Das Jahr 2020 hat bewiesen, dass Technologie dringend einer Transformation bedarf. Besonders deutlich wurde dies durch die Erfahrung mit ebenjener Technologie von an die Ränder der Gesellschaft gedrängten Menschen - und doch geschieht diese Transformation nicht von selbst.
Wenn uns das turbulente Jahr 2020 etwas gelehrt hat, dann, dass die digitale Welt kein fernes oder anderes Universum ist, das sich von unserer Alltagsrealität abhebt. Noch weniger bildet das Digitale eine magische Grenze, an der menschliche Unterschiede verschwinden und sie sich durch das gemeinsame Bedürfnis nach Verbindung angleichen. Das Jahr 2020 hat bewiesen, dass Technologie dringend einer Transformation bedarf. Besonders deutlich wurde dies durch die Erfahrung mit ebenjener Technologie von an die Ränder der Gesellschaft gedrängten Menschen - und doch geschieht diese Transformation nicht von selbst. Für viele Menschen haben sich die Ungleichheiten durch die Technologie noch verschlimmert. Die multiethnische, multi-racial und geschlechtergleiche Fantasie der alten "Star Trek"-Fernsehserie ist einer Ära gewichen, in der die Mehrheit des Lebens online stattfindet, aber die Risiken und Konsequenzen dramatisch variieren, basierend auf der Hautfarbe, dem Geschlecht und der ethnischen/racial oder sexuellen Identität des Einzelnen. Der maßgeschneiderte, computergestützte Lebensstil der alten „Jetsons“-Cartoons ist nicht unser digitales Universum, in dem heute glückliche Online-Bewohner wohnen. Stattdessen ist die digitale Landschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu einem Ort geworden, zu dem marginalisierte Menschen und Gemeinschaften nur schwer Zugang finden, in dem sie um ihre Sichtbarkeit kämpfen und versuchen, Schaden und/oder Ausbeutung durch ihr digitales Engagement zu vermeiden.
Wer ist in der digitalen Welt zu Hause?
Fühlen sich Frauen im Cyberspace wohl, wo „Deep Fake“-Technologie, „Rache-Pornos“ und eine Reihe von digitaler Gewalt (z. B. „Doxxing“ und „Dog Piling“-Beschimpfungen) sie unverhältnismäßig stark treffen? Fühlen sich ethnische Minderheiten wie Uiguren und Rohiynga-Muslime wohl, deren Online-Interaktionen von Social-Networking-Plattformen und SMS-Apps überwacht und sabotiert werden? Wie wohl fühlen sich ältere Nutzer*innen damit, dass sie online verfolgt und für Hörgeräte, Erwachsenenwindeln und Lebensversicherungspolicen ausgewählt werden?
Die digitale Welt ist nicht für alle von uns gemacht. Wenn überhaupt, dann spiegelt sie alle Probleme der physischen Welt wider - und noch mehr, wenn man bedenkt, wer die Hauptlast der Herausforderungen trägt, online und offline. In jedem Bereich, der im Leben eine Rolle spielt, von Gesundheit, Bildung, Finanzen und Beschäftigung bis hin zu physischer Sicherheit, leiden Menschen unter den Auswirkungen von Rassismus, Sexismus, Klassismus, Behindertenfeindlichkeit, Queer-Phobie und Fremdenfeindlichkeit. Angesichts der Parallelen zwischen der Auslöschung und Entmachtung von Frauen und Minderheiten in der realen Welt und dem gleichen Phänomen im Internet, sollten wir uns fragen, wer von der Digitalisierung profitiert und wie destruktiv sie für diejenigen sein kann, die eben nicht davon profitieren. Wenn digitale Systeme zum Beispiel selbstreferenziell werden, sodass die Verifizierung von Nutzer*innen des „öffentlichen Interesses“ auf einem Wikipediaeintrag basiert, sehen wir sehr schnell, dass eine Mehrzahl an männlichen Redakteuren es vernachlässigen, dass öffentliche Informationsseiten über die Leistungen von Frauen erstellt werden . Dies gilt auch für andere minorisierte Gruppen. Wir sind zunehmend mit menschlichen Überprüfungs-, Kuratierungs- und Entscheidungsprozessen, durch eine enge Gruppe, bestehend aus Menschen gemäß der herrschenden Normen, basierend auf race, wirtschaftlichem Status, Geografie und Geschlecht konfrontiert.
Diejenigen, die von dieser „In“-Gruppe der digitalen Architekten ausgeschlossen sind, sind allzu oft auch von der gleichberechtigten Teilnahme an der digitalen Welt ausgeschlossen.
