaukasten voraus sind, hat man diese Meinung ja auch verfestigt: Frauen sind naturwissenschaftlich schüchterner und bekommen deshalb eine Extrabehandlung. Zack! Unterschied zementiert. Und was ist mit den Jungs, die auch kein Talent für Physik haben?

Werden wir also übergendert? Ja, es gibt diese Gefahr. Von „Stereotypen-Bedrohung“ redet die Psychologie: Frauen und Männer verhalten sich stärker stereotyp, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass es Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Und genau das tut Gender Mainstreaming. Aber die Preisfrage lautet: Was ist die Alternative? Ignorieren, wie es die beiden Journalistinnen vorschlagen? Das kann nicht die Lösung sein. Denn durch Ignorieren verschwinden solche Unterschiede nicht. Im Gegenteil, gerade im Schatten der Scheinneutralität gedeihen strukturelle Unterschiede besonders gut. Sie aufgedeckt zu haben, ist zu Recht eine Errungenschaft. Die Frage ist nur: Was machen wir mit den gefundenen Unterschieden?

Entgendern wäre ein Möglichkeit. Erst Gendern, dann Entgendern. In der Schule etwa nach der Analyse der Physikleistungen eine AG anbieten für alle Menschen, die ohne Fischertechnik aufgewachsen sind. Keine „Frauenförderung“, sondern Förderung für Menschen mit Familienverantwortung. Oder anonyme Bewerbungen annehmen statt „Frauen bevorzugt“ einzustellen.

Allerdings gibt es solche Lösungen nicht in jedem Bereich. Und nur mit anonymen Bewerbungen lässt sich etwa das Riesenproblem der Arbeitsmarktsegregation nicht angehen. Da ist eine Quote durchaus sinnvoll, auch wenn die das Stigmatisierungrisiko schon im Titel „Quotenfrau“ mit sich herumträgt. Die Lösung muss daher heißen, so viel Gender wie nötig, so wenig wie möglich. Die Quote ist dafür sogar ein gutes Beispiel. Sie greift an einem Punkt ein: Bei der Stellenbesetzung. Danach müssen sich die Frauen ohnehin im Job bewähren. Dauerhafte Reservate dagegen wären dann eher zu vermeiden. Mit anderen Worten: Wir brauchen nicht weniger Gendern, wir brauchen kluges Gendern.