Einzigartig, aber nicht losgelöst. Geschichten von Gastarbeiter*innen

Teaser Bild Untertitel
Auch Großbritannien ist ein Einwanderungsland, daran erinnert die Ausstellung: 70 Jahre Migration nach Großbritannien im Southbank Center in London

Deutschland ein Einwanderungsland? Geschichten von Migration finden im kollektiven deutschen Gedächtnis oft keinen Platz. Eine Ausstellung im FHXB-Museum wehrt sich dagegen.

Wenn Eine eine Geschichte erzählt

Jeder Mensch ist verbunden mit (s)einer Geschichte. Eine Wahrheit, so einfach, und doch wird sie häufig vergessen, werden zahllose Erfahrungen von Menschen systematisch übergangen und die Geschichten der einen als wichtiger erachtet als die anderer. Wessen Geschichten schaffen es, gehört zu werden? An wen erinnert sich das kollektive Gedächtnis – und an wen nicht? Wer ist Subjekt und wer nur Objekt von Geschichte? Dies sind Fragen, die eine Ausstellung im FHXB Museum für den deutschen Kontext wieder neu aufwirft. Alman Geschichteler - Gastarbajteri erzählen heißt sie und porträtiert vier Menschen, die als Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen. Gleichzeitig verfolgt sie das Ziel, den derzeitigen Parolen eines migrationspolitischen „Ausnahmezustandes“ etwas entgegen zu setzten und zu zeigen: Ein Einwanderungsland ist Deutschland schon lange.

Ein Mosaik von Erlebnissen

Wie kleine Steine fügen sich die Erzählungen von Hatice Alkan, Hüsnyie Atmaca, Mustafa Karajković und Gülü Eriçok zu einem bunten Mosaik zusammen. Über drei Monate trafen sich die Frauen des Kollektivs Gegennarrative mit ihren Gesprächspartner*innen. An einem losen Leitfaden orientiert lernten sie vor allem, deren Geschichten zu folgen und die schiere Unerschöpflichkeit dieser Geschichten zu entdecken. Liest man von Hatice‘s erstem deutschen Wort Apfel, von Hüsnyie‘s Aufbruch aus der Türkei oder der „Fanta in der Kegelbahn“, dann ist das wie Schmökern in einem Geschichtenbuch. Was die Ausstellung zeigt ist keine konsistente, durchkomponierte Erzählung, es sind kleine Lichter, die die Wünsche, Ängste, Wagnisse und Erfolge der Zeitzeug*innen beleuchten. 

Alltag, Arbeit, Leben

„Ich kam für ein schöneres Leben“. Hatice Alkan benennt unmittelbar, warum viele Gastarbeiter*innen damals nach Deutschland kamen: Sie wollten für sich oder ihre Kinder bessere Lebensbedingungen schaffen. Anwerbeabkommen bereiteten den Weg dafür. Die Arbeit, die sie in Deutschland ausübten, strukturierte das Leben der meisten Immigrant*innen — auch der Frauen. Denn entgegen der gängigen Vorstellung, „Gastarbeiter“ seien immer Männer gewesen, wurden auch Frauen gezielt als Arbeitskräfte angefragt. Frauen waren nicht nur Familiennachzug, sondern machten sich selbst auf den Weg, als Witwen, wie Hatice Alkan, oder indem sie als Arbeiterin ihrem Mann nachgingen, wie Gülü Eriçok. Es ist daher besonders bemerkenswert, mit welch beiläufiger Selbstverständlichkeit von den vier Interviewten in dieser Ausstellung drei Frauen sind. Anderenorts braucht es noch immer gesonderte Veranstaltungen, um die Geschichte von Frauen zu erzählen, hier tauchen sie ganz selbstverständlich auf – als Menschen, als Migrantinnen.

Geschichten des Wanderns

Geschichten von Migration handeln immer vom Abschiednehmen von einem Ort und dem Ankommen an einem anderen. Zuhause zurückgelassen werden die Eltern, Schwiegereltern und manchmal die eigenen Kinder, die unter Tränen ihre Mutter verabschieden müssen. Migration heißt auch Trennung und ist immer mit vielen Kosten verbunden. Es folgt die Ankunft an einem neuen, fremden Ort. Dort sprechen die Leute eine andere Sprache, essen anderes Essen und schmücken ihren Tannenbaum.

Da kann man schon mal Startschwierigkeiten haben. Wie wichtig Orte und Personen, an bzw. bei denen man sich wohlfühlt sind, wurde auch den Initiatorinnen erst während ihres Projekts klar. Frau Rüffner war diejenige, die Hüsnyie half: „Mutti“ oder die „Autorität im Kiez“ ging jedes Wochenende mit ihr und ihrer Tochter zur Kegelbahn.

Auf das eigene Leben zurückblicken

Die Idee für das Projekt hatte Derya Binışık, einer der Initiatorinnen, im Flugzeug auf dem Weg von Berlin nach Istanbul. Immer wieder erzählten ihr ältere Mitreisende davon, wie sie damals nach Deutschland gekommen waren. Dass diese Geschichten oft weder in den eigenen Familien noch im kollektiven Gedächtnis einen Platz bekommen, kam ihr ungerecht vor. Und wie konnte es sein, dass in der derzeitigen Situation in Deutschland fast nie die Expertise von ehemaligen Migrant*innen gefragt war, also von den Menschen, die es schon einmal geschafft haben, in Deutschland anzukommen, Fuß zu fassen.

Das Gespräch, das in der Ausstellung entsteht, ist ein vielschichtiges, multidirektionales. Hier spricht Alt zu Jung, Großmutter zu Enkelin, Migrant*in zu nicht-Migrant*in, Angekommene zu denen, die gerade neu ankommen. Und sie sprechen über ihre eigene Erfahrung, über das, was ihnen geholfen hat und das, was schwierig war. Wir alle können daraus etwas lernen.

Nicht zuletzt sprechen die Portraitierten zu sich selbst. Sicher nicht oft hatten sie die Chance, ihre eigene Geschichte einem so großen Publikum vorzustellen. Überrascht seien sie von der Aufmerksamkeit. Doch trotz Publikum steckt etwas sehr Intimes in jeder ihrer Geschichten, eine Art persönlicher Rückblick. „Ob sie etwas bereue?“  wird Hüsniye gefragt. Ihren Führerschein nicht gemacht zu haben, antwortet sie. Das Altern ist ein Thema, spürbar.

Deutsche Amnesie

Anderswo jedoch scheint kaum Zeit vergangen zu sein: Noch immer tut sich Deutschland extrem schwer, die Menschen, die neu ankommen, (als Deutsche) zu akzeptieren. Die Existenz der Nicht-Mehrheitsdeutschen und der Rassismus, der sich gegen sie wendet, werden weiter verdrängt. Auch aus der Wut und Verständnislosigkeit über diese Kontinuität, nahm das Kollektiv seine Motivation. „Rassismusamnesie“, nennt die Historikerin Fatima El-Tayeb den Prozess einer „anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen“ (El-Tayeb, 2016). Sie beschreibt, wie Rassismus als eine Reaktion auf Fremdes, statt als dessen Produzent verstanden wird. Dieses vorherrschende Verständnis verlange, dass die Anerkennung nicht-weißer Deutscher jedes Mal zum ersten Mal passiere. Entsprechend werden auch die ehemaligen Gastarbeiter*innen nicht wahrgenommen und der Schatz ihrer Erinnerungen ignoriert.

Migration im Museum

Die Verdrängung fand auch in Museen statt. Im „Nichteinwanderungsland“ Deutschland wurden auch keine Einwanderungsgeschichten erzählt. Erst seit der politischen und diskursiven Verschiebung um die Jahrtausendwende, in der die deutsche Realität als Einwanderungsland (in Teilen) anerkannt wurde, und nach langem Bemühen migrantischer Gruppen, werden Geschichten von Migration nach Deutschland als Teil deutscher Geschichte museal repräsentiert. Diese Darstellungen bleiben jedoch oft einem differenzialistischen und nationalen Blick verhaftet. „In der Folge werden Individuen als die ‚migrantische[n] Anderen‘ festgeschrieben und zu Objekten des nationalen Blickregimes reduziert und homogenisiert (Bayer, 2012).“

Alman Geschichteler

Alman hingegen ist kein klischeeüberladener Rundumschlag deutscher Migrationsgeschichte der 60er und 70er Jahre. Es sind die einzelnen Menschen, die hier in den Videos, Texten und Hörstationen ihre Geschichte erzählen und in den anmutigen Bildern (u.a. von Elif Küçük) ein Gesicht bekommen. Ihre Geschichten sind nicht geradlinig, sondern haben Brüche, sie zeigen die Kraft und Gestaltungsfreiheit der Individuen. Die gesellschaftlichen Strukturen, die den Rahmen ihres Lebens bilden, klingen an, jedoch immer aus der Perspektive der Porträtierten. Sie zeigen, wie das Ankommen im neuen Land sie - und sie das Land – verändert haben.

Es ist unerlässlich, dem Versuch der Unsichtbarmachung etwas entgegenzusetzten, um zu „einem alternativen Modell deutscher Identität zu gelangen, das nicht über Ausschluss und Abgrenzung funktioniert, sondern aus der Perspektive der Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten ein kritisches Erinnern praktiziert, das neue Zukunftsmöglichkeiten öffnet“ (El-Tayeb, 2016).

Die Ausstellung „Alman Geschichteler“ kann als Ausdruck und Versuch eines solchen Erinnerns verstanden werden. Deutsche Geschichte aus einer nicht-mehrheits deutschen Position. Die, denen ihr Deutschsein oft genug abgesprochen wird und wurde, sind an der Reihe zu erzählen, was Deutschland und Deutsch-Sein für sie bedeutet.

Durch den kaleidoskopischen Aufbau spiegelt die Ausstellungen auch formal, worum es geht: Die unterschiedlichen Erfahrungen ebenbürtig nebeneinander stehen zu lassen; sie in ihrer ganzen Vielfalt ohne Erklärungen, Kontextualisierungen oder Interpretationen zu würdigen. All ihre Geschichten sind einzigartig, aber sie sind nicht losgelöst. Nicht losgelöst von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen, von Nachbarn und Freunden – und von Zufällen sicher auch.


Literaturverweis:

El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft.  Bielefeld: transcript Verlag.

Bayer, Natalie (2012): Unter den Vitrinen. In: Hinterland, Thema: Unterhaltung, 21/2012. S. 47-52. Online: http://www.hinterland-magazin.de/pdf/21-47.pdf