Da digitale Produkte und Dienstleistungen nicht mehr auf den Bereich der Videospiele beschränkt sind, beschränkt sich die digitale Ausgrenzung nicht mehr darauf, ob „Pac Man“- und „Space Invaders“-Computerspiele primär an Jungen und nicht an Mädchen vermarktet werden. Die Architekt*innen softwaregesteuerter Spiele sind zu den Hauptarchitekt*innen unseres softwaregesteuerten Lebens geworden - und Ausgrenzung aus ihren Reihen bedeutet mehr als nur Videospiele, denen fiktive Avatare mit unterschiedlichem ethnischem Hintergrund fehlen. Digitale Ausgrenzung bedeutet heute, dass britische digitale Reisepässe mit einer Gesichtserkennungssoftware eingeführt werden, die Schwarze Gesichter und Gesichter of Color nicht erkennt. Es bedeutet, dass an Tausenden von Schulen Software zur Testkontrolle eingeführt wird, die Schwarze Schüler*innen dazu zwingt, Online-Tests zu absolvieren, während sie direkt in ihr Gesicht leuchten, damit der Algorithmus zur Testkontrolle sie nicht als „abwesend“ abschreiben kann. Es bedeutet auch, dass die wiederholte Inhaftierung oder Verhaftung von Schwarzen Zivilist*innen (manchmal auch schon Kindern und/oder Jugendlichen), basierend auf ungenauer Gesichtserkennungssoftware durch die Verwendung von lokalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden weit verbreitet ist.
Eine inklusivere digitale Sphäre?
Dekolonisierung der digitalen Sphäre bedeutet, die digitale Welt von den Ansichten, Vorlieben und Vorurteilen einer winzigen Minderheit zu befreien, sodass diejenigen, die am ehesten von Ausgrenzung und/oder Schaden durch digitale Tools und Systeme betroffen sind, nicht auch von den Designprozessen der Tech-Industrie ausgeschlossen werden. Ein schrittweiser Ansatz zur Veränderung (aka Alibi-Integration hier und da) wird kaum mehr tun, als die schlechte Optik einer zutiefst segregierten Branche etwas zu verbessern. Das heißt, die verstärkte Einbeziehung von Frauen in die digitale Welt in Bezug auf Zugang, Privatsphäre, Schutz vor Online-Missbrauch und so weiter ist dringend notwendig. Ein feministischer Vorstoß für die digitalen Rechte von Frauen verkörpert jedoch typischerweise eine rassifizierte, oft geografisch spezifische Darstellung der „normalen“ weiblichen Erfahrung - z. B. eine weiße, heterosexuelle, cisgeschlechtliche Person westlicher Herkunft. Diese Homogenität kann auf das Fehlen einer ethischen, diversitätsbezogenen und schadensmindernden Ausbildung unter digitalen Befürworter*innen und Technolog*innen zurückgeführt werden. Aber bei der Dekolonisierung geht es auch darum, den Einfluss von gut gemeinten, aber homogenen Fürsprecherinnen zu reduzieren, deren Erfahrung mit Feminismus oft nicht die gelebten Erfahrungen von Schwarzen, muslimischen, queeren, armen, behinderten oder im Globalen Süden lebenden Frauen widerspiegelt, ganz zu schweigen von Frauen, die all diese Identitäten für sich beanspruchen.
Wir sind zu weit davon entfernt, die Schäden von Technologie, die Stereotypisierung und Bestrafung von Individuen aufgrund von Gruppenassoziationen ermöglicht, einfach zu „lindern.“ Der Aufbau einer inklusiveren digitalen Sphäre erfordert einen klassen-, kultur- und geschlechtsspezifischen Ansatz, um einen systematischen Wandel zu ermöglichen, z. B. die Zentrierung derjenigen Personen, die bisher in der digitalen Umgebung am meisten marginalisiert und verletzlich gemacht wurden. Was wir brauchen ist ein umfassendes Umdenken darüber, wie wir die Kluft zwischen den digital Reichen und den Armen überbrücken können, unabhängig davon, ob diese Gruppen mit der Technologie vertraut sind oder nicht. Wir müssen das Konzept der digitalen Welt, wie es heute existiert, dekolonisieren, denn unangefochten und unverändert wird es ein ausgrenzendes Simulakrum der realen Machtungleichgewichte bleiben, die es geschaffen haben.
Dass wir derzeit eine rassifizierte, oft geschlechts- und geografiespezifische Darstellung „normaler“ menschlicher Erfahrung in digitale Produkte und Dienstleistungen einbetten, ist der Grund, warum digitale Produkte wie die Apple-Gesundheits-App einst menstruierende Frauen nicht berücksichtigten; warum die meisten Pulsoximeter bei dark-skin Personen schlechter abschneiden; warum die Zoom-Hintergrundmaskierung anfangs nicht funktionierte, wenn Schwarze Menschen sie nutzten; und warum Facebooks „Sicherheitschecks“ der lokalen Umgebung von Sicherheitsvorfällen für Kenianer*innen und Libanes*innen in der Nähe von Bombenexplosionen nicht verfügbar waren, für Pariser*innen und Amerikaner*innen aber schon. Ob gewollt oder nicht, die „Darstellung“ der Menschheit durch Tech-Entwickler*innen auf der Suche nach „Test-Personas“ läuft oft auf eine Filterübung hinaus. Ohne eine breit angelegte intersektionale und feministische Bewertung dieser Personas (und der Produkte und Dienstleistungen, die daraus entstehen) wird die digitale Welt so frauen- und marginalisierungsfeindlich bleiben, wie es die größten Tech-Unternehmen bereits sind.
Das digitale Universum und die Welt, die wir kennen
Die digitale Welt existiert nicht in einem Vakuum - auch wenn ihre Architekten so tun, als ob sie es täten. Ein Mechanismus, der lange Zeit die digitalen Innovator*innen in den meisten, wenn nicht sogar allen großen privaten Tech-Unternehmen gestützt hat, ist die Risikokapitalbranche, die immer noch so weiß, so männlich, so wohlhabend und in ihrer Netzwerkreichweite so begrenzt ist wie eine Gruppe von Country-Club-Bewohnern auf der Suche nach einem vierten Spieler für Bridge. Das ist das reale Modell für eine digitale Welt ohne Frauen und Minderheiten, die gleichberechtigt mitreden können. Die Wahrheit ist, dass technische Innovationen nur noch selten aus staatlichen und universitären Forschungslabors hervorgehen. Statt der IBMs, Bell Labs und Siemens der Welt, die Spitzentechnologie in gewerkschaftlich organisierten, arbeitsrechtlich geschützten Zentren entwickeln, hat das 21. Jahrhundert eine Armee von “Start-up“-Unternehmen hervorgebracht, die von privaten Trusts finanziert werden, die wiederum von Risikokapitalgebern und Private-Equity-Finanziers ohne viel Liebe für oder Neigung zur Einhaltung von Arbeitsgesetzen geführt werden.
Dass das Kapital hinter der Tech-Industrie überwiegend männlich ist, sollte niemanden schockieren. Was schockiert, ist die Akzeptanz der Regierungen und des privaten Sektors von Produkten und Dienstleistungen, die von einer klonartigen Clique von Experten entwickelt und finanziert werden, ohne einen Standardprozess zur Bewertung der negativen Auswirkungen dieser digitalen Innovationen auf ihre Nutzer*innen zu implementieren. Wem die Technologie dient, ist eine gute Frage, aber wer ihr zum Opfer fällt, ist eine bessere Frage - angefangen bei Frauen und marginalisierten Personen , die im technischen Vakuum am wenigsten vertreten sind.
Ein digitales Reich der unbegrenzten Möglichkeiten?
Wenn wir die digitale Welt auf eine Weise umgestalten wollen, die sie zu einem Reich der Möglichkeiten für alle macht, müssen wir eine breite Repräsentation von marginalisierten Personen bei der Erprobung und Implementierung neuer Technologien fordern. Als Feminist*innen, die es leid sind, zuzusehen, wie große Tech-Giganten die unterschiedlichsten Frauen in ihren Belegschaften herabsetzen, respektlos behandeln und ausrangieren, müssen wir darauf bestehen, dass Inklusion der Maßstab ist, nach dem digitale Produkte bewertet werden. Es kann noch viel mehr erreicht werden, wenn wir fordern, dass lokale und nationale Agenturen anfangen, Teams für Technoethik zu finanzieren, die unabhängig von den großen Technologieunternehmen arbeiten. Diese Teams sollten sich aus verschiedenen Expert*innen mit unterschiedlichem Bildungs-, race-, Geschlechter- und sozialem Hintergrund zusammensetzen. Sie sollten die Aufgabe haben, sicherzustellen, dass die digitale Definition von „Mensch“ nicht durch eine einzige „Norm“ eingeschränkt wird. Zumindest erfordert die Normalisierung der Existenz einer nicht-kommerziellen, intersektionalen Tech-Ethik-Funktion, dass staatliche und individuelle Akteur*innen anerkennen, dass sich überlappende Kreuzungen menschlicher Identität(en) existieren - und Schutz benötigen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des digitalen Raums.