Wider die Ökonomisierung des Lebens

"Wir brauchen global gut organisierte und widerständige Bürgerinnen und Bürger. Und wir brauchen einen starken Staat, der die Allmacht der Ökonomie zurückdrängt"
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"Wir brauchen global gut organisierte und widerständige Bürgerinnen und Bürger. Und wir brauchen einen starken Staat, der die Allmacht der Ökonomie zurückdrängt"

Die Konferenz "Gutes Leben für alle" im Februar 2015 in Wien erkundete, wie ein gutes Leben nicht nur für wenige, sondern für alle möglich wird. Wie kann die sozialökologische Transformation zum Guten Leben für alle gelingen?

Inhalt

 

Wir brauchen neues Denken und Handeln, neue Formen der Solidarität und Kooperationen. Denn die Frage ist: Wie kommen wir aus der Abhängigkeit von Wachstum – vor allem in fossilen Industriegesellschaften – heraus und können dennoch ein gutes Leben für alle ermöglichen?

Vergegenwärtigen wir uns zuerst: in Osteuropa, in Lateinamerika, Afrika, Asien und im Nahen und Mittleren Osten arbeiten Nichtregierungsorganisationen und Aktivist/innen unter ganz anderen politischen Bedingungen als wir hier im Westen. Ja, es ist eine privilegierte Position – wir leben in Freiheit, unter rechtstaatlichen Prinzipien und ohne Not – aus der heraus wir über das gute Leben für alle reden. Diese Privilegien gelten vor allem für die Mehrheitsgesellschaften in den demokratischen Industrieländern. Nicht unbedingt für die 20 Prozent, die in fast allen modernen Gesellschaften sozial "abgehängt" werden, unter der monetären Armutsgrenze leben und vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben immer mehr ausgeschlossen sind.

Das Gute Leben als Triebfeder

Es gehört zum Sinnstiftenden im Leben, für einander Sorge zu tragen und sich stetig mit dem Wohlergehen zu befassen. Das gute Leben für alle ist eine Vision, die das Ende von Armut und Ungerechtigkeit verspricht und die Hoffnung nach einer besseren, sicheren und friedlichen Welt für alle beherbergt.

Diese Vision war und ist Triebfeder für politisches Handeln, für Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Willkür und Gewalt. Diese Kämpfe haben viel erreicht und wir werden sie auch in Zukunft brauchen. Wenn wir für ein gutes Leben für alle reden und streiten, dann sollten wir es unter der Prämisse der zivilisatorischen Errungenschaften der Freiheit, der Menschenrechte, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tun. Wir wissen, wie sehr die demokratischen Spielräume weltweit eingeschränkt sind. Repressionen gegen Andersdenkende und Handelnde nimmt weltweit eher wieder zu als ab. Der autoritäre Entwicklungsstaat von Äthiopien bis China verspricht zwar ein besseres Leben, mehr Wohlstand, aber ohne Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und politische Partizipation. Ob in illiberalen oder liberalen Demokratien, der Einfluss wirtschaftlich mächtiger Eliten auf politische Entscheidungsprozesse nimmt eher zu, nicht ab.

Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie sind für mich die normative Rahmensetzung für ein gutes Leben für alle. Historisch haben wir einen solchen Zustand noch nie erreicht, daran hat uns Harald Welzer gestern erinnert.

Mit dem Blick auf die heutige Welt sind es die 20 Prozent der globalen Eliten und Mittelklassen, die gut leben, konsumieren und produzieren auf Kosten der Natur und der Armen und Ärmsten in allen Teilen der Erde. Diese globale Mittelklasse ist mittlerweile auch im globalen Süden zu Hause, sie will konsumieren wie wir. Und gemeinsam externalisieren wir die Kosten dieses Konsum- und Produktionsmodell. Uli Brand nennt das den imperialen Lebensstil, wenn wir zum Beispiel für den global wachsenden Fleischkonsum, Landflächen im großen Stil für den Futtermittelanbau in Argentinien und Brasilien belegen und dort Bäuerinnen und Bauern vertreiben und die Umwelt zerstören. Wir müssen diesen Lebensstil, diese Form der Externalisierung noch mehr als bisher politisieren.

Kapitalismus - dynamisch und expansiv wie noch nie

Der Kapitalismus ist – trotz aller regionaler Krisen – expansiv und dynamisch wie nie. Natur, Land, Arbeit, Wissen und Vermögen werden in einem nie gekannten globalen Ausmaß zu privaten Zwecken angeeignet. Die Finanzmärkte, Facebook, Monsanto führen uns das täglich vor Augen.

Wir kennen die Analysen zum Klimawandel, zur Ressourcenknappheit zur Finanz- und Ernährungskrise. Wir wissen, dass die planetarischen Grenzen radikale Schritte für eine globale Transformation brauchen und wachsende Ungleichheit eine andere Gerechtigkeits- und Steuerpolitik.

Das Wort von der Großen Transformation, von einem neuen Gesellschaftsvertrag, den wir schließen müssen, macht die Runde.
Das normative Zukunftsprojekt grüner Politik nennt sich sozialökologische Transformation. Dieses Zukunftsprojekt muss allerdings mehr sein, als Grüne Ökonomie, mit sogenannten grünem Wachstum und Effizienztechnologien.

Die Politik der Zukunft als Transformationspolitik zu gestalten, ist ein streitbares Vorhaben. Sie wird zu großen gesellschaftlichen Zerreißproben führen.

Der erste Schritt zum guten Leben für alle wäre es also, zunächst gesellschaftlichen Konsens über die Transformationsnotwendigkeit, über Transformation als Weg zu organisieren. Ich weiß, das ist eine gigantische Aufgabe, und sie setzt auf die Wiederbelebung der Demokratie von unten, auf Widerstand und Bürger/innenbeteiligung, auf demokratische Parlamente. Auf eine Politik, auf einen Staat, der endlich wieder dem Allgemeinwohl verpflichtet ist.

Die gigantische Aufgabe der Transformation

Transformation als Weg umfasst, dass 

  1. wir „business as usual“, die braune Agenda, die weitere Expansion des globalen Kapitalismus mit all seinen sozialen und ökologischen Verheerungen stoppen und auf einen sozialen und ökologisch verträglichen Pfad umlenken müssen. Wir müssen neue Irrwege der Transformationsagenda vor allem der Bio- und Reproduktionstechnologien sowie der Grünen Ökonomie durchleuchten und Gegenstrategien entwerfen.
     
  2. Transformation als Weg heißt, dass wir unsere eigenen Transformationsvisionen und Entwürfe weiterentwickeln und eigene Blindstellen erkennen. Die neuen theoretischen, sozialen, technologischen und ökonomischen Experimente brauchen Vernetzung und Bündnisse. Bei alledem müssen wir uns bewusst machen: Gesellschaft und Politik stecken mitten im Wachstumsdilemma. Hemmungsloses Wachstumsstreben zerstört die Ökosysteme und Atmosphäre, von denen wir abhängen. Gleichzeitig ist Wachstum das Mantra aller Regierungen der Welt. Es ist das Heilsversprechen auch für Wohlstand und Armutsüberwindung im globalen Süden. Unsere Sozialversicherungssysteme, so wie sie heute konzipiert und finanziert sind, hängen davon ab.

Dem Wachstum abzuschwören, bedeutet, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch zu riskieren. Wohin das politisch führt, wissen wir nicht ganz genau (Aufstieg rechter Bewegungen, gewaltförmige Konflikte...). Hand aufs Herz: keiner weiß wirklich, wie unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften aussehen könnten, wenn wir auf Wachstum, Konsumismus und Ressourcenausbeutung verzichten. Aber es ist überfällig und gut, dass wir uns auf die Suche machen. Wir brauchen strapazierfähige Strategien, um es mit diesem Wachstumsdilemma aufzunehmen.

Der Regulierende Staat – Handlungsspielräume offen halten

Dafür brauchen wir einen regulierenden und fördernden sowie dem Allgemeinwohl verpflichteten Staat. Das ist eine herkulinische Aufgabe. Denn Staaten sind selbst Teil des Wachstumsimperativs und im Zwiespalt. Regierungen schaffen mehr denn je die Rahmenbedingungen für Kapitalverwertung und Konsumismus. Im Zwiespalt sind sie deshalb, weil sie zumindest in liberalen Demokratien neben dem Wohlfahrtsversprechen vor allem öffentliche Güter, gesunde Umwelt, Freiheit und Menschenrechte bereit stellen bzw. schützen müssen. Das ist Teil ihrer demokratischen Legitimation. Ohne Staat jedoch keine Regulierung und Transformation und wir brauchen ihn wohl auch, um den Aufbruch ins Neue zu befördern.

Zurück zu den skizzierten Aufgaben der Transformation als Weg:

Wenn ich über Transformation und Alternativen nachdenke, dann kann ich das nur, wenn ich gleichzeitig über Strategien nachdenke, wie dem laufenden Expansionismus des fossilen und unsozialen Kapitalismus Grenzen gesetzt werden und wie ich die weitere Ökonomisierung unseres Lebens und die ökonomische Machtkonzentration aufhalten kann. Das ist elementar, um so überhaupt Handlungsräume für die Transformation für ein gutes Leben für alle offen zu halten. Dazu gibt es eine Vielzahl umsetzbarer Reformalternativen, Programme und Kampagnen.

  • Wir müssen soziale Gerechtigkeit als Prinzip zurückerobern, was mit der Demokratisierung der Vermögensbildung einhergeht – also einer radikalen demokratischen und geschlechtergerechten Umverteilung. Steuergerechtigkeit und Steuern auf Kapital und Ressourcen sind hier Stichworte statt ausschließlich auf die Besteuerung von Arbeit als die breiteste Basis für Steuereinnahmen zu setzen;
  • wir brauchen eine viel radikalere Finanzmarktregulierung als das, was bisher von Regierungen, der EU oder den G20 beschlossen wurde;
  • Wir brauchen kein TTIP und andere bilaterale Handels- und Investitionsabkommen, sondern multilaterale Handelsregeln, die Menschenrechte und den Schutz der Umwelt in den Fokus stellen;
  • Jede tragfähige Vision von Wohlstand muss sich mit den planetarischen Grenzen auseinandersetzen und radikale Obergrenzen bei Emissionen aller Art und beim Ressourcenverbrauch ziehen;
  • und wir müssen die wirtschaftliche Machtkonzentration begrenzen (Entflechtungsgesetze, Fusionskontrollen usw.). Hier sind wir reformpolitisch ziemlich schwach auf der Brust, obwohl das heute schon eines der größten Probleme ist, weil die Marktmacht einiger weniger längst in politische Macht umgeschlagen ist;
  • Wissen muss von der Privatisierung der Nutzungsrechte befreit werden. Patente und Lizenzen müssen eingeschränkt und so geregelt werden, dass sie als öffentliche Güter bereitgestellt werden können. Auch muss Ziel der Transformation sein, dass Wissen frei zugänglich ist, weil es sich – und das ist das Schöne daran – um eine unbegrenzte Ressource handelt, die mehr wird, wenn wir sie teilen.

Zum fossilen, digitalen (Finanz-)Kapitalismus liegen eine ganze Reihe machbarer Reformvorschläge vor, deren Umsetzung die Handlungsspielräume für ein gutes Leben für alle erweitern, wenigstens nicht verkleinern würden. Aber selbst diese ersten Transformationsschritte sind politisch kaum durchsetzbar, werden von entsprechenden Wirtschafts- und Machtlobbies blockiert.

Minus 80 Prozent CO2 Emissionen, ja wir brauchen sie bis spätestens 2050, wenn wir das Ziel der maximalen 2 Grad mittlerer Erderwärmung halten wollen. Auf Privilegien verzichten, heißt sich mit seinen eigenen Widersprüchen im Konsum- und Lebensstil auseinanderzusetzen und Handeln zu verändern. Politisch heißt es vor allem, uns mit ökonomischen Interessen und Machtkonzentration anzulegen, die Konflikte zu benennen und die politische Auseinandersetzung zu führen.

Neue Fehlentwicklungen

Es gibt angesichts des Klimawandels unter wichtigen Wirtschaftsakteuren und globalen Institutionen (OECD, Weltbank) sogar Konsens, dass „business as usual“ uns in die Klimakatastrophe führt.

Das Problem: die gleichen Akteure machen mit neuen Namen weiter im alten Modell, z.B. mit dem sogenannten Hoffnungsträger Bioökonomie.

Was unter dem Deckmantel z.B. des Ausstiegs aus den fossilen Energien stattfindet, sind häufig weitere Irrwege und keine Ausstiege aus der Wachstumsfalle. Mehr noch, es eröffnen sich neue Dimensionen der Monetarisierung und Kommodifizierung von Natur. Die weltweite Ökonomisierung der Sorgearbeit durch Migrant/innen und neue Reproduktionstechnologien ordnen Sorgearbeit und Geschlechterverhältnisse neu und zwar auf dem Rücken der Armen. Auch hier werden uns Handlungsspielräume für ein gutes Leben genommen.

Der Reihe nach: Ein Handlungsfeld der Bioökonomie ist die Synthetische Biologie. Sie wird auch extreme Gentechnik genannt. Sie verspricht zwar auch energie- und verkehrspolitische Innovation, geht aber weit darüber hinaus:

„How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves“ lautet der Titel des programmatischen Buches von George Church.
Synthetische Biologie will und kann Lebensformen nicht nur genetisch verändern, sondern aus einzelnen biologischen Bausteinen (Biobricks) neu zusammensetzen. Im Prinzip kann aus jeder Bakterie, jeder Mikrobe und jeder Alge eine Art Minifabrik gebaut werden, die – gefüttert mit Biomasse – egal was produziert, z.B. Treibstoff, Plastik, Vanillearoma usw. Biotechnologie macht die Natur zur Wunschfabrik und den Menschen noch mehr zum Herrscher über die Natur und ihre Kreisläufe. Einige wenige Konzerne kontrollieren diesen Prozess, sie verändern Bausteine des Lebens, sie eignen sich an, was nicht nur uns gehört, sondern auch woraus wir bestehen. Sie sichern sich das Monopol über Weichenstellungen der Zukunft. Wir brauchen wissenschaftliche Erkenntnisse für die Transformation und manche Biotechnologie ist sinnvoll und wegweisend für ressourcenschonendes Wirtschaften. Wir sollten sinnvolle Innovationen nicht ungenutzt lassen. Wir brauchen aber die soziale und ökologische Abschätzung ihre Wirkungen. Wir müssen abwägen können, ob Wissenschaft und Forschung verantwortlich im allgemeinen Interesse gefördert wird. Und wir müssen Grenzen ziehen, wo Fehlentwicklungen absehbar sind. Auch deshalb braucht es staatliche Regulierung sowie demokratische Kontrolle über die neuen Biotechnologien.

Ein weiteres Feld der sogenannten Bioökonomie sind neben den Biotechnologien die sogenannten Reproduktionstechnologien. Hier geht es ganz besonders um die Ökonomisierung des Lebens, nämlich um die Inwertsetzung von Körperstoffen wie Eizellen, Sperma, Gewebe und die Kommerzialisierung von Körpern durch Praktiken wie Leihmutterschaft. Das heißt: Reproduktionstechnologie bleibt nicht auf Reproduktion allein begrenzt, sondern trägt bei zur Entstehung globaler Fruchtbarkeitsmärkte. In Indien sind die über 3000 Häuser für Leihmütter ein Multimillionengeschäft.

Die letzte kapitalistische Landnahme

Was wir beobachten können: im modernen Kapitalismus, in dem das Hausfrau-Ernährer-Modell überholt ist, werden soziale und biologische Aufgaben outgesourct. Das gilt ganz besonders für die Sorgearbeit. Die Pflegekrise bei uns wird auch mit Pflegerinnen aus Osteuropa zu lösen versucht. Es entstehen neue globale Märkte und Wertschöpfungsketten, für die Sorgearbeit und mittlerweile auch für die Fruchtbarkeit. Ob Leihmutterschaft in Indien oder Pflegerin aus Osteuropa, hier werden soziale Ungleichheit und juristische Unterschiede – ganz im Sinne des globalen Wettbewerbs – ausgenutzt.

Die Inwertsetzung von Bausteinen der Natur, Körpern und Körperstoffen ist vielleicht die letzte kapitalistische Landnahme und aufs Engste mit der Veränderung von Lebensweisen verbunden. Und es geht nicht nur um abstrakte kapitalistische Verwertungen, sondern um Transformationen des Alltagslebens und der Geschlechterverhältnisse bei uns und vor allem dort, wo wir Leihmütter bezahlen oder Pflegerinnen zu uns holen (Osteuropa, Asien).

Es gibt erstaunliche Parallelitäten zwischen der Ökonomisierung von Medizin und Pflege und der Ökonomisierung von Naturressourcen, denn ihr liegt Verwertungslogik und nicht Versorgungs- bzw. Schutzlogik zugrunde. Wir sollten nein sagen zu Bioökonomie und Inwertsetzung von Natur, die ausschließlich dieser Verwertungslogik folgt.

Wenn Bioökonomik ein weiterer Schritt der Kommodifizierung von Körpern und Körperstoffen ist, dann müssen wir dem lautstark die notwendige Anerkennung von sexuellen und reproduktiven Rechten von Frauen als Menschrechte entgegensetzen und deren Schutz und Umsetzung einfordern.

Ich wollte auf diese neueren Tendenzen der Ökonomisierung des Lebens und der Natur besonders aufmerksam machen, weil sie meines Erachtens viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein sind.

Blinder Fleck Sorgearbeit

Das Thema Sorgearbeit möchte ich noch etwas vertiefen. Obwohl längst in einer tiefen Krise, ist sie ein blinder Fleck verschiedener Transformationsagenden und auch vieler alternativ-ökonomischer Konzepte und Praktiken. Sorgearbeit oder Care: Das ist Fürsorge, Vorsorge, Versorgung von Kindern, Jugendlichen, Kranken und alten Menschen. Sie gehört zum Kern jeder Wirtschaft und ist zugleich emotionale Beziehungsarbeit. Sie erfährt eine große Umwälzung. Denn im Kapitalismus konfigurieren sich soziale Beziehungen immer wieder neu. Weil sich das alte Ernährer-Hausfrauenmodell aufzulösen beginnt, plus demografischen Wandel, steckt Sorgearbeit in einer tiefen Krise, die immer noch nicht begriffen ist.

Die Antworten so weit: wie eben beschrieben die weitere Ökonomisierung entlang globaler Sorgeketten, die Organisation der Pflege nach ökonomischen Effizienzkriterien, wie Pflege gegen den Uhrzeiger, jede Verrichtung bekommt einen Preis (2 Minuten Löffel zum Mund = 2 Euro) und Sorgearbeit heißt auch hier die Externalisierung der Kosten, das heißt, die Fortsetzung unbezahlter Arbeit meist auf dem Rücken von Frauen, die immer noch mehrheitlich die unentgeltliche häusliche Pflege stemmen.

Sorgearbeit muss sich deshalb strukturell neu organisieren, wenn sie nicht weiter ökonomisiert und entmenschlicht werden soll.

Die Wohlstandsfrage neu stellen heißt grundsätzlich und nicht nur in der Sorgearbeit, die Gesellschaft ein Stück weit von der Ökonomie zu befreien. Nicht alles, schon gar nicht die Sorgearbeit, passt in die kapitalistische Wertschöpfungs- und Effizienzlogik.

Sorgearbeit muss sich auch zwischen den Geschlechtern neu organisieren, wenn die überkommene geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern nicht zementiert, sondern überwunden werden soll. Das wäre ein Meilenstein für die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit als Prinzip.

Kostendeckende, aber nicht auf Profit orientierte Organisation von Sorgearbeit kann durchaus sinnvolle bezahlte Arbeit stiften und bietet kombiniert mit dem Erhalt und Ausbau der Sozialversicherungssysteme eine Chance, die Ausgrenzung des Reproduktiven zu überwinden.

Vom Wohlfahrtsstaat zum Partnerstaat

Mir ist bewusst, dass ich bis hierher, vor allem einige der vielen komplexen miteinander verwobenen Baustellen, Irrwege und Fallstricke auf dem Weg zu einer Transformation für ein gutes Leben für alle beschrieben habe.

Harald Welzer konstatiert in seinem Buch (2013) Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, einen radikalen Zukunftsverlust als Kern unseres Unwohlseins, weshalb wir in alte Denkmuster und die Wiederherstellung einer Lebenswirklichkeit flüchteten, die längst vergangen ist, statt mutig neue Lösungen zu suchen.

Wie kommen wir raus aus den Denkmustern und dem Verdruss über traditionelle Politik? Hier kann ich nur einen von mehreren Ansätzen kurz skizzieren, die wir hoffentlich gleich in der Diskussion vertiefen können.

Mit den theoretischen Entwürfen und Praktiken transformativen Wirtschaftens und dem Umbau der Arbeitswelt im anbrechenden postindustriellen Zeitalter entstand das Konzept des Partnerstaates oder des Peer-to-Peer-Staates. Die Idee ist, dass der Staat zu einem Partnerstaat transformiert, der selbstorganisierte soziale Produktion und Reproduktion möglich macht und direkte soziale Wertschöpfung durch politische und rechtliche Rahmenbedingungen fördert.

Welche Umbrüche stehen dahinter? Im schrittweisen Übergang zum postindustriellen Zeitalter gewinnt eine Wirtschaftsweise Raum, in der sich die Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten zunehmend im Prosumenten verliert. Letztere können etwa mit 3-D-Drucktechnologie produzieren, was sie wirklich brauchen oder selbst reparieren, was sich nach der Logik des Marktes nicht zu reparieren lohnt. Es wird weniger für den Markt, dafür zunehmend für den eigenen Bedarf produziert. Das „zerstört“ Arbeitsplätze und Einkommensquellen in der Logik des heutigen Wachstumspfades. In diesem Übergang braucht es einen Partnerstaat mit einem erweiterten Gestaltungsspektrum. Er könnte sich so schrittweise aus dem Entweder-Staat-oder Markt/Privatisierung-Dilemma befreien. Das als alternativlos angepriesene Entwicklungs- und Finanzierungsmodell von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften kann auf diese Weise ergänzt werden durch Partnerschaften, die von der öffentlichen Hand und Bürger/innen gemeinsam getragen werden. Diese Ideen verstehen sich als Wegweiser, damit alternatives Wirtschaften und nachhaltiges Leben zu systemischen Veränderungen beitragen und „für alle“, insbesondere auch für Benachteiligte und Ausgegrenzte, Betätigungsfelder der Selbstorganisation und Selbstversorgung schaffen.

Der Partnerstaat hätte im Übergang zur Postwachstumsgesellschaft also mehr Handlungs- und Gestaltungsraum als der fordistisch geprägte Wohlfahrtsstaat. Letzteres Modell hatte sich in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zweifellos als historischer Kompromiss zwischen sozialen Emanzipationsbewegungen und kapitalistischen Interessen entwickelt. Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien hatten daran entscheidenden Anteil. Angesichts der oben skizzierten Trends erscheint es nun aber (historisch betrachtet) an der Zeit, dass der Staat sich vom Wohlfahrtsstaat hin zu einem Partnerstaat transformiert.

Michel Bauwens, der Gründer der Foundation for Peer-to-Peer Alternatives, die die Idee des Partnerstaates in die Welt brachte, verweist darauf, dass es nicht um die Auflösung des Wohlfahrtsstaates geht. Peer-Produktion und gemeinschaftliche Wertschöpfung brauchen starke Bürgerbewegungen und -institutionen. Sie sind es, die auch verhindern können, dass nationale oder kommunale Regierungen einerseits von mehr Eigenverantwortung reden und gleichzeitig Land, Häuser oder öffentliche Räume privatisieren, um Geld in die öffentlichen Kassen zu bringen.

Wir sollten gemeinsam nach Antworten suchen, wie die besten Elemente aus Wohlfahrtsstaatlichkeit, institutionalisierter Solidarität, wie den Sozialversicherungssystemen, starke Bildungsinstitutionen oder ein öffentlich unterstützte Kultur beibehalten werden können. Gewerkschaften werden weiterhin eine starke politische Rolle einnehmen. Sie müssen sich aber an die neuen Rahmenbedingungen anpassen und auch teilweise neu erfinden, um die Gefahr eines „Peer to Peer-Prekariats“ im Übergang zu begleiten.

Und da bin ich bei meinem letzten Punkt: wir brauchen im Widerstand gegen „Business as usual“ und die Ökonomisierung des Lebens und für eine sozialökologische Transformation neue Bündnisse und Allianzen.

Strategische Allianzenbildung

Ich gehe davon aus, dass sich viele von Ihnen, zu der in der Konferenzankündigung beschriebenen „blühenden Avantgarde“ zählen: Unterwegs, um Wirtschaft und Gesellschaft neu zu denken und am Ende sogar vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Eine alte, aber nach wie vor große Herausforderung von Bündnispolitik sehe ich darin, dass wir selbst im Wettbewerb untereinander stehen (um mediale Aufmerksamkeit, um Spender, um Regierungsgeldtöpfe usw.). Und wir organisieren uns zu sehr entlang sektoraler Themen. Außerdem haben wir die Kluft zwischen denjenigen, die sich um unseren Planeten und die Umwelt sorgen, und denjenigen, die soziale Gerechtigkeit und dabei auch Geschlechtergerechtigkeit ganz oben auf ihrer Agenda haben, nicht richtig überwunden. Hier bleibt noch viel Arbeit, die verschiedenen Bewegungen und ihre Forderungen und Mobilisierungspotentiale zu bündeln, wieder stärker zu politisieren und strategischer auf anstehende Transformationsprozesse auszurichten.

Aber auch Bündnisse mit kleinen und mittelständischen Unternehmen brauchen wir. Wir könnten sie entweder für gemeinwohlorientierte Formen des Wirtschaftens gewinnen. Oder wir lernen von den bereits vielerorts bestehenden Praktiken, wo in größeren Zusammenhängen jenseits von Profitorientierung produziert wird und Dienstleistungen erbracht werden und zugleich sinnstiftende Arbeitsplätze entstehen. Wir könnten diese dann auch „Lebensplätze“ nennen.

Wir brauchen zur Transformation hin zu einem besseren Leben für alle:

Erstens die Erkenntnis und gesellschaftlichen Konsens, dass wir dringend und radikaler handeln müssen.

Zweitens müssen wir versuchen, die neuen Fehlentwicklungen und Irrwege unseres Wirtschaftens aufzuhalten.

Drittens müssen wir uns mit blinden Flecken (Sorgearbeit) unserer theoretischen Konzepte befassen und unsere mentalen Infrastrukturen durchleuchten, die uns zu Kompliz/innen einer falschen globalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik machen.

Zu alledem brauchen wir global gut organisierte und widerständige Bürgerinnen und Bürger, und wir brauchen einen starken Staat. Der wird sich als starker Regulierer, der die Allmacht der Ökonomie zurückdrängt, nur durch Druck von unten zu einem Partnerstaat transformieren, der die sozialen und ökonomischen Innovationen, die auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl ausgerichtet sind, fördert und schützt.

Der Wohlfahrtsstaat wird sobald nicht verschwinden, und die Mehrheits-Bevölkerungen in Wohlfahrtsstaaten werden sich auch nicht von seinen Prinzipien abwenden. Unter sehr verschiedenen Rahmenbedingungen wird er um- und abgebaut. Wir sollten dieses Feld jedoch nicht den Neoliberalen und Populisten überlassen, sondern mit eigenen Ideen und Initiativen die Transformation des Staates und der Gesellschaften organisieren.

Weitere Literaturangaben: