Drag als gegenläufige Logik, Praxis und Verständnis diskutiert Pia Thilmann.
Im Jahr 2000 sah ich zum ersten Mal einen Auftritt von der Drag King Ikone Diane Torr - seit 2001 bin ich selbst als Drag King aktiv. Für mich ist das so genannte ‚Kinging‘ ein spannendes Spiel mit Männlichkeiten, Stereotypen, Vorurteilen und heteronormativen Machthierarchien. Viele Jahre lang habe ich selbst Workshops gegeben, in denen ich andere zum Drag Kinging angeleitet habe. Hier beschreibe ich, was dabei passiert.
Das Spiel
Die Workshops sind ein Spiel auf Zeit, eine alternative Realität aus Luft und Phantasie – und etwas Klebstoff. Sie funktionieren zum Teil wie ein Kinderspiel: Wir machen das scheinbar Unwirkliche im Tun zu unserer Realität. Dabei probieren wir aus, kopieren, üben, verwerfen, kreieren neu und lernen aus Fehlern und Versuchen. Der Ernst kommt dazu, falls Teilnehmerinnen entdecken, dass ihr Wunsch nach geschlechtlicher Transition über den Workshop hinaus sehr stark ist. Ihr kleiner Ausflug hinter die Gender-Grenze ist nicht nach ein paar Stunden beendet. Vorstellbar wird, mehr und mehr Zeit des Lebens als Mann* zu verbringen, bis es zum Normalzustand wird. Das gilt natürlich nicht für alle Teilnehmenden. Die Mehrheit empfindet das Spiel wie einen Kurs zur Muskelentspannung oder zur Kräuterkunde, weil sie Lust auf Unterhaltung haben, darauf Neues zu erfahren und zu lernen.
So wie Kinder, lernen auch die Teilnehmenden durch das Spielen. Wer öfter übt, wird sicherer. Das Lernen erfolgt ganz nebenbei und durch Wiederholung. Es geht um eine Form von Wissen, die in der Praxis statt in der Theorie erworben wird. Die Finger müssen das Gespür für die richtige Menge Bartkleber entwickeln, das Kostüm wird selbst gebastelt und angepasst. Utensilien werden zweckentfremdet: Miederhosen oder Nierengurte zum Abbinden der Brüste, Socken oder ausgestopfte Kondome als Hosenbeulen und alte Nietengürtel als Armschmuck. Improvisation, Mut, Fantasie und Teamwork verbinden sich zu einem beeindruckenden, oft unerwarteten Ergebnis.
Die Familie spielt mit
In den Workshops erleben manche Teilnehmerinnen einen Moment des Erschreckens, wenn plötzlich der eigene Vater aus dem Spiegel zurückschaut. Vielen wird die äußere Ähnlichkeit mit dem Vater statt der Mutter dabei zum allerersten Mal bewusst. Dass wir unseren Familienmitgliedern ähnlich sind, heißt, dass auch das andersgeschlechtliche Elternteil in uns steckt. Das zeigt sich gerade, wenn geschlechtsspezifisches Verhalten hinzukommt: Der familiäre Kontext beeinflusst die Vorstellungen, wie Männlichkeit aussieht. Auch Werbung, Medien und Filme geben zusätzliche Anweisungen und vermitteln Identifikationsfiguren. Aber alle Teilnehmenden wachsen umgeben von Menschen auf, deren Männlichkeit eine Vorbild-(oder Abschreckungs-)wirkung für den Workshop – und vielleicht darüber hinaus – hat. Die Cousins, Brüder, Onkel, der Vater und Großvater leben vor, wie es ist, ein Mann* zu sein. Das funktioniert tlw. auch ganz praktisch: Kleidung wird geliehen, Erbstücke und Accessoires genutzt. Nicht alle Teilnehmenden sind sich darüber bewusst, wieso sie als Mann* nun gerne einen Schnurrbart, Vollbart oder überhaupt einen Bart haben wollen. Bärte sind nicht nur allgemein ein starkes Männlichkeitssymbol, ihre Spielarten drücken auch verschiedene Facetten von Männlichkeit aus und kommunizieren andere Signale. Oft ist es auch eine spezifische, in der Familie verbreitete Bartform, die die Tochter im Spiegel den Vater erkennen lässt.
Die Möglichkeiten sind (fast) unbegrenzt
Drag kann zeigen, dass alle Menschen ihr soziales Geschlecht ständig neu herstellen. Es wird nicht nur einmal zugelegt und ist dann fertig. In diesem Sinne können Menschen, die ab Geburt dem männlichen Geschlecht zugerechnet werden, also Cis-Männer (und nicht Trans*Männer) genauso Drag Kings sein wie Cis-Frauen* auch Drag Queens verkörpern können. Bei allen hat Drag die Kraft, zu verändern, was sonst scheinbar nicht verändert werden kann: Alter, Körperform, und vor allem das Geschlecht. Ich kann mich älter oder jünger geben als ich bin. Ich kann mich dick machen oder groß oder klein. Ich kann sogar die Spezies wechseln und Tier, Fee oder Alien sein. Ob letzteres schon über die Grenzen von Drag hinausgeht, ist eine Frage, die in den Workshops manchmal gestellt wird, für mich aber offen bleibt.
In der Gruppe ist es lustiger
In den Workshops versammeln sich Menschen mit vielfältigen persönlichen Erfahrungen und sozialen Hintergründen. Für manche ist Drag ein Faschingsspaß oder ein schnell gemalter Kajal-Bart als Partygag, um kichernd die Freund*innen zu begleiten. Andere haben sich zuhause schon ausprobiert und bringen ihre Expertise mit. So beispielsweise ein Teilnehmer, der sich mit Kaffeepulver und Hautcreme einen Bart gestaltet hat. Mich hat seine Kreativität beeindruckt. Eine andere Person hat sich abgeschnittene Haare mit Alleskleber großflächig ins Gesicht geklebt: Verletzungsgefahr! Glücklicherweise kann heute jede*r selbst sichere und wirksame Methoden zum Kinging finden: Schnell ein Suchwort eingeben, die benötigten Utensilien bestellen und los geht es. Auch ungefährliche Bartklebeanleitungen stehen reichlich im Internet zur Verfügung. Früher war schon die Beschaffung des Klebers in der Provinz schwierig. Die Mullbinden zum Abbinden bekomme ich noch in der Apotheke, aber wie weiter? Deshalb bildeten wir Gruppen für Sammelbestellungen aus den USA, denn nicht jede*r hatte eine Kreditkarte. Manchmal musste auch eine*r zum Zoll und erklären, was das für eine Sendung sei mit den ganzen Gummipenissen drinnen. Sie waren nämlich keine Dildos oder Sextoys, sondern weiche „Packer“, deren einziger Zweck die realistische Hosenbeule ist.
Die gemeinsame Erfahrung im Workshop ist ein Vorteil gegenüber der Onlinewelt. In der Gruppe ermutigen und unterstützen sich die Teilnehmenden, ergänzen ihre Outfits mit Kleinigkeiten, helfen beim Zurechtrücken der Krawatte und sprechen Empfehlungen dafür aus, welche Sonnenbrille besser passt. Das Highlight jedes Workshops sind dann auch die gemeinsamen Ausflüge nach draußen. Die Gruppe gibt Schutz und Sicherheit. Alleine wäre es schwerer, sich zu trauen.
Aus Spiel wird Ernst
Bei den Ausflügen der Teilnehmenden in die Alltagswelt wird im Nachhinein immer wieder Erstaunen darüber geäußert, wie wenig die Leute auf der Straße gestarrt und negativ reagiert hätten, wie unsichtbar Man(n) sich bewegte und wie unkompliziert es war, im Supermarkt einzukaufen oder in einer Pizzeria zu essen. Die Teilnehmenden sind aufgeregt, sie wissen, dass sie sich gerade zurecht gemacht haben und jetzt ganz anders aussehen als normalerweise. Aber die Passant*innen auf der Straße gehen einfach weiter und bemerken die Mühe nicht. Sie sehen lediglich einen Typen, der an der Bushaltestelle wartet. Jemanden, der im Bus vom Hauptbahnhof zum Marktplatz fährt. Einen Mann*, der einkauft, einen Döner isst oder in einer Kneipe Bier trinkt.
Die individuelle Bedeutung des Kinging kann sich über die Zeit wandeln. Auch die Motivationen sind verschieden, die Techniken und Rollenvorbilder jedoch meist dieselben. In den Workshops wiederholen sich klassisch männliche Typen wie Cowboy, Professor, Obermacker oder Gangster. Es sind Stereotype mit Wiedererkennungswert, die leicht mit Cowboyhut, Laborkittel oder dicker Goldkette und Unterhemd darstellbar sind: „Aha, da steht ja ein Cowboy“, woraus der Gedanke folgt „Das ist also ein Mann*! Ja, denn es ist ein Cowboy und Cowboys sind immer Männer“. Die Vorbilder sind dabei dieselben wie für Cis-Männer. Aber die kulturellen und regionalen, in der jeweiligen Zeit verschiedenen modischen Codes für Kleidung, Gesten, Accessoires, Haare und Körperschmuck ändern sich stetig. Was als schwul galt ist heute sportlich, was altbacken aussah ist jetzt hip(ster). Trends kommen und gehen, aber alle Menschen nutzen Codes um auszudrücken, wer sie sein und wie sie gesehen werden wollen. Die Anerkennung von außen der so gezeigten Identität ist sehr wichtig. Drag ganz allein vor dem Spiegel kann deutlich weniger befriedigend sein, weil die Reaktionen und Bestätigungen der Umwelt ausbleiben. Außerdem findet Drag nicht nur bei einzelnen Menschen statt, sondern in einem gesellschaftlichen Zusammenhang – einerseits werden kollektive Grenzen und Konventionen überschritten, andererseits bleibt ein Rahmen wichtig, der bestimmt, was dargestellt wird und wie ein Mann* oder eine Frau* aussieht.
Sowohl Spiel als auch Ernst
Die Vorbereitungen wirken einerseits sehr kompliziert, bei all den kulturellen Annahmen, Identitätsentwürfen, Subkulturen und Wechselwirkungen, die es zu bedenken gilt. Andererseits sind die Techniken ziemlich einfach – in 2 Minuten von Frau* zu Mann*, schon ab 2,50€ Materialeinsatz. Auch hat jede*r ein implizites, einfach zugängliches Wissen darüber, was Mann* oder Frau* sein heißt – schon Kaffee und Hautcreme kann für den visuellen Effekt reichen. Das macht Spaß und verändert (manche) Leben. Es ist zum Lachen und trotzdem Ernst. Drag erinnert alle Menschen, egal ob cis oder trans*, daran, dass wir unser Geschlecht zu einem gewissen Grad selber entwerfen, gestalten und aufführen können. Wir können unseren Auftritt frei wählen und sind doch gefangen in unseren kulturellen Rahmen